Einer für alle

»Habt ihr das in der Zeitung gelesen?« Delphine stürmte grußlos in die Wohnung, die Lipaire als Treffpunkt ausgesucht hatte und in der alle anderen bereits matt vor sich hin brüteten. Sie winkte mit der neuesten Ausgabe von Var-Matin und sprudelte los: »Eine Frau hat gestern am frühen Vormittag bei der Polizei angerufen, sie sei in einem Auto entführt worden, woraufhin eine Streife eine verdächtige Luxuskarosse aufgehalten hat. Ist das nicht unglaublich?«

»Allerdings ist das unglaublich«, antwortete Guillaume und fügte augenzwinkernd hinzu: »Und auch nicht ganz richtig. Jedenfalls die Tatsache, dass es sich um eine Frau handelte, die den Anruf getätigt hat, stimmt’s, Paul?«

Der Belgier zuckte mit den Achseln, gab mit der tiefsten ihm zur Verfügung stehenden Stimmlage ein »Keinen blassen Schimmer« zurück und machte dann wieder ein unbeteiligtes Gesicht. Dabei hätte Lipaire ihn gern gelobt, er hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Sie waren die Leute losgeworden, die sich an ihre Fersen geheftet hatten – und es stand schwarz auf weiß in der Zeitung, wie die Stimme des Belgiers auf Außenstehende wirkte.

Ihre Lage freilich war damit nicht einfacher geworden. Immer wieder lugte Guillaume aus dem Fenster der Wohnung, einem großzügigen Studio direkt über der Brücke in der Rue de l’Octogone. Von hier aus hatte man die Straße gut im Blick, konnte aber dennoch nicht allzu leicht gesehen werden. Von ihren Verfolgern hatte sich bisher niemand blicken lassen. Vielleicht war es ganz sinnvoll gewesen, dass sie einen Tag seit ihrer nervenaufreibenden Hatz durch die Straßen der Gegend hatten verstreichen lassen. Schließlich gingen sie nun davon aus, dass die Vicomtes hinter ihnen her waren, die, wie der Tod Barrals klar gezeigt hatte, zu allem fähig waren. Außerdem hatte sich die Adelsfamilie auch noch Verstärkung geholt: Die drei, die sie gestern am Citroën gesehen hatten, steckten mit ihnen unter einer Decke. Und sobald Lipaire und die anderen nun nach Gassin oder sonst wohin aufbrechen würden, mussten sie damit rechnen, dass sie auf Schritt und Tritt verfolgt wurden.

Er verbiss sich einen Fluch. Die Lage schien im Moment ziemlich aussichtslos. Ob die Vicomtes und ihre Verbündeten inzwischen wussten, wo sich der Schatz befand? Was, wenn sie eins und eins zusammengezählt hatten? Wenn sie längst unterwegs in das Örtchen Gassin waren, um ihn sich zu holen? Er atmete tief ein. Ja, womöglich war diese vielversprechende Schnitzeljagd, in die er zusammen mit den anderen hineingeschlittert war, schon vor dem Ziel zu Ende. Womöglich würde er doch nicht wie erhofft aus seiner beengten gardien -Wohnung zurück in ein sonnendurchflutetes eigenes Haus mit Gärtchen umziehen können. Aber wenigstens war keiner von ihnen zu Schaden gekommen.

»Die police judiciaire Saint-Tropez geht von einem üblen Scherz aus, den sich wahrscheinlich Jugendliche erlaubt haben.« Jacqueline hatte auf dem kleinen Zweisitzer vor der Regalwand Platz genommen und las den Artikel weiter, aus dem Delphine eben zitiert hatte. »Der leitende commissaire warnt eindringlich, dass solch dumme Streiche die Polizeiarbeit behindern und unabsehbare Folgen für unbescholtene Bürger nach sich ziehen könnten … Anscheinend ist ein bekannter Krimiautor fälschlicherweise in Verdacht geraten.«

»Ein Krimiautor?«, fragte Karim. »Wer denn?«

»Henri Vicomte. Er ist doch gestern das Auto gefahren«, erklärte Lipaire.

»Alias Henri Bécasse«, ergänzte Jacqueline.

Guillaume nickte. »Unsere Gegenspieler geben sich keine Mühe mehr, sich im Hintergrund zu halten. Ich habe Angst, dass das alles eskaliert, Leute. Vielleicht müssen wir erst einmal Gras über die Sache wachsen lassen.«

Jacqueline stupste den Belgier in die Seite. »Fürs Gras sind hier immer noch wir zuständig, stimmt’s?«

Paul lächelte schief, und auch Lipaire musste grinsen. Er musterte die anderen. Karim konnte den Blick inzwischen kaum noch von Jacqueline abwenden. Guillaume beneidete ihn ein wenig um die Fähigkeit, sich derart bedingungslos in jemanden zu verknallen. Das konnte man vielleicht nur bis Mitte zwanzig.

