Keine Minute später klingelte Lipaires Prepaidtelefon. »Oui , Madame?« , meldete er sich.
»Ihr seid dran. Bonne chance «, sagte Lizzy Schindler nur und legte wieder auf.
Guillaume atmete tief durch. Bisher schien alles glatt zu laufen. Das bedeutete: Es fehlte nur noch ihr Beitrag, dann wäre der Plan vollendet. Eine Mischung aus Euphorie und Angst machte sich in ihm breit. Er hatte es nun in der Hand. Er und Quenot, der in seiner obligatorischen Tarnkleidung vor ihm saß und ihn mit großen Augen anschaute. »Marschbefehl?«, fragte der Belgier, und seine Stimme verriet, dass auch er nervös war.
»Oui, soldat« , konnte sich Guillaume als Antwort nicht verkneifen. Sie nickten einander zu und verließen die kleine gardien -Wohnung. Dann schlenderten sie gemächlich durch den Ort und durch das große Stadttor hinaus und über die Brücke Richtung Parkplatz, auf dem das Auto stand, das Lipaire für die heutige Fahrt organisiert hatte. Er tat sich schwer, der Versuchung zu widerstehen, sich umzudrehen. Dabei hätte er sich gerne versichert, dass ihre Verfolger an ihnen dranhingen. Doch davon musste er jetzt einfach ausgehen, warum sollten sie auf einmal nicht mehr an ihnen interessiert sein? Zur Sicherheit unterhielten sie sich auf ihrem Weg aber in ungewohnter Lautstärke.
»So, dann brechen wir jetzt einmal auf, Paul«, plärrte er seinen Nebenmann an, als sei dieser schwerhörig.
»Ja, das machen wir. Auf geht’s zum Schatz!«
»Endlich ist es so weit!«
Eine alte Frau mit Stock, an der sie vorbeigingen, blieb stehen und schaute den beiden kopfschüttelnd hinterher.
Auf dem Parkplatz steuerte Lipaire die hintere Ecke an, wo nur zwei Autos standen. Quenot ging auf einen weißen Kastenwagen zu und sagte: »Kannst du vielleicht mal aufsperren?«
»Hab ich schon.«
Der Belgier zog vergeblich am Türgriff. »Nein, eben nicht.«
»Doch. Wir fahren mit dem.« Lipaire zeigte auf den schwarzen Rolls-Royce, der ein paar Plätze weiter stand.
Es war ein gepflegter, gerade mal zehn Jahre alter Phantom-Cabrio in Nachtschwarz mit fast 500 PS, den er schon länger für eine kleine Spritztour im Auge hatte. Seit seine Besitzer das Auto vor über einem Jahr hier geparkt hatten, stand es nur ungenutzt herum – eine Schande. Nun schien der passende Moment für seine Jungfernfahrt gekommen.
Quenot machte große Augen. »Übertreibst du nicht langsam? Was kommt als Nächstes? Das Batmobil?«
»Jetzt hör auf, dich zu beschweren, und steig ein.«
Sie verstauten das Werkzeug – eine Spitzhacke, eine Schaufel, mehrere Hämmer und Meißel – im Kofferraum und drückten den Deckel zu. Wahrscheinlich gab es weltweit nicht mal eine Handvoll dieser Limousinen, in denen jemals derartige Gerätschaften transportiert worden waren. Lipaire startete den Motor und fuhr los. Obwohl sie eine derart heikle Aufgabe vor sich hatten, konnte er nicht anders, als die Fahrt zu genießen. Er fühlte sich mit all den bunten Lämpchen und dem Klavierlack wie der Captain eines Raumschiffs. Schließlich musste er sich daran gewöhnen, sich standesgemäß zu bewegen. Ihre Kontrahenten taten das ja auch. Kontrahenten , natürlich! Er blickte in den Rückspiegel – und da waren sie, die Handlanger der Vicomtes in ihrem blauen Toyota. Allein die Tatsache, dass er diese sündhaft teure Luxuskarosse fuhr und die anderen nur einen Japaner, bereitete ihm ein diebisches Vergnügen.
