13. Kapitel

M it gemischten Gefühlen durchritt Conlin an diesem späten Freitagnachmittag die Weißerpforte. Einerseits war er froh, sein Ziel noch vor Einbruch des Abends erreicht zu haben, andererseits ärgerte es ihn maßlos, dass er um etliche Wochen früher als geplant nach Koblenz zurückgekehrt war. Doch was blieb ihm anderes übrig, wenn er sich nicht lächerlich machen wollte? Er hatte sich hinreißen lassen und musste die Suppe nun wohl oder übel auslöffeln.

Was ihn fast noch mehr fuchste, war die Tatsache, dass Palmiro, nachdem er erst einmal herzhaft gelacht hatte, seine Pläne als durchaus sinnvoll und zukunftsträchtig eingeschätzt hatte. Und das, obwohl Conlin ja eigentlich nur aus Unachtsamkeit in die Sache hineingestolpert war. Nun trug er neben seiner Turnierausrüstung auch noch ein in Leder gebundenes, noch leeres Rechnungsbuch bei sich. Ein Rechnungsbuch! So als wäre er ein Kaufmann oder auch nur so etwas Ähnliches. Der Witz übertrumpfte alles, was er sich bisher in seinem Leben geleistet hatte. Nur lachen konnte er leider nicht darüber.

Da die Vesperzeit seit einer Weile verstrichen war und die Marktglocke bereits geläutet hatte, waren auf dem Plan die Metzger und einige Händler dabei, die Verkaufsscharren zu schließen. Für einen Moment liebäugelte Conlin damit, sich einfach wieder in der Herberge Am roten Ross einzumieten, doch zuvor würde er noch einige Schriftstücke, die Palmiro ihm mitgegeben hatte, in dessen Kontor abgeben.

Bei dieser Gelegenheit würde er denn wohl auch zum ersten Mal dem englischen Handelsgesellen mit dem seltsamen Namen begegnen. Was Palmiro getrieben hatte, diesen Kerl praktisch von der Straße weg einzustellen, war Conlin schleierhaft, und um ihrer langjährigen Freundschaft willen würde er sich den Engländer einmal sehr genau anschauen. Nicht, dass er Palmiros Menschenkenntnis misstraute, doch vier Augen sahen mehr als zwei und zudem hatte Palmiro angedeutet, dass le Smithy vermutlich etwas zu verbergen hatte. Falls dem so sein sollte, würde Conlin ihm erst recht einmal auf den Zahn fühlen.

Vor der halb offen stehenden Tür zu Palmiros Kontor band Conlin sein Pferd an und hielt für einen Moment überrascht inne, als er von drinnen das helle Lachen einer Frau vernahm. Es war eindeutig Reinhilds Lachen, das ihn merkwürdig berührte, wahrscheinlich, weil er es schon so lange nicht mehr vernommen hatte.

»Nein, also nein, Master le Smithy, das habt Ihr Euch doch wohl ausgedacht! Im Leben habt Ihr nicht die Kirschen des Abtes vom Baum gefuttert. Das wäre ja Diebstahl!«

»Mundraub, Frau Reinhild, er nannte es Mundraub.« Das war eine männliche Stimme mit Akzent, die Conlin vollkommen unbekannt war. Also vermutlich der Engländer. »Der Vater Abt hat mich daraufhin einen halben Tag lang vor dem Altar knien und beten lassen.«

»Da seid Ihr glimpflich davongekommen.« Reinhild gluckste noch immer.

