Das Ziel vor Augen

Quenot stellte den Truck direkt vor dem Eingang zum Innenhof ab. Ein Wunder, dass sie ihrem Ziel mit dem Ungetüm überhaupt so nahe gekommen waren. Lipaire hatte bereits befürchtet, sie müssten das Gefährt vor den Toren von Gassin stehen lassen. Inzwischen war es fast dunkel, nur ein letzter, blasser Streifen Dämmerung am Horizont war zu sehen. Zumindest ihr Timing war perfekt.

Guillaume kletterte über die riesigen Reifen nach unten, während sich der Belgier zur Ladefläche des Pick-ups hangelte, wo sie die Werkzeuge aus dem Rolls-Royce-Wrack verstaut hatten. Dorthin passten sie ja auch besser als in die britische Nobelkarosse. »Hier, fang!« Quenot hatte eine Schaufel und die Spitzhacke in der Hand und machte sich zum Wurf bereit.

»Spinnst du? Willst du mich umbringen?«

»Wie oft soll ich dir das noch sagen? Nein, sonst hätte ich es längst getan.« Er bückte sich, so weit es ging, und reichte die Sachen nach unten.

Mit Hammer und Meißel in der Hand trat Lipaire in den Innenhof, alle weiteren Gerätschaften hatte sein Begleiter geschultert. Der Platz war menschenleer, nur ein paar Laternen tauchten ihn in schummriges Licht. Einige Wohnungen waren erleuchtet, doch am meisten Licht drang durch die tiefen, offen stehenden Fenster des Versammlungssaals, aus dem ein Gewirr aus Stimmen zu hören war, das hin und wieder durch eine Lautsprecheransage unterbrochen wurde.

»Bingo!«, sagte Quenot.

Guillaume kniff die Augen zusammen. »Hast du schon was entdeckt?«

»Nein. Samstag ist Bingoabend. Ganz kurzweilig.«

»Kurzweilig? Bingoabend? Wie alt bist du? Neunzig?«

Paul schnaubte. »Das hat nichts mit dem Alter zu tun und ist ein schönes Gemeinschaftsangebot für die Bewohner des Nouveau Village. Die Bingodamen sind auch nett. Und Benoît, der Spielleiter, ist …«

»Ja?«

»… besonders nett.«

»Verstehe.«

»Nichts verstehst du!«

»Ob der nette Mann noch die Fenster zumacht?«

»Ach was, die meisten hören nicht mehr so gut, und im Raum ist so viel Geschnatter, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Solange das Dosenbier nicht ausgeht.«

Lipaire nickte. Sie hatten den Brunnen erreicht.

»Also dann, auf geht’s!« Quenot spuckte in die Hände, griff sich die Spitzhacke, holte aus und hieb mit voller Wucht auf das Becken ein, was gewaltigen Krach machte und ordentlich platschte. Am Stein war allerdings kaum ein Kratzer zu sehen.

»Merde!« , schimpfte der Belgier, der von oben bis unten nass gespritzt war.

Lipaire seufzte. Konnte sein Freund denn nie vorher denken und dann erst zuschlagen? Schließlich ging alles leichter, wenn man einen Plan hatte. Er hielt ihm sein Stofftaschentuch hin, doch Quenot winkte ab. »Ist ganz frisch.«

Widerwillig griff der Belgier danach und wischte sich das Gesicht trocken.

»Lass uns doch erst mal logisch überlegen, bevor wir hier alles kurz und klein hauen, okay?«

»Überlegen, überlegen. Wir haben lange genug überlegt. Jetzt müssen wir endlich handeln.«

»Ja, aber wenn wir das Ding in Schutt und Asche legen, kriegen das irgendwann selbst deine schwerhörigen Bingofreundinnen spitz.«

»Also?«, fragte Quenot genervt.

»Also … denken wir darüber nach, was am meisten Sinn macht. Wo würdest du denn hier einen Schatz verstecken?« Er betrachtete den Brunnen mit zugekniffenen Augen.