»Du scheinst ja richtig Spaß zu haben«, kommentierte Paul vom Beifahrersitz aus.
»Wenn man eine Sache gut geplant hat, spricht nichts dagegen, die Ausführung auch zu genießen. Und du, mach dich lieber mal nützlich und ruf die Grande Dame an.«
»Wen?«
»Unsere Späherin.« Er reichte dem Belgier das Handy, mit dem sie von Delphine ausgestattet worden waren.
»Ach so.« Der Belgier wählte Lizzys Nummer. »Hallo, Madame? Lagebericht, bitte. Aha, verstehe. Die Vögel sind ausgeflogen. Gut, dann viel Spaß.« Dann hängte er ein. »Die restlichen drei Vicomtes sind jetzt auch unterwegs. Sie haben unseren Köder geschluckt. Und sie geht jetzt rein.«
Lipaire nickte. Wie hatte Jacqueline neulich aus einem weiteren berühmten Film zitiert: Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert. Dann wandte er sich an seinen Beifahrer: »Während Lizzy sich um ihren alten Bekannten Chevalier kümmert, haben wir zwei Verfolger an uns dran, wenn ich das richtig sehe.«
»Fünf, um genau zu sein«, korrigierte Quenot.
»Ja, fünf, aber verteilt auf zwei Autos.«
»Nicht schlampig in den Details werden.«
Guillaume stieß hörbar die Luft aus. Das war früher sein Spruch gewesen. »Richtig. Aber jetzt Konzentration auf unsere Aufgabe.«
Sie fuhren die Straße hinauf nach Grimaud. Das malerische Dorf wurde von der Ruine des Châteaus dominiert, in dem sie sich neulich abends getroffen hatten. Im Zentrum hatte Lipaire eine Überraschung für seine Verfolger eingeplant, die den kleinen Umweg locker wettmachte. Während sie an den Weinfeldern links und rechts der Straße und am kleinen Heliport vorbeiglitten, beschloss er, die Idee mit dem Mercedes-Roadster doch noch einmal zu überdenken, denn dieses fahrbare Wohnzimmer hier war einfach großartig. Und mit offenem Verdeck an einem lauen Sommerabend damit über die Croisette in Cannes zu cruisen wäre bestimmt unvergleichlich.
Er sah immer wieder in den Rückspiegel, während sie erst die Feuerwehr, dann das Hauptquartier der Gendarmerie und schließlich die ausgedehnten Lagerhallen der Winzergenossenschaft der Vignerons de Grimaud links liegen ließen. Der Toyota blieb stets in überschaubarer Entfernung hinter ihnen. Gut so.
Doch nun wurde es ernst: Sie passierten den ersten Kreisverkehr und bogen rechts in die Allee ab, die ins Zentrum führte. Als sie die ersten Häuser erreichten, die beiderseits die Fahrbahn säumten, blinkte ihnen ein beleuchtetes Tempo-30-Schild entgegen. Die Schwellen aus Gummi, die man auf den Asphalt montiert hatte, bremsten sie trotz der Federung ihrer Luxuskarosse deutlich ab – doch das war auch Teil des Plans. Links tauchte jetzt das repräsentative Gebäude der Gemeindebibliothek auf, das waghalsig an den Abhang hinunter zum Meer gebaut war. Er betätigte zweimal kurz die Hupe, reduzierte noch einmal die Geschwindigkeit – und fuhr an dem kleinen Platz mit dem Brunnen vorbei, der das office de tourisme beherbergte und, in einer zweiten Ebene darüber, etwa vier Meter oberhalb der Straße, den Bouleplatz des Dorfes, auf dem die Spieler aus Port Grimaud ihre privaten Wettkämpfe ausfochten. Wie abgesprochen, waren sie bereits in ein Spiel vertieft. Lipaire ließ das Fenster herunter, reckte über das Dach des Rolls hinweg den Daumen nach oben, worauf der Dicke mit dem Schnauzbart nickte und schnell seine Kumpane um sich scharte. Guillaume bremste auf Schrittgeschwindigkeit herunter, denn er wollte das nun folgende Schauspiel auf keinen Fall verpassen. Im Rückspiegel sah er, wie der Toyota die Stelle unterhalb der Spieler erreichte – und sich ein wahrer Regen aus Boulekugeln über ihn ergoss. Die Windschutzscheibe des blauen Wagens bestand nur noch aus kleinsten Splittern. Damit würden sie nicht mehr fahren können. Quenot kicherte wie ein kleines Kind, und Lipaire gab wieder Gas. Er war sich nicht sicher, ob sie damit ihre Verfolger dauerhaft ausgeschaltet hatten, aber zumindest waren sie für eine Weile beschäftigt.