»Nun ja, die andere Hälfte des Tages musste ich bäuchlings auf den kalten Steinen ausharren und weiterbeten. Habt Ihr das schon einmal versucht, wenn Ihr zuvor einen Eimer voll Kirschen genascht habt?«

Reinhild prustete. »Ihr durftet Euch nicht einmal erleichtern?«

»Ich kann bis heute keine Kirschen essen, weil mich sofort ein Leibdrücken ereilt. Ganz zu schweigen vom Ave-Maria, das mir, einer Heimsuchung gleich, in den Ohren gellt.«

»Das ist äußerst betrüblich, Master le Smithy. Dabei hat Minta heute einen ganz vorzüglichen Konkavelite gemacht. Ich habe ihr höchstpersönlich dafür meinen letzten Vorrat an Mandeln mitgebracht und einen Korb voll Kirschen aus dem Obstgarten meines Vaters.« Sie hielt inne, als Conlin die Tür weiter aufstieß und eintrat. Sie erhob sich von ihrem Sitzplatz hinter dem großen Schreibpult. Gleichzeitig schwand ihr strahlendes Lächeln bei seinem Anblick, wie er mit ungewöhnlichem Bedauern feststellte, und machte einer verblüfften Miene Platz. »Conlin! Guten Tag. Mit Euch hatten wir noch lange nicht gerechnet.«

Er nickte ihr knapp zu. »Guten Tag, Reinhild.« Er legte den Kopf leicht schräg. »Wir?«

Nun lächelte sie doch, wenn auch etwas verhalten. »Nun ja, ich in diesem Fall. Aber mit wir meinte ich uns alle, Eure Freunde … Ihr wolltet doch bis zum Herbst fortbleiben.«

»Was Euch lieber gewesen wäre?«

Sie runzelte ganz kurz die Stirn. »Nein, also … Es ist eine Überraschung. Was führt Euch vorzeitig wieder her? Palmiro ist leider nicht hier. Er hat sich vor nicht ganz zwei Wochen ebenfalls auf eine Reise begeben, um …«

»Ich weiß. Wir sind uns vor elf Tagen in Köln begegnet.« Conlin hob die lederne Umhängetasche von der Schulter und trug sie zum Pult, hinter dem Reinhild erneut Platz genommen hatte. »Er trug mir auf, Euch ein paar Schriftstücke mitzubringen.« Sorgsam entnahm er die Papiere der Tasche und legte sie auf die Tischplatte.

»Sehr gut, ähm, vielen Dank.« Reinhild wollte schon nach den Schriftstücken greifen, doch als ihre Hand dabei die seine streifte, zog sie sie rasch wieder zurück. Stattdessen griff sie nach einer Wachstafel, legte sie aber sofort wieder ab. »Also …« Ihr Blick fiel auf den Engländer, der schweigend einen Schritt zurückgetreten war. »Ach, dies ist übrigens Master Mathys le Smithy, Palmiros neuer Handelsgeselle. Er kommt aus England. Master le Smithy, dies ist Conlin vom Langenreth, ein Freund von Don Palmiro.«

»Und der Eure auch, wie ich hoffe«, fügte Conlin hinzu.

Reinhild nickte hastig. »Ja, natürlich auch der meine.« Sie wirkte nervös.

Conlin wandte sich dem Engländer zu und musterte ihn eingehend, bevor er den Kopf ein wenig neigte. »Master le Smithy.«

»Ich grüße Euch, Herr Conlin.« Le Smithy verbeugte sich ehrerbietig. »Don Palmiro hat mir bereits ein wenig von Euch erzählt.«

»So, hat er das?« Conlin hob die Brauen.

»Oh ja.« Der Handelsgeselle nickte eifrig. »Er nannte Euch einen guten Freund.«

»Tatsächlich.« Conlin lehnte sich mit der Hüfte gegen das Pult. »Euch hat er mir gegenüber als einen überaus interessanten Mann beschrieben, der Geheimnisse vor ihm verbirgt.«

»Conlin!« Erschrocken starrte Reinhild ihn an.

Er zuckte nur mit den Achseln und ließ den Engländer dabei nicht aus den Augen. »Hat er damit recht?«

Le Smithys Augenbrauen zogen sich ein klein wenig zusammen. »Verbergen wir nicht alle das eine oder andere Geheimnis vor unseren Mitmenschen? Entschuldigt mich nun bitte, ich muss noch die eingelagerten Pelze umschichten.« Mit einer knappen Verbeugung in Reinhilds Richtung verließ der Handelsgeselle das Kontor.