Jedenfalls fühlte er nun, da alle Zweifel an Petitbons Integrität ausgeräumt waren, wieder die alte Verbundenheit. Der frühe Tod von Karims Vater sowie die Zerrissenheit zwischen der Welt seiner marokkanischen Mutter und seiner französischen Heimat waren nicht leicht für ihn gewesen. Eines Tages würde er sich vielleicht seine Träume erfüllen können und ein großer Sportsegler werden. Auch deshalb hätte sich die Sache gelohnt, für die sie in den letzten Tagen gekämpft hatten.

»Guillaume, was ist denn? Wieso antwortest du nicht, wenn wir dich was fragen?« Karim klopfte ihm auf die Schulter und sah ihn mit sorgenvollem Gesicht an.

»Vielleicht ein Schlaganfall. Ich hatte mal einen Bekannten, bei dem war es ganz ähnlich, bis er dann auf einmal vornüber …«, mutmaßte Lizzy wenig beeindruckt, wurde aber von Quenot unterbrochen, der erklärte: »Könnte auch ein akut einsetzender Malariaschub sein. Wir hatten in unserer Kompanie einen Tschechen, der sich in Tansania was eingefangen hat und dann auf einmal mitten beim Essen …«

»Habt ihr sie nicht mehr alle? Ich war in Gedanken, sonst nichts. Was wolltet ihr noch mal von mir?«, blaffte Lipaire zurück.

»Wir wollten dich fragen, wie lange du das Gras wachsen lassen willst«, erklärte Delphine.

Er zuckte mit den Schultern.

»Ich bin jedenfalls dagegen«, fuhr sie fort. »Jetzt aufzugeben oder einfach nur abzuwarten wäre was für Weicheier, nicht für harte Hunde wie uns, stimmt’s, Paul?« Damit biss sie beherzt in eine der Tomaten aus ihrem Garten, von denen sie eine ganze Tüte zu ihrem Treffen mitgebracht hatte.

»Ich seh das auch so«, sagte der Belgier. »Wir gehen da jetzt mit voller Kraft rein und machen alles platt, was sich uns in den Weg stellt. Ich hab in meiner Garage schon das eine oder andere … nennen wir es Werkzeug, das als Argument dienen könnte. Versteht ihr, was ich meine?«

»Hör doch endlich auf mit deinen ständigen Gewaltfantasien«, wies Lipaire ihn zurecht. »Nimm dir mal ein Beispiel an deinen Blumen, wie friedlich die alles regeln und wie gelassen sie hinnehmen, was mit ihnen geschieht.«

»Wir sind doch in letzter Zeit eine supercoole Truppe geworden, Leute!« Jacqueline sprang von dem Zweisitzer auf. »Eine echte Gemeinschaft, in der sich jeder auf den anderen verlassen kann. Das ist einzigartiges Potenzial, das wir nutzen können.«

»Genau. Jacky hat recht. Immer wenn ich bei den Vicomtes war, haben die nur miteinander gestritten. Das kann uns doch nützen«, stimmte Karim ihr zu.

Jacqueline Venturino schenkte ihm dafür ein strahlendes Lächeln. »Unsere Gruppe ist weit mehr als die Summe der Einzelnen!«, erklärte sie feierlich.

Das klang gut, musste Lipaire einräumen. Auch wenn es sicher nur wieder irgendein Filmzitat war, das er nicht zuordnen konnte. Doch das Mädchen war noch nicht fertig.

»Wir müssen zusammenhalten. Komme, was da wolle!«

In guten wie in bösen Tagen , ergänzte Lipaire in Gedanken, aber das war bei ihm schon einmal gewaltig in die Hose gegangen. Doch er wollte Jacqueline mit einem despektierlichen Altherrenkommentar, der lediglich persönlicher Frustration entsprang, nicht die Euphorie nehmen. Denn die begann gerade, ihn ein ganz klein wenig mitzureißen.

»Wir sind schließlich nicht irgendwer«, fuhr das Mädchen fort. »Wir kennen uns hier bestens aus, wir haben Kontakte. Ich wette, jeder von uns hat mindestens zehn Leute, die ihm einen Gefallen schuldig sind.«

»Oder ihr«, ergänzte Delphine.

»Genau«, pflichtete ihr Jacky bei. »Jedenfalls sollten wir diese Kontakte nutzen, damit wir zu unserem Ziel gelangen. Nach allem, was wir durchgemacht haben, dürfen wir jetzt nicht aufgeben. Den Vicomtes hilft niemand von den Einheimischen, wir aber sind …«

»Schätzchen, wir haben verstanden, worauf du hinauswillst«, unterbrach sie Lizzy Schindler. »Ich kann euch ja auch ganz gut leiden. Vor allem, weil sich wieder ein bisschen mehr rührt in meinem Leben. Aber mit bloßer Gefühlsduselei kommen wir nicht weiter. Wir brauchen einen Plan. Mehr denn je.«

»Falsch, Madame Lizzy«, korrigierte Jacqueline. »Also, ja, einen Plan auch. Aber zuerst noch etwas anderes. Einen Schwur, mit dem wir uns versichern, dass wir immer als Gruppe zusammenhalten. Also, wir geben uns jetzt alle die rechte Hand, dann sprecht ihr mir nach, okay?«

Sie streckte ihre Hand aus und erwartete offenbar, dass die anderen die ihren darauflegten. Karim folgte ihrer Aufforderung postwendend. Seufzend tat das auch Delphine, und nach ihr, mit dem Kommentar »Na ja, wenn’s dich glücklich macht, Kindchen«, sogar Lizzy Schindler. Quenot und Lipaire sahen sich eine Weile regungslos an, dann schlossen sich auch der Belgier und als Letztes, mit hochgezogenen Brauen, Guillaume dem Kreis an. Als er seine Hand auf die des Belgiers legte, merkte er, wie feucht sie war. »Ganz schöne Schwitzehändchen«, sagte er grinsend, was ihm bitterböse Blicke des Ex-Legionärs einbrachte.