Doch die Freude währte nur kurz, denn sie hatten das Dorf kaum verlassen, da kam ihnen von unten der schwarze Bentley der Vicomtes entgegen. Lipaire erkannte Henris Gesicht auf dem Beifahrersitz. Dann traf sein Blick den des Fahrers. Er war noch nicht oft mit den anderen Vicomtes im Haus gewesen, aber ein paar Mal hatte der gardien ihn schon gesehen: Marie Vicomtes Ehemann. Und der schien ein ganz passabler Autofahrer zu sein, denn im Rückspiegel sah Lipaire, wie die schwere Limousine eine scharfe Hundertachtzig-Grad-Wende vollzog und die Verfolgung aufnahm. So weit lief zwar alles wie geplant, doch ob auch ihre nächsten Fallen zuschnappen würden, stand in den Sternen. Das hing schließlich nicht nur von ihnen ab.
»Meinst du, die Sachen, die wir uns überlegt haben, funktionieren alle?«, fragte Quenot, als könne er seine Gedanken erraten.
»Selbstverständlich. Ich habe das alles bestens durchdacht. Also … wir, meine ich.«
Sie schwiegen, bis sie in der Ebene, kurz vor der Abzweigung nach Gassin, wieder im allabendlichen Stau vor dem Kreisverkehr standen. Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. Auch hier verlief zunächst alles wie immer: Die Scheibenputzer strömten vom Straßenrand auf die Fahrbahn und seiften ungefragt die Autofenster ein. Als zwei von ihnen auf den Rolls-Royce zukamen, blinzelte ihnen Lipaire nur zu und zeigte mit dem Daumen auf den Bentley hinter ihnen. Die beiden nickten, dann konnte Lipaire sehen, dass sie aus einem Beutel eine extra Dose zogen, mit der sie eifrig die Windschutzscheibe besprühten.
»Ist das etwa …«, begann Paul, der wie Lipaire gebannt in den Außenspiegel starrte. Guillaume nickte. »Sprühkleber«, beendete er den Satz. Die Wischerblätter des Wagens hinter ihnen setzten sich in Bewegung, blieben aber mitten auf der Scheibe hängen. Die drei Männer stiegen hektisch aus und begannen, die Putzkräfte zu beschimpfen, die sie nur schulterzuckend ansahen. Wie aufs Stichwort baute sich das restliche Putzkommando um sie herum auf, worauf die Vicomtes beschwichtigend die Hände hoben. Dann versuchten Henri, sein Schwager und der Dritte, ein junger Mann, in dem Lipaire Maries Sohn Clément zu erkennen glaubte, vergeblich, den bereits fest gewordenen Kleber von der Scheibe zu kratzen.
»Die sind wir los«, freute sich der Belgier und klatschte in die Hände. Auch Lipaire grinste, zumal sie die Abzweigung nach Gassin in Kürze erreichen würden. Dann konnte sie keiner mehr aufhalten.
Genau in diesem Moment brauste von hinten mit lautem Hupen auf dem schmalen Seitenstreifen der blaue Toyota heran. Es sah aus, als würde er jeden Moment in den Straßengraben rutschen.
»Merde« , fluchte Lipaire. Das war schneller gegangen als gedacht. Und nun erkannte er auch, weshalb. Die beiden Insassen hatten die Windschutzscheibe entfernt und fuhren nun »vorne ohne«. Das Letzte, was er sah, bevor er rechts nach Gassin abbog, war, wie die drei Vicomtes ihren Bentley stehen ließen und in den engen Fond des Toyota kletterten.