Reinhild erhob sich abrupt und trat um das Pult herum auf Conlin zu. »Was sollte das denn? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Palmiro hat mich gebeten, le Smithy unauffällig auszuhorchen. Mit diesen Vorwürfen hast du nun vermutlich meine bisherige Arbeit von fast zwei Wochen zunichtegemacht.«

»Ach was, das habe ich nicht.« Conlin grinste. »Soll er ruhig wissen, dass nicht alle ihm vertrauensselig gegenüberstehen. Auch Palmiro selbst nicht. Vielleicht beschleunigt das deine Bemühungen sogar ein wenig.«

»Oder er sagt mir nun überhaupt nichts mehr.« Verärgert verschränkte sie die Arme vor dem Leib.

»Was hat er dir denn in den zwei Wochen bereits anvertraut?«

Rasch blickte sie zur Tür, wohl um sich zu versichern, dass der Engländer nicht etwa lauschte. »Er ist der jüngere Sohn eines Schmieds und wurde in einem Dominikanerkloster erzogen, dem er aber nicht beitreten wollte. Also ist er mit fünfzehn weggelaufen und hat sich einem Kaufherrn angeschlossen. Seitdem verdingt er sich als Handelsgeselle.« Sie sah ihn an, als müsste diese Vergangenheit bewirken, dass Conlin sich dem Engländer verbunden fühlte. Doch das war nicht der Fall.

»Was hat er so weit von seiner Heimat zu suchen?«

Reinhild zögerte. »Er sagt, dass er Erfahrungen in fremden Landen sammeln will.«

»Du misstraust ihm ebenso wie ich. Und wie Palmiro, denn sonst hätte er dich nicht gebeten, den Kerl auszuhorchen.«

Wieder warf Reinhild einen kurzen Blick durch die Tür in den Hof. »Wir misstrauen ihm nicht.« Sie presste kurz die Lippen aufeinander. »Palmiro sagt, er sei ein guter Mensch.« Abwartend sah sie ihn an, so als müsste diese Einschätzung ihm eine besondere Reaktion entlocken.

Conlin ahnte, worauf sie anspielte. Natürlich wusste sie um Palmiros seltene Gabe. Er selbst hatte sie als Junge kennengelernt, zu einer Zeit, da Palmiro sie noch nicht so gut unter Kontrolle gehabt hatte wie heute. Diesmal warf er selbst ebenfalls einen prüfenden Blick zur Tür. »Auch gute Menschen tun zuweilen schlechte Dinge. Ist es wirklich Zufall, dass der Engländer gerade jetzt hier aufgetaucht ist?«

Erschrocken hob Reinhild den Kopf. »Was meinst du mit ausgerechnet jetzt?«

»Nun ja, jetzt, da Palmiro aus der Fremde zurückgekehrt ist, ein neues Kontor eröffnet, seinen Kompagnon verloren hat …«

Reinhilds Augen weiteten sich. »Glaubst du etwa, Master le Smithy will daraus seinen Vorteil schlagen?«

»Und Palmiro übers Ohr hauen? Weiß man es? Es gibt wandernde Handelsgesellen, ganz gewiss. Aber wie viele von ihnen sind letztendlich wirklich ehrbare Männer und wie viele stattdessen umherziehende Schwindler, Rosstäuscher und Scharlatane? Mag sein, dass er nach Erfahrung sucht, doch muss man hierzu ausgerechnet nach Koblenz kommen, wenn man aus einer der größten Städte der Christenheit zu kommen vorgibt und es wohl auch weit spannendere und interessantere Orte gäbe, um selbige Erfahrungen zu sammeln? Köln zum Beispiel?« Er hob die Schultern. »Ich meine ja nur.«