»Ich würd ihn darunter einbetonieren, damit keiner ihn mehr rausbringt. Nur ich, mit einem Presslufthammer. Oder mit Dynamit.«

Lipaire schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatten die Eltern des Belgiers ihn als Kind zu wenig mit Baggern und Dampfwalzen spielen lassen. Wie ging das nur mit der liebevollen Art zusammen, mit der er sich um Blumen und andere bedrohte Pflanzen kümmerte?

»Also, ich für meinen Teil würde den Schatz dort verstecken, wo er erstens nicht ständig nass wird und wo ich zweitens gut wieder hinkomme, ohne alles zerstören zu müssen«, dachte Guillaume laut nach. »Zum Beispiel … hinter einer eingelassenen Bronzeplatte. Auf die hast du uns sogar hingewiesen, als wir zum ersten Mal hier waren.« Er zeigte auf das Relief, das die steinerne Stele zierte, die aus dem ummauerten Bassin des Brunnens herausragte. Auf jeder Seite war ein bronzefarbenes Rohr angebracht, aus dem das Wasser nach unten ins Becken plätscherte. Wenn innerhalb der Stele die Leitungen verliefen, gab es gute Chancen, dass das Ding innen hohl war. Ein geradezu ideales Versteck also.

»Okay, stimmt, könnte man auch machen. Dann versuch du mal da dein Glück, Wilhelm.« Quenot schulterte seinen Pickel und machte Platz.

Lipaire schürzte die Lippen. Wenn er Pauls Aufforderung folgen würde, müsste er dazu höchstpersönlich ins Becken des Brunnens steigen. Er wäre schon nach kürzester Zeit pitschnass. Und das, wo er es schon hasste, von einem Schauer überrascht zu werden und dann mit einem klammen Hemd herumlaufen zu müssen. »Könntest nicht du vielleicht …«

»Ich?«, fiepte Quenot empört. »War doch deine Idee!«

»Schon. Aber deine Begabungen liegen doch seit jeher eher im praktischen Bereich, während ich von mir behaupten kann, dass …«

»Was machen Sie hier, mitten in der Nacht?«

Lipaire hielt den Atem an, traute sich nicht, in die Richtung zu blicken, aus der die dumpfe Stimme eben gekommen war. Sein Blick ging zu Quenot. Der zwinkerte ihm kaum merklich zu, bückte sich dann blitzartig, zog ein Messer aus dem Schaft an seiner Wade, vollführte eine für seinen massigen Körper erstaunlich geschmeidige Drehung und packte sich den Mann in der schwarzen Kapuzenjacke. Mit einem geschickten Manöver legte der Belgier seinen Arm um den Hals des Unbekannten und drückte ihm das Kampfmesser an die Kehle.

»Hey, Paul, lass mich los, verdammt!«

»Karim?«

»Ja, verdammt!«

»Bist du’s wirklich?«, versicherte sich Quenot.

»Willst du meinen Ausweis sehen?«

Der Ex-Soldat ließ von ihm ab und zischte: »Mach so was nie mehr, Kleiner! Das kann ins Auge gehen.«

»Mein Gott, ein kleines Späßchen wird doch erlaubt sein. Ihr müsst mir ja nicht gleich an die Gurgel gehen. Alles gut bei euch? Wie weit seid ihr?«, wollte Karim wissen, während er sich den Hals rieb.

»Wir sind …«, begann Lipaire, dann kam ihm eine Idee. »Wir sind richtig froh, dass du kommst. Du hast uns nämlich gerade noch gefehlt.«

»Ach ja?«

Er nahm ihn bei der Schulter und führte ihn ein Stück näher zum Brunnen. »Dein Element ist ja das Wasser, oder?«

Der Junge nickte.