»Das geht nicht gut, das geht nicht gut«, zeterte Quenot auf dem Beifahrersitz. Seine Zuversicht war offenbar schon wieder dahin.
»Reiß dich zusammen, Soldat!«, bellte Lipaire, woraufhin sein Mitfahrer auf der Stelle verstummte. Selbst nach dieser langen Zeit wusste der Deutsche noch genau, welche Knöpfe er bei ihm drücken musste.
Dann gab er Gas. Im Gegensatz zur Déesse reagierte der Rolls sofort und presste sie in die Sitze. Doch die Straße wurde schon bald eng und kurvig, sie würden diese Geschwindigkeit nicht lange aufrechterhalten können. Mussten sie aber auch nicht, denn in diesem Augenblick passierten sie das Paintball-Schild. Lipaire betätigte die Lichthupe, und schon kurze Zeit später hielt er am Straßenrand an.
»Was machst du?«, schrie Quenot mit schriller Stimme. »Fahr doch weiter. Sie kommen.«
»Ach was, keine Panik, schau doch!« Er deutete nach hinten. Jetzt drehte sich der Belgier um, und sie wurden Zeuge, was ein Paintball-Hagel bei einem Auto ohne Windschutzscheibe anrichten konnte. Verheerend war das Wort, das Lipaire in den Sinn kam. Von allen Seiten flogen die Farbkugeln auf das zerbeulte Fahrzeug, platzten auf und hinterließen bunte Kleckse. Doch nicht nur das: Auch die Insassen wurden mangels schützender Scheibe von Dutzenden Projektilen getroffen, sodass ihnen die Sicht genommen wurde und sie – zu Lipaires Erleichterung mit geringer Geschwindigkeit – gegen einen Baum krachten. Er hoffte inständig, dass niemand ernsthaft verletzt war, aber sie mussten ihre Verfolger nun einmal loswerden. Nach ein paar Sekunden schälten sich die fünf Insassen jedoch unversehrt, wenn auch etwas wackelig, aus dem Auto. Beruhigt atmete er aus.
Die Oberkörper der Männer waren von bunten Farbklecksen übersät. Zusammen mit dem demolierten Wagen sah das Ganze aus wie ein modernes Gemälde von Monet, Guillaumes Lieblingsmaler. Er kniff die Augen zusammen und fuhr mit quietschenden Reifen weiter.
»Das war’s jetzt, oder?«, wollte sein Beifahrer wissen, als die Verfolger endgültig außer Sicht waren.
Jetzt erst wurde Lipaire bewusst, dass Paul recht hatte. »Ja. Ich glaube, ja, verdammt noch mal, das war’s.« Er brach in derart schallendes Gelächter aus, dass ihm schon nach ein paar Sekunden die Tränen herunterliefen. Die gesamte Anspannung der letzten Stunden fiel schlagartig von ihm ab und brach sich in einem Lachkrampf Bahn. Auch Quenot stimmte mit ein, lachte hysterisch, schlug ihm immer wieder gegen den Oberarm, was zwar kumpelhaft gemeint war, aber ob der Kraft des Belgiers richtig wehtat. Vielleicht hätte ihr Veitstanz im Luxusauto noch eine Weile angedauert, doch plötzlich schrie Lipaire: »Was zur Hölle …« Der Rest des Satzes ging in dem Getöse unter, das von dem Motorrad mit dem brennenden Fahrer stammte, das gerade auf ihrer Motorhaube gelandet war und nun mit ohrenbetäubendem Lärm neben ihnen weiterfuhr, bevor es in einen Seitenweg einbog und davonpreschte. Guillaume war instinktiv auf die Bremse getreten, was sie unsanft in ihre Gurte gedrückt hatte.
Verwirrt schaute er sich um. »Was soll … ich meine …«
Da zog Quenot ein Messer.
