Die Aufregung steckte Konrad Keller noch in den Knochen, als er früh am nächsten Morgen aufwachte. Dass er gestern Abend mit heiler Haut davongekommen war, erschien ihm jetzt, einige Stunden danach, alles andere als selbstverständlich. Die Sache hätte auch ganz anders ausgehen können: Wenn der Angreifer durchgedreht wäre und ihn überwältigt hätte – nicht auszudenken. Oder wenn einer der schwer bewaffneten Polizisten die Nerven verloren und das Feuer eröffnet hätte. Ganz ähnliche Situationen hatte Keller ja schon erlebt, damals in seinem Job. Als er noch zur berufstätigen Bevölkerung gezählt hatte.
Er schlug die Bettdecke zurück, stand auf und schlurfte durch den schmalen Gang, der seine Schlafkoje von der Kabine trennte, die Wohnzimmer und Küche zugleich war. Dort öffnete er die Luke, um frische Luft hereinzulassen. Sie brachte die feuchte Kühle des Kanals mit sich.
Damals in seinem Job …
Ohne Frage war der gestrige Vorfall eine schlimme Erfahrung gewesen, Keller konnte und wollte das nicht beschönigen. Auf der anderen Seite hatte ihn die unerwartete Attacke aus seiner Lethargie gerissen. So hellwach und aufmerksam wie in den wenigen Minuten, die Karim Abdelaziz bei seinem Fluchtversuch auf dem Boot gewesen war, hatte er sich seit Monaten nicht mehr gefühlt. Trotz seines beschleunigten Herzschlags hatte er in der brenzligen Situation einen kühlen Kopf bewahrt und entsprechend gehandelt. All das erinnerte ihn an seine aktiven Jahre, an die Zeit als Kriminalhauptkommissar. Er musste sich eingestehen, dass er sich zwar auf die Rente gefreut hatte, um gemeinsam mit Helga endlich ausgiebig auf Reisen gehen zu können, seinen Beruf jedoch immer noch schmerzlich vermisste.
Lag es am Verlust seiner Helga, dass ihn ein Zusammenprall mit einem Verbrecher eher an- als aufregte? Oder hatte das Gespräch mit der bemerkenswerten Madame le commissaire seine Leidenschaft für die Polizeiarbeit neu entfacht?
Wie auch immer. Was nutzte es, wenn er sich den Kopf über etwas zerbrach, das unumstößlich war? Keller hatte das Rentenalter erreicht – eine Rückkehr in seinen alten Beruf würde es nie mehr geben. Also schüttelte er diese überflüssigen Gedanken ab, machte sich in der schmalen Nasszelle seines Bootes frisch und brach zu einem frühmorgendlichen Ausflug auf.
Wie er von seinem ersten Tag in dieser faszinierenden Stadt bereits wusste, hatte Carcassonne weit mehr zu bieten als die bekannte Wehranlage der Cité. Am Fuße des Festungshügels breitete sich die – deutlich jüngere – Unterstadt aus, großflächiger gebaut, aber mit mindestens ebenso viel Charme. Hier spielte sich das eigentliche Stadtleben ab; Touristen mischten sich unter Einheimische, die ihren normalen Alltagsgeschäften nachgingen. In den Straßencafés saßen nicht nur Shorts tragende Urlauber, sondern auch Geschäftsleute im Anzug oder Jugendliche aus dem Ort, die eine Orangina im Freien wohl dem Mathepauken im Klassenzimmer vorzogen.
Keller hatte Glück: Eigentlich wollte er sich am zentral gelegenen Place Carnot nur ein Bistro suchen, in dem er frühstücken konnte. Doch als er eintraf, bemerkte er, dass heute Markttag war. Die weite Fläche des Platzes, der von pastellfarbenen Häusern umrahmt wurde, stand voll mit diversen Verkaufswagen, von gestreiften Markisen beschatteten Ständen und hellen Zelten, in denen Händler ihre Waren anpriesen. Zu dieser frühen Stunde waren kaum Touristen unterwegs, die Einheimischen konnten ungestört ihre Einkäufe erledigen – und dabei wahrscheinlich den einen oder anderen Euro sparen. Denn wie Keller gehört hatte, setzte manch ein Anbieter seine Preise nach oben, sobald er die