»Er sagt, dass er schon genug in solchen großen Städten gelernt hat und nun auch die etwas kleineren kennenlernen will.«

»Soso.« Mit gekräuselten Lippen nickte Conlin. »Er hat auf alles eine passende Antwort, ja?«

Reinhild rieb sich über die Oberarme. »Worauf willst du hinaus?«

»Nichts Spezielles.« Er lächelte schwach. »Ich habe nur schon einige Kerle wie ihn gesehen.« Nach einem kurzen Moment setzte er hinzu: »Du solltest also vielleicht besser keine allzu große Neigung zu ihm fassen.«

»Eine was?« Sie starrte ihn derart verblüfft an, dass sich in seiner Magengrube ein merkwürdiges Ziehen breitmachte.

Er verdrängte diese ungewohnte Empfindung sogleich, weil er nichts damit anfangen konnte. »Es wirkte vorhin auf mich so, als wäret ihr recht … vertraut miteinander.«

»Tat es das?« Ihre Miene verfinsterte sich.

»Du hast über seine Scherze gelacht. Wenn es denn Scherze waren.«

»Es war eine Geschichte aus der Zeit, da er noch im Kloster gelebt hat. Ich hätte nicht gedacht, dass du uns belauschst.«

»Das hatte ich auch nicht vor, doch man konnte Euch schwerlich überhören.«

»Tja, nun, Conlin, dann lass dir …« Sie stockte kurz, als die Tür zu den hinteren Räumen sich öffnete und die Köchin das Kontor betrat. Sofort besann sie sich. »Dann lasst Euch gesagt sein, Herr Conlin, dass meine Belustigung bei Master le Smithys Geschichte nicht das Geringste zu bedeuten hat, schon gar nicht das, was Ihr mir unterstellt. Würde ich zu jedem Mann, über dessen Scherze ich lache oder je gelacht habe – die Euren eingeschlossen – eine Zuneigung gefasst haben, wie Ihr es nennt, würde ich mich selbst als ziemlich liederliche Weibsperson bezeichnen. Also haltet Euch gefälligst mit solchen Unterstellungen zukünftig zurück.« Nachdem sie ihm noch einen giftigen Blick zugeworfen hatte, wandte sie sich der Köchin zu. »Ja, Minta, was gibt es denn?«

»Ja, also, Frau Reinhild, ich wollte Euch und den edlen Herrn Conlin nicht stören. Mir scheint, Ihr habt einen hitzigen Disput. Es ist nur so, dass ich noch einmal fortgehen möchte, zur Liebfrauenkirche. Es ist ja Freitag und jeden Freitag zünde ich dort abends eine Kerze für meine Eltern selig an. Eine kleine, billige Unschlittkerze nur, weil ich mir nicht mehr leisten kann, aber …«

»Schon gut, Minta, geh nur.«

»Aber ich habe Euch noch nichts zu trinken gebracht und nun ist auch Herr Conlin gekommen und in der Küche steht auch noch mein guter Konkavelite. Ihr könnt natürlich auch welchen mit nach Hause nehmen, wenn Ihr möchtet. Soll ich Euch etwas abfüllen? Für den kleinen Herrn Hannes vielleicht auch? Der wird sich bestimmt freuen. Isst er gerne Mandelspeise mit Kirschen? Natürlich. Das tun doch alle Kinder. Nun ja, außer meine Base Adelheid. Also die war als Kind höchst sonderbar, das sag ich Euch. Wo andere Kinder ganz wild auf süße Honigspeisen waren, hat sie am liebsten auf Huflattichblättern herumgekaut, weil die salzig schmecken. Huflattich! Ist das zu glauben? Meine Schwester wollte Adelheid schon exorzieren lassen, weil sie befürchtet hat, irgendein Dämon hätte sich des Kindes bemächtigt. Das Mädchen mochte einfach keine süßen Sachen. Na ja, bis sie dann älter war und geheiratet hat und schwanger wurde. Da hat sie plötzlich den Honig pur aus dem Topf geschleckt. Macht sie jetzt noch, wenn sie schwanger ist oder wenn sie ihre …« Sie senkte die Stimme. »Ihr wisst schon, ihre Mondzeit hat. Aber nur dann! An allen anderen Tagen will sie von süßen Sachen nichts wissen. Ach ja, die Menschen sind schon manchmal merkwürdig, nicht wahr?«