Jegliche Farbe wich aus dem Gesicht des Deutschen. Also doch! Quenot war der Maulwurf gewesen, und nun hatte sein letztes Stündlein geschlagen. Nun würde der Belgier ihn beseitigen, genauso wie damals ihren gemeinsamen Geschäftspartner. All die Jahre hatte er gerätselt, warum er von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Nun hatte er Gewissheit. Quenot hatte ihn eiskalt abserviert.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Guillaume auf die Klinge, die sich seinem Gesicht näherte, bis Quenot sie in einer geschmeidigen Bewegung schwang, den Gurt durchtrennte, mit den Beinen die Beifahrertür aufstieß und sich nach draußen wuchtete. Lipaire hielt er dabei fest wie ein Schraubstock gepackt und zog ihn hinter sich her.
Als die beiden draußen auf dem Bankett aufschlugen, rappelte sich Guillaume unter Aufbietung all seiner Kräfte hoch. Er war dem Belgier körperlich unterlegen, aber er würde hier nicht kampflos abtreten … Ein schrilles, nervenzerfetzendes Quietschen, begleitet vom Dröhnen eines mächtigen Motors, ließ ihn herumfahren. Zunächst begriff er nicht, was er sah. Das heißt, er begriff es zwar, konnte es aber einfach nicht glauben: Ein Auto auf Rädern so groß wie ein Kastenwagen rollte gerade über ihre Limousine und presste sie dabei platt wie eine Flunder. »Was … wie …« Dann las er die rot-gelbe Aufschrift auf dem monströsen Gefährt – und schlagartig wurde ihm alles klar. Cascadeurs – Hell Drivers stand dort. Und noch etwas wurde ihm in diesem Moment bewusst: Quenot hatte ihm nicht etwa nach dem Leben getrachtet, er hatte es ihm gerettet. Er schämte sich für seine anfängliche Vermutung. »Paul, ich weiß nicht, wie ich dir …«, begann er, doch der Belgier winkte ab.
»Du hättest dasselbe für mich getan.«
Hätte er das? So sicher war er sich da nicht, doch er hatte auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er rannte um den Rolls herum, respektive um das, was davon übrig war, und winkte wie ein Fluglotse mit den Armen, um den Fahrer des Ungetüms zum Anhalten zu bewegen. Tatsächlich stoppte der die Höllenmaschine, streckte seinen kahl rasierten Kopf aus dem Fenster und rief: »Du?«
»Ja, ich. Du Idiot hättest uns beide beinahe plattgemacht.« Er zeigte auf Quenot, der sich gerade den Staub von seinen Tarnklamotten klopfte.
»Aber du wolltest doch, dass ich den schwarzen Bentley aufhalte.«
Lipaire raufte sich die Haare. »Das ist … das war ein Rolls-Royce, kein Bentley, imbécile. Und außerdem ging’s, wie du sagst, ums Aufhalten, nicht darum, die Insassen zu Mus zu verarbeiten.«
»Jaja, jetzt hab dich nicht so. Diese englischen Autos können was ab. Und es hat doch funktioniert.«
»Funktioniert?« Guillaumes Stimme hatte inzwischen Quenots Tonlage angenommen. »Wir waren durch, du Hornochse. Alles war gut. Und dann kommst du mit deinem, deinem …«
»T-Rex«, rief der Glatzkopf stolz.
Jetzt gab Lipaire auf. Er ließ sich an Ort und Stelle auf die Knie sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter: »Komm, steck nicht den Kopf in den Sand«, sagte der Belgier.
»Aber alles ist verloren. Wir kommen nicht mehr rechtzeitig hoch. Der Rolls ist Schrott, ich werd den abstottern bis an mein Lebensende, alles fliegt auf, und wir haben nicht mal mehr ein Auto.«
Quenot rieb sich nachdenklich das Kinn. »Hm, vielleicht doch …«
»Um Himmels willen, Paul, pass doch auf, der Baum!« Lipaire duckte sich unwillkürlich, auch wenn keinerlei Gefahr bestand, dass die Äste der Steineiche bis ins Innere der Fahrerkabine vordrangen. Aber in einem Monstertruck zu sitzen war nun mal eine ungewohnte und für ihn beängstigende Erfahrung – zumal auf diesen engen Straßen, die ständig an einen potenziell tödlichen Abgrund grenzten. Nur gut, dass es bislang keinerlei Gegenverkehr gegeben hatte.