Schließlich erklärte Jacqueline in andachtsvollem Ton: »Unsere Feinde mögen uns das Leben nehmen, aber niemals nehmen sie uns unsere Freiheit. Einer für alle, alle für einen.«

Die anderen sahen sie mit großen Augen an. Es breitete sich eine unangenehme Stille aus, bis Karim zögerlich begann, die Sätze des Mädchens zu wiederholen, woraufhin schließlich alle murmelnd und mit gesenktem Blick einstimmten. Auch Lipaire, dem das entschieden zu pathetisch war, rang sich der Sache zuliebe dazu durch, die Lippen ein wenig zu bewegen. Und sogar Louis quittierte die Zeremonie mit zweifachem Bellen.

»Schön, hätten wir das also, brauchen wir nur noch eine Idee«, schloss der Deutsche die Sache ab.

»Vielleicht kann uns ja auch unser anonymer Freund helfen«, schlug Delphine vor und holte aus ihrer riesigen Handtasche den olivgrünen Neoprenbeutel mit Karims Handy hervor, auf dem noch immer der Trojaner war.

»Keine so tolle Idee«, fand Quenot.

»Genau, Paul«, stimmte Guillaume zu. »Wir wissen bisher weder, wer genau dahintersteckt, noch, was seine Agenda ist. Oder ihre.«

»Ihre?«, hakte Delphine skeptisch ein. »Dann hätte sie doch bestimmt nicht mit ein Freund unterschrieben.«

»Vielleicht auch nur eine Finte. Egal jetzt, wir lassen das Telefon auf alle Fälle besser, wo es ist, das hat uns schon Ärger genug gebracht.«

»Apropos, ich bräuchte mal ein neues, ich bin gerade auf das Uralt-Teil von meiner maman angewiesen. Das hat noch Tasten.«

»Komm einfach später mal kurz im Laden vorbei, Karim. Wir finden was für dich«, sagte Delphine und klang dabei ein wenig gönnerhaft. »Vielleicht richte ich dir einfach Barrals altes Caterpillar-Phone ein.«

»Hm, also wenn’s eines von jemandem wäre, der noch lebt, hätt ich auch nichts dagegen, ehrlich gesagt.«

»Aucun problème ! Wir sind doch jetzt Freunde, da kann man sich schon mal einen Gefallen tun. Du kriegst auf jeden Fall einen Sonderpreis.«

Lipaire hörte ihren Worten nach. Einen Gefallen. Das war es auch, was Jacqueline vorhin gesagt hatte: Es gab viele Leute hier in der Gegend, die ihm einen Gefallen schuldeten oder bei denen er noch etwas guthatte. Und umgekehrt, das brachte seine Art zu leben einfach so mit sich. Wenn er sich den Lebenswandel der anderen ansah, traute er sich zu, diese Annahme auf alle Mitglieder der Gruppe auszudehnen.

Er sah aus dem Fenster auf die Brücke. Dort stand, direkt am Scheitelpunkt, der Gießwagen, mit dem die Blumen, die in Kästen von der steinernen Brüstung hingen, bewässert wurden. In aller Seelenruhe, seine obligatorische Gauloise im Mundwinkel, goss Leonid, der ukrainischstämmige Gemeindearbeiter, der sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen ließ, aus einem kleinen Schlauch die Pflanzen. Da bemerkte Lipaire, dass sich auf beiden Seiten der Brücke gleich mehrere Fahrradfahrer, ein kleiner italienischer Sportwagen und zwei weiße Transporter stauten. An Leonid und seinem Gefährt war einfach kein Vorbeikommen. Wenn er da war, war die Straße dicht, er hielt völlig ungerührt jeglichen Verkehr auf. »Guter Mann, fahren Sie mal schnellstens Ihren Tankwagen da weg, ich muss zu meinem Linienboot«, schimpfte ein blasser Mann in Trekkinghose. »Erst kommen Pflanzen, die haben Durst, dann kommen Leute, die haben Frust«, gab Leonid ungerührt zurück und zog genüsslich an seiner Zigarette.

Ruckartig drehte sich Lipaire zu den anderen um: »Hört mal, ich glaube, ich hab’s! Lasst uns mal besprechen, bei wem ihr alle einen Gefallen einfordern könnt. Versucht, euch an alles zu erinnern, was euch einfällt. Je mehr, desto besser. Wenn wir es nur richtig anpacken, könnten wir es noch schaffen.«