»Ja, Minta, das sind sie.« Reinhild ging schmunzelnd über die Tirade hinweg, die der Köchin wie ein Wasserfall aus dem Mund gestürzt war. »Nun mach dich auf den Weg. Ich kann mir selbst etwas von dem Konkavelite abfüllen und auch Herrn Conlin etwas zu trinken anbieten, falls er durstig sein sollte.« Sie warf ihm einen scheelen Blick zu. »Es sei denn, er hat vor, gleich wieder zu gehen.«

»Das hatte ich in der Tat vor.« In Grunde hätte er nichts gegen einen kleinen Schwatz mit Reinhild gehabt, doch die Begegnung mit dem Engländer hatte ihm aus irgendeinem Grund die Laune verdorben. Was dieser Grund genau war, darüber wollte er lieber nicht so genau nachdenken, denn er fühlte sich verdammt nach Eifersucht an. »Ich wollte nur die Schriftstücke abgeben.«

»Was Ihr ja nun getan habt.« Reinhild sah kurz Minta nach, die am Pult vorbeihuschte und das Kontor verließ.

»Ja. Also dann …« Auch Conlin wandte sich der Tür zu.

»Du hast mir noch immer nicht erzählt, weshalb du so vorzeitig wieder zurückgekehrt bist.« Reinhilds Kommentar ließ ihn innehalten. Sie raschelte mit den Papieren auf dem Pult. Da sie wieder zum vertraulichen Du übergegangen war, schien sie weniger verärgert zu sein, als es eben den Anschein gehabt hatte.

Langsam drehte Conlin sich wieder zu ihr um. »Geschäfte.«

Verwundert zog sie die Stirn in Falten. »Was für Geschäfte?«

Zögernd trat er wieder auf das Pult zu und setzte sich, als sie ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte, auf einen der beiden gepolsterten Stühle, die für Gäste aufgestellt worden waren. »Ich fürchte, das wirst du mir nicht glauben.«

»Aus welchem Grund sollte ich das nicht?« Sie faltete die Hände auf dem Pult und blickte ihn erwartungsvoll an.

»Weil es lachhaft ist.«

»Dann werde ich es vermutlich glauben, jedoch darüber lachen. Gesetzt den Fall, ich teile deine Einschätzung.«

»Ich habe zwei Kölner Amtmännern, die sich als Fernkaufleute betätigen, die Sicherheit für ihre nächsten Warenlieferungen zugesagt.«

Reinhild wollte etwas sagen, stockte, stutzte. Ihre Augen weiteten sich. »Du hast ihnen Sicherheiten verkauft?«

»Hilger Quattermart von der Stesse hat die beiden Geschäfte vermittelt. Dafür will er vermutlich entweder einen Anteil oder irgendeine andere Gefälligkeit.«

»Ich wusste nicht, dass du vorhast, dich als Sicherheitengeber zu verdingen.«

Conlin schnaubte. »Ich auch nicht.« Auf ihre verständnislose Miene hin fügte er hinzu: »Es war eine Menge Bier im Spiel. Nun habe ich so ein schweres, in Schweinsleder gebundenes Buch im Gepäck, in das ich diese Geschäftsvorgänge eintragen muss. Dabei habe ich noch nie zuvor ein solches Buch geführt. Ganz zu schweigen davon, dass ich mir vermutlich Geld leihen muss, um die Männer zu bezahlen, die die Handelswaren auf ihrem Weg zu den Empfängern bewachen sollen. Um Geld zu sparen, werde ich eine der beiden Ladungen wohl selbst begleiten müssen.«

»Hast du überhaupt die geringste Ahnung von Sicherheiten?« Reinhilds Stimme ließ sehr deutlich auf ihre Skepsis schließen.