Paul dagegen schien die Sache einen Heidenspaß zu machen. Er hatte darauf bestanden, das Steuer zu übernehmen, weil er »Kampferfahrung« habe – was immer das in diesem Zusammenhang auch heißen mochte. Lipaire hatte nur halbherzig widerstanden, ihm war dieses Ungetüm unheimlich. Dennoch wünschte er sich jetzt, er hätte nicht eingewilligt, denn der Belgier preschte durch die Serpentinen, als fahre er eine Vespa und nicht einen Rolls-Royce verschlingenden Panzer. Immerhin hatte der eine ganze Batterie Scheinwerfer auf dem Dach und erleuchtete die Umgebung taghell.
»Jetzt hast du mir gerade das Leben gerettet, und schon willst du mich wieder umbringen?«
Quenot blickte ihn so lange an, dass der Deutsche ihm irgendwann ein panisches »Schau gefälligst auf die Fahrbahn!« zubrüllte.
»Vorher hast du mir besser gefallen«, sagte Quenot.
»Vorher?«
»Unmittelbar nach meiner heldenhaften Rettung.«
»Heldenhaft, jetzt wollen wir mal nicht …«
»Siehst du?«
»Ja, tut mir leid. Ohne dich … es fällt mir einfach schwer, das zuzugeben, nach allem, was passiert ist.«
Der Mann am Steuer nickte. »Vielleicht ist es an der Zeit, dass du die ganze Wahrheit erfährst.«
»Was meinst du damit?«
»Die Sache von damals.«
»Fang besser gar nicht erst davon an.« Demonstrativ verschränkte Lipaire seine Arme vor der Brust. Er wollte nicht, dass alte Wunden aufgerissen wurden, die gerade erst im Begriff waren zu heilen.
»Aber ich habe lange genug geschwiegen. Wegen dir.«
»Wegen mir?«
»Deine Frau und Pierre haben das mit dem Handel von harten Drogen eingefädelt. Nicht ich. Ich hatte nie was mit diesem Teufelszeug zu tun.«
Guillaume atmete tief durch. Quenot wollte sich selbst also reinwaschen von dieser ganzen schmutzigen Sache! Dabei war es doch nur logisch, dass der Belgier Pierre und Hilde auf die Idee mit dem synthetischen Zeug gebracht hatte. Dann hatte er Pierre über die Klinge springen lassen – und dafür gesorgt, dass Hilde nicht mehr da war, ihn aus seinem Leben gestrichen hatte.
Eine Weile war es still, jedenfalls kam es Lipaire so vor, obwohl um sie herum wegen des dröhnenden Motors und der Äste, die sie ständig streiften, ein Höllenlärm herrschte. Doch dann stieg die kalte Wut in ihm hoch. »Du Dreckskerl! So eine Geschichte willst du mir auftischen? Ich hab euch damals überrascht, dich und Hilde, ich weiß, was ihr …«
»Gar nichts weißt du.«
»Natürlich. Du hast mit ihr was ausgeheckt. Und auf einmal war sie weg.«
»Ich hab sie gezwungen zu gehen. Genauso wie Pierre.«
Lipaire öffnete seinen Mund, doch er brachte kein Wort heraus.