»Und der Zufall will es, dass wir gerade vor einer Aufgabe stehen, die gewieften Umgang mit dem kühlen Nass verlangt, ja, geradezu herausfordert.« Damit hielt er ihm Hammer und Meißel hin und deutete auf das bronzene Relief.

»Wenn du mir damit auf die charmante Tour sagen willst, dass du dir zu fein bist, um ins Becken zu steigen: Gib schon her.«

»Ruhe, wir kriegen Besuch!«

Alle drei blickten in die Richtung, in die Quenot deutete. Eine schlanke Frau lief beschwingten Schritts quer über den Platz, ihr langes blondes Haar wehte im Abendwind. Erst dachte Guillaume, sie wohne womöglich hier in der Anlage oder wolle einen Besuch machen, doch sie steuerte genau auf sie zu. Jetzt, als sie sie schon fast erreicht hatte, begann sie auch noch, verstohlen zu winken.

»Haltung, Männer!«, zischte Lipaire in zackigem Ton. »Und lasst mich reden, klar?« Dann setzte er sein Lächeln auf, mit dem er noch jedes Frauenherz erobert hatte. »Guten Abend, Madame, ich freue mich ganz außerordentlich, dass Sie uns hier besuchen. Eine so betörende Schönheit bekommt man ja wirklich nicht jeden Tag zu Gesicht.«

Die Besucherin brach in schallendes Gelächter aus und zog sich die Perücke vom Kopf. »War ich echt so gut? Hätte ich gar nicht gedacht«, sagte Jacqueline Venturino und stopfte das Haarteil in ihren Rucksack.

»Jacky?«, entfuhr es Karim. »Wow …«

»Sagt mal, steht da draußen wirklich ein Monstertruck, oder hab ich Halluzinationen?«

»Das … erklären wir dir ein andermal. Wir müssten jetzt nämlich endlich mal anfangen«, drängte der Deutsche. »Sonst ist der Vorsprung, den wir uns so mühsam erarbeitet haben, dahin. Karim wollte gerade ins Bassin steigen und die Stele aufmeißeln, stimmt’s?« Er wusste, dass der Junge jetzt auf keinen Fall kneifen würde. Nicht vor Jacqueline.

»Bingo! Bingo!« , schallte es da wie ein Startsignal über den Platz. Karim schnappte sich Hammer und Meißel: »Kommst du mit rein, Jacky?«

»Würd ich nicht machen, er will nur, dass dein weißes T-Shirt nass wird!« Alle sahen verdutzt zu Delphine, die in diesem Moment zu ihnen stieß. »Ich kenn euch Kerle doch. Mich lädt ja schon lang keiner mehr zum Wet-T-Shirt-Contest ein … Wie wär’s eigentlich, wenn ihr mal dieses Geplätscher da ausschalten würdet? Das macht mich ganz wuschig im Kopf.« Sie deutete auf den Brunnen.

»Ausschalten? Was heißt da ausschalten ?«, fragte Lipaire.

»Das, was ich sage.« Delphine ging auf eine Parkbank ganz in der Nähe zu, neben der ein gemauerter Quader aus dem Boden ragte. Sie zog eine kleine Metallklappe auf, leuchtete mit ihrem Handy und steckte ihre Hand hinein. Umgehend versiegte der Brunnen.

Guillaume blickte die anderen an. Auch sie waren baff, das sah er deutlich. Dann applaudierte er ganz leise.

Jetzt schwang Karim sich über den Rand des Bassins und begann, die Platte auszumeißeln, was mehr Lärm machte als gedacht, noch dazu seitdem das Plätschern im Hintergrund verklungen war.

»Du musst vor allem dann klopfen, wenn’s beim Bingo heiß hergeht«, empfahl Lipaire, doch Karim war nicht mehr zu bremsen. Gebannt sahen sie ihm dabei zu, wie er rings um das Relief den Putz abschlug.

»Brecheisen«, sagte er irgendwann. Wie ein Assistenzarzt bei einer Herzoperation reichte Quenot ihm das Werkzeug. Mit einem beherzten Ruck entfernte Karim die Platte. Sofort steckte er seinen Arm in die so entstandene Öffnung.