»Nein, habe ich nicht. Das ist ja das Lachhafte daran.« Seufzend umriss er in wenigen Sätzen, wie es zu diesen Vereinbarungen gekommen war. »Als ich Palmiro am nächsten Tag zufällig in Köln traf und ihm davon erzählte, hielt er die Sache für erfolgversprechend.«

Ungläubig starrte Reinhild ihn an. Seine Miene musste wohl allzu konsterniert gewirkt haben, denn plötzlich schlug sie die Hände vor den Mund und begann haltlos zu kichern. »Nein, also … Nein! Conlin, das ist … Ich kann es kaum glauben. Du hast also beschlossen, ein Gewerbe zu betreiben und damit zukünftig dein Einkommen zu bestreiten?«

Geräuschvoll stieß Conlin die Luft aus. »Das Geld ist mir vollkommen gleichgültig! Quattermart hat mich praktisch gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.«

Reinhild prustete. »Du hast dich noch nie von jemandem zu etwas zwingen lassen. Nicht einmal von deinem eigenen Vater. Womit hat Quattermart dich denn gelockt, wenn nicht mit der Aussicht auf viel Geld?«

»Viel Geld ist daran nicht zu verdienen, wenn ich mich nicht darauf einlasse, dieses Geschäft ernsthaft und auf Dauer zu betreiben. Lombardgeschäfte wollte er mir auch noch schmackhaft machen. Keine Ahnung, was ihn dazu bewogen hat. Als wäre ich ein Kaufmann. Ein Kaufmann!« Er lachte sarkastisch auf. »Ausgerechnet!« Kopfschüttelnd blickte er zur Decke hinauf, an der zwei Fliegen krabbelten. »Aus irgendeinem Grund ging Quattermart davon aus, dass ich mich längst in diesen Geschäften betätige. Ich wollte ihn eigentlich nur abwürgen, doch das hat leider nicht ganz so gefruchtet, wie ich es mir vorgestellt hatte, und dann konnte ich nicht mehr zurück, ohne das Gesicht zu verlieren.«

»Also hat er dich bei deiner Ehre gepackt?« Immer noch erheitert, jedoch offenbar auch beeindruckt musterte Reinhild ihn. »Interessant. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist.«

»Du hältst mich für ehrlos?« Seltsam, dass ihn das so verletzte.

»Nein, keineswegs.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber bisher hat es noch niemand geschafft, deine Ehre gegen dich zu verwenden. Dir ist doch wohl bewusst, welch großes Risiko der Verkauf von Sicherheiten birgt und wie schwer die Verantwortung wiegt, die du auf dich genommen hast.«

»Das ist mir vollkommen bewusst.« Wenn er nicht so erpicht darauf gewesen wäre, auch vor ihr das Gesicht zu wahren, würde er sich wohl in einem Anfall von Panik auf dem Boden winden. Stattdessen versuchte er, die Angelegenheit mit einem Achselzucken abzutun. »Ich werde wohl Oswald ein paar Männer abschwatzen müssen, zumindest für den Anfang.«

»Für den Anfang? Heißt das, du willst tatsächlich nach Erfüllung dieser beiden Vereinbarungen weitere Sicherheiten anbieten?« Ungläubig sah Reinhild ihn an.