»Schau nicht so. Es hätte dich kaputt gemacht. Wenn du rausgefunden hättest, dass Pierre und sie hinter deinem Rücken angefangen haben, mit dem Scheißzeug zu handeln. Und nicht nur das. Hast du denn nie was bemerkt, zwischen den beiden? Erst die Blicke und dann, du weißt schon …«
Die Erkenntnis traf den Deutschen mit voller Wucht. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wusste, dass Paul die Wahrheit sagte, hatte immer etwas Derartiges vermutet. Aber es war so viel leichter gewesen, die ganze Wut auf Quenot zu lenken, als sich einzugestehen, was auf der Hand lag: dass Hilde, seine große Liebe, mit der er eine Familie gegründet hatte, Hilde, die Mutter seiner Kinder, die mit ihm den Konkurs in Deutschland durchgestanden hatte – dass Hilde fremdgegangen war. Ausgerechnet mit seinem Freund Pierre. Sie waren ein tolles Quartett gewesen, hatten mit Pauls Gras einen florierenden Handel aufgezogen. War es blauäugig gewesen, ihr das Haus zu überschreiben, damit es nicht auch in die Konkursmasse fiel? Inzwischen wusste er die Antwort. Wusste, dass sein ganzes Leben, seine Ehe, seine Familie, eine Lüge, ein schlechter Witz gewesen war. »Wage es nicht, so einen Schwachsinn zu behaupten, sonst …«, presste Lipaire dennoch hervor. All sein aufgestauter Zorn, seine Selbstvorwürfe über das Leben, das er verloren hatte, lagen in diesen Worten.
Doch an Paul Quenot prallten sie ab. »Du kannst mir nicht mehr drohen. Ich hab alles geregelt, damit du klarkommst. Die beiden hätten dich eiskalt hingehängt, wenn man ihnen auf die Schliche gekommen wäre. Sie hatten bereits einen Plan für den Fall des Falles. Und du hättest deine Hilde sicher noch gedeckt. Obwohl sie dich betrogen hat. Du wärst daran zerbrochen. Ich habe ihnen also klargemacht, dass sie verschwinden müssen. Auf Nimmerwiedersehen. Dass sich die Kinder auch von dir abwenden, konnte ich ja nicht ahnen. Schließlich waren sie schon erwachsen. Das tut mir leid, ist aber nicht meine Schuld. Ich hab jedenfalls den Kopf für dich hingehalten. All die Jahre, in denen du mir was-weiß-ich-was unterstellt hast. Das war für mich okay. Bis jetzt.« Er blickte ihn durchdringend an.
»Schau auf die Straße«, bellte Lipaire ihn an. Er wollte nicht, dass Quenot seine Tränen sah. Seine Wut war noch nicht verflogen, aber sie richtete sich nun nicht mehr gegen seinen Freund, sondern gegen sich selbst. Er hatte Paul verraten. Ihm unsagbare Dinge unterstellt, um sich selbst in die Tasche zu lügen. Und Paul hatte es geschehen lassen. Er war der beste Freund gewesen, den man sich nur vorstellen konnte. Und er selbst der schlechteste. Das war nicht wiedergutzumachen.
Guillaume brauchte eine Weile, bis er sich wieder im Griff hatte. »Halt an«, sagte er dann.
»Spinnst du?«, piepste der Belgier.
»Doch. Halt an. Lass mich aussteigen. Ihr braucht mich nicht. Holt euch den Schatz allein. Ich hab ihn nicht verdient.«
Entschlossen schüttelte Paul den Kopf. »Nein, Freundchen. Diesmal wirst du dich nicht einfach aus meinem Leben verpissen. Das hier ist unser Plan. Deiner genauso wie der von allen anderen. Wir haben das angefangen, und wir bringen es zusammen zu Ende.«
Lipaire schnürte es die Kehle zu. Dieser grobschlächtige Ex-Soldat verfügte über so viel mehr Mitgefühl als er selbst. Er holte ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich lautstark.
»Hör auf zu flennen«, kommentierte der Belgier grinsend.
»Danke«, war alles, was Lipaire herausbrachte.
»Bitte, Herr Liebherr.«
Der Deutsche zuckte zusammen, wie immer, wenn er diesen Namen hörte. Paul kannte eben all seine Geheimnisse. Und bei niemandem waren sie besser aufgehoben. Der Mann, der einst Wilhelm Liebherr gewesen war und vielleicht wieder ein bisschen mehr zu diesem Menschen werden musste, holte tief Luft. »Hör zu, Paul …«
»Klappe, du Heulsuse, wir sind da!«