»Bingo, Bingo!« , hörte man in der Ferne eine Frauenstimme rufen.

Dann verstummten alle Geräusche. Jedenfalls kam es Lipaire so vor. Keiner wagte, auch nur laut zu atmen, so gespannt starrten sie alle auf Karim. Der tastete den Hohlraum ab, steckte seinen Arm noch tiefer hinein, bekam plötzlich große Augen und rief: »Bingo, Leute!« Dann zog er seinen Arm heraus. In der Hand hielt er eine lange, schmale Metallröhre, die er in die Höhe reckte, als handle es sich um die Siegertrophäe des America’s Cup.

»Ein Bild, da ist sicher ein Bild drin«, hauchte Delphine andächtig. »Ein Picasso vielleicht. Oder ein Gauguin.«

»Könnte auch ein Zepter sein, schließlich haben wir es mit Adeligen zu tun«, mutmaßte Jacqueline.

»Unsinn, das ist ein Schwert. Vielleicht Excalibur?«

Karim schüttelte den Kopf. »Das wäre doch viel größer, Paul!«

»Na, solange es nicht das Damoklesschwert ist, ist ja alles okay«, sagte Jacqueline grinsend.

Delphine machte ein besorgtes Gesicht. »Lieber Gott, lass es bloß nicht eine weitere Schatzkarte sein. Ich muss mich schließlich auch mal wieder um den Laden und die Kinder kümmern.«

»Los, öffne es, Karim!«, forderte Lipaire ihn auf, der zu nervös war, um sich an dem Ratespiel zu beteiligen.

»Das überlassen Sie vielleicht besser mir, Monsieur le Gardien

Ihre Köpfe schnellten zur Seite – und blickten in den Lauf einer Pistole. Dahinter erkannte Guillaume schemenhaft das eiskalte Lächeln von Marie Vicomte. »Madame … was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs? Sie sehen heute ja wieder aus wie der frische Frühlingsmorgen. Darf ich Sie vielleicht …«

»Sparen Sie sich Ihr Gewäsch, Sie Aushilfsplayboy!«, herrschte sie ihn an. »Und jetzt gib mir die Rolle, Kleiner!« Sie richtete ihre Waffe direkt auf Petitbon. Der warf Lipaire einen Blick zu, der resigniert mit den Achseln zuckte. Seufzend reichte ihr Karim das Metallgebilde.

Marie Vicomte klemmte sich die Rolle unter den Arm und schraubte mit der freien Hand den Deckel ab. Das Messing, aus dem sie bestand, war über die Jahre dunkel angelaufen, der Verschluss knarzte. »Ich kann mich nur bei Ihnen bedanken«, sagte sie freundlich, doch in Lipaires Ohren klang es nach Hohn und Spott. »Bei Monsieur Barral hätte mich dieses Ding hier ein Vermögen gekostet, während Sie es ganz und gar unentgeltlich für mich gefunden haben.«

Delphine schnaubte verächtlich. »Müssten Sie nicht in Cannes sein?«

»Das würde Ihnen so gefallen, was, Miss Piggy?«

»Aber … wie?«

»Meine Tochter Isabelle hat das letzte Mal maman zu mir gesagt, als sie drei Jahre alt war. Seitdem nennt sie mich beim Vornamen. Ich fand das ja immer irgendwie schade, aber heute war ich, ehrlich gesagt, ganz froh darüber.«

Lipaire entging nicht, dass Delphine ihm einen entschuldigenden Blick zuwarf. Doch er schüttelte nur sanft den Kopf. Jedem hätte dieser Fehler unterlaufen können. Dass ausgerechnet sie es war, die die verfängliche Nachricht an Marie Vicomte geschrieben hatte, war nichts weiter als ein Zufall gewesen.