»Ich kann aus der Sache nicht mehr so einfach heraus, Reinhild. Jedenfalls nicht, ohne meinen Namen und den meiner Familie zu beschädigen. Es mag meine eigene Dummheit sein, die mich in diese Lage gebracht hat, doch andererseits liegt vermutlich die Zukunft in genau solchen Geschäften. Möglicherweise wird meine Familie früher oder später auf eine neue Einkommensquelle angewiesen sein.«

Erschrocken merkte Reinhild auf. »Wie meinst du das?«

Er hob nur die Schultern. »Mutter sagt, uns geht das Geld aus.«

»Euch?«

»Mein Vater mag mich verstoßen haben, doch ich gehöre immer noch zur Familie.«

»Und deine Familie ist deine Verpflichtung.«

Ihm wurde heiß und kalt zugleich. »Lässt sich wohl nicht ändern.«

»Das ist das erste Mal, seit ich dich kenne, dass ich solche Worte aus deinem Mund höre.«

Darauf antwortete er nicht, doch ihm ging es ganz genauso wie ihr.

Für einen langen Moment saßen sie einander nur schweigend gegenüber, bis Reinhild sich ein wenig vorbeugte und ihm einen skeptischen Blick zuwarf. »Du weißt nicht einmal, wie man ein Rechnungsbuch führt?«

Eine höchst ungewohnte Verlegenheit ergriff ihn. »Ich werde es wohl herausfinden müssen.«

Zweifel zeichneten sich noch stärker auf ihrer Miene ab. »Das ist wie in ein Gewässer zu springen, dessen Untiefen man nicht kennt.«

»Ich weiß.«

»Ohne schwimmen zu können.«

Erneut blickte er zur Decke. »Meine Unzulänglichkeiten musst du mir nicht unter die Nase reiben. Die kenne ich selbst zur Genüge.«

»Das wirst du nicht ohne Hilfe schaffen, Conlin.« Sie zögerte. »Oswald wird dir Männer zur Verfügung stellen?«

»Nachdem wir uns gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben, nehme ich an.« Abrupt erhob er sich. »Wahrscheinlich ist es besser, wenn ich das gleich hinter mich bringe.«

Reinhild folgte ihm bis zur Tür. »Bestimmt wird Palmiro dir zur Seite stehen, sobald er wieder hier ist.«

»Er hat selbst genug Probleme«, brummte Conlin, denn es missfiel ihm, auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein, selbst wenn es seine Freunde waren. »Da muss er nicht auch noch mir unter die Arme greifen.« Rasch trat er durch die Tür und löste die Zügel seines Pferdes von dem Ring, der neben der Tür an einem Pflock angebracht war.

Auch Reinhild trat in den Hof, ihre Miene besorgt verzogen. »Vielleicht solltest du ihn aber doch um Rat bitten. Immerhin ist er ja ein …«

»Frau Reinhild, kehrt rasch ins Haus zurück!« Mathys le Smithy kam von der Straße her auf sie zugeeilt und fuchtelte mit den Armen. »Rasch zurück, da zieht ein Mob den Alten Graben herauf. Stadtsoldaten und … äh, Leute. Viele Leute. Jemand wurde festgenommen. Schnell zurück ins Haus, das ist nichts für eine edle Frau.«

»Ein Mob?« Anstatt auf le Smithys Rat zu hören, hastete Reinhild bis zum Hoftor.

»Reinhild!« Kopfschüttelnd warf Conlin dem Engländer die Zügel zu und folgte ihr. »Warte! Wenn das wirklich Stadtsoldaten …« Er stockte, als er das Tor erreicht hatte, und starrte ungläubig auf die unförmige Menschenmenge, die sich vom Alten Graben her auf das Burgtor zubewegte. Mehrere Stadtwachen führten einen in Ketten gelegten Mann mit sich, der von den zusammengelaufenen Gaffern wüst beschimpft und mit Unrat aus dem Rinnstein beworfen wurde.

»Conlin …« Ohne ihn anzusehen, tastete Reinhild nach seinem Arm und drückte ihn. Ihre Miene drückte Entsetzen aus. »Ist das nicht Oswald?«