»Apropos, was haben Sie mit Isabelle gemacht?«, blaffte die Frau und fuchtelte mit der Waffe.

»Es geht ihr gut, keine Sorge«, erklärte Jacqueline, deren zitternder Stimme Guillaume die Angst deutlich anmerkte. Umso erstaunlicher fand er, dass sie sich trotzdem traute, der Frau Paroli zu bieten. »Sie ist nur auf dem Weg nach oben stecken geblieben. Aber ihr wird kein Haar gekrümmt. Wir sind schließlich keine Mörder!«

»Ach ja?«, zischte Marie Vicomte. »Und was ist mit Monsieur Barral passiert?«

»Den habt doch ihr auf dem Gewissen!«, sprang Karim dem Mädchen bei. Seine Augen funkelten die Frau an.

»Derartiger Methoden bedient sich unsere Familie schon seit einem guten Jahrhundert nicht mehr.«

»Madame Vicomte, nur eine bescheidene Frage: Was befindet sich denn nun in der Metallrolle?«, fragte Lipaire, dem es nicht sonderlich geschickt erschien, einer bewaffneten Frau einen Mord vorzuwerfen. Außerdem konnte er seine Neugierde kaum noch zügeln.

Marie Vicomtes Miene hellte sich auf. »Etwas sehr, sehr Wertvolles, verlassen Sie sich drauf. Sie hatten also durchaus den richtigen Riecher.« In dem Augenblick, als sie in die Metallhülse griff, erleuchteten die Lichtkegel zweier Scheinwerfer die Szenerie. In einem der Durchgänge war ein Auto aufgetaucht, aus dem fünf Männer sprangen. Lipaire konnte gegen das Licht der Scheinwerfer nichts erkennen als schwarze Schemen, die auf sie zurannten. Ob jemand aus dem Wohnkomplex die Polizei gerufen hatte?

»Marie, chérie «, rief da jedoch eine der Gestalten.

Jetzt verließ den Deutschen all sein Mut. Es handelte sich um den Rest der Familie Vicomte und ihre Handlanger. Anscheinend hatten sie nach dem Crash mit dem Toyota einen anderen fahrbaren Untersatz aufgetrieben.

»Maman , geht’s dir gut?«, fragte Clément keuchend.

»Ah, er kann’s zu seiner Mutter sagen, bloß das Töchterchen muss den Blödsinn mit dem Vornamen anfangen«, murmelte Delphine beleidigt.

Lipaire musste unwillkürlich lachen. Inzwischen waren auch die Gesichter der drei Neuankömmlinge zu erkennen. Noch immer konnte man die Spuren des Paintball-Beschusses sehen.

»Was amüsiert Sie denn so, Monsieur?«, erkundigte sich Henri Vicomte. »Gibt es Schwierigkeiten, Marie? Hast du es?«

»Ich wollte gerade nachschauen, da seid ihr gekommen«, gab sie zurück und klang dabei ein wenig vorwurfsvoll. Sie hielt ihrem Sohn das bereits geöffnete Messingrohr hin, der ihm eine Papierrolle entnahm.

»Hab ich doch gewusst, dass es ein Picasso ist und kein Schwert!«, triumphierte Delphine, und Quenot flüsterte: »Oder doch eine Schatzkarte?«

»Schatzkarte? Wir sind doch nicht in einem Piratenfilm«, sagte Marie spitz, nahm ihrem Sohn das Papier aus der Hand und rollte es vorsichtig auf. Sie überflog es kurz, lächelte, zeigte es ihnen und erklärte: »Das hier ist eine Urkunde von unschätzbarem, historischem Wert.«

Lipaire fuhr die Enttäuschung schmerzvoll in den Magen. Urkunde? Historischer Wert? Deshalb hatten sie den ganzen Aufwand betrieben, ihr Leben riskiert, die halbe Gegend rebellisch gemacht und eine Spur der Verwüstung hinterlassen? Ihm wurde heiß und kalt zugleich.

»Ein wertloser Fetzen Papier!«, flüsterte Paul.

»Bingo!« , tönte es wieder aus dem Saal.

»Für Sie vielleicht. Für uns hingegen ist es die Rückkehr zu alter Stärke und Größe.«

Lipaire sah die Mitglieder seiner Gruppe einen nach dem anderen an. Sie blickten alle genauso bedröppelt drein, wie er sich fühlte.

»Na, jetzt schauen Sie mal nicht so belämmert. Sie wissen also tatsächlich nicht, worum es sich hierbei handelt?«

Lipaire schüttelte reflexartig den Kopf. »Woher denn auch?«

»Nun, ich dachte von Barral? Haben Sie denn nicht deswegen den ganzen Aufwand betrieben? Egal. Dann will ich Sie mal ins Bild setzen: Dieses Papier belegt«, dabei präsentierte sie das alte Schriftstück wie eine Jagdtrophäe, »unseren rechtmäßigen Anspruch auf das Gebiet, auf dem sich heute Port Grimaud und ein Teil des Umlandes befinden. Das alles gehört den Nachkommen der Vicomtes de Grimaud. Also … uns!«

Lipaire riss die Augen auf. Die Vicomtes de Grimaud  – VdG , darum hatte es sich bei der Abkürzung in der Mail also gehandelt.

»Ja, Sie haben richtig gehört. Wir waren das Herrschergeschlecht dieser Gegend, bevor widrige Umstände meine Vorfahren in ein anderes, bürgerliches Leben gezwungen haben. Lassen wir das. Jetzt nämlich werden wir zu altem Glanz zurückfinden, denn dieses Gebiet wurde nie offiziell der Französischen Republik unterstellt. Bis zum heutigen Tag. Was dieses Dokument völkerrechtlich belegt. Das hier ist unser Monaco, unser Liechtenstein, unser …«

»Aber was genau hat das mit dem Architekten zu tun?«, unterbrach sie Jacqueline.

»Roudeau?« Maries Miene verfinsterte sich wieder. »Er hat im Gefängnis von der Urkunde und unserer Suche danach erfahren. Und von deren Verbleib – offenbar wusste ein Mithäftling mehr darüber. Daraufhin entwarf er einen perfiden Racheplan, weil er meinem Großvater die Schuld für seine Haftstrafe gegeben hat. Deswegen hat er sie nicht einfach verbrannt, sondern hier versteckt. Er wollte sie uns vor die Nase halten, aber so, dass sie doch unerreichbar blieb. Er liebte wohl diese Art von Spielchen. Aber wir waren letztlich doch schlauer.«

»Von wegen. Wir waren schlauer«, protestierte Delphine.

»Stimmt, der Punkt geht an Sie. So, nun müssen wir aber wirklich aufbrechen, wir haben schließlich einiges vor in nächster Zeit, Sie werden schon sehen.«

Lipaire wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Konnte es wirklich sein, dass dieses verdammte Ding, das sie all die Zeit über gesucht hatten, tatsächlich nur für die Vicomtes unschätzbaren Wert besaß? Und sie so dumm gewesen waren, sich für deren Zwecke einspannen zu lassen? »Putain de merde« , zischte er. Sie hatten sich übers Ohr hauen lassen wie unverbesserliche Amateure.

»Na, was ist denn das für eine Ausdrucksweise«, tadelte Marie Vicomte ihn überlegen lächelnd und entfernte sich, die drei Männer im Schlepptau. Als sie die Parkbank passierten, hielt sie noch einmal inne, drehte sich um und legte demonstrativ die Waffe ab. »Die können Sie gern als Andenken behalten. Wertloser Tand, Schreckschuss. Fünfunddreißig Euro, in diesem unsäglichen Azur-Park. Ach ja, und machen Sie sich keine Gedanken wegen der Schäden am Brunnen. Wir kümmern uns von nun an darum. Und um alles andere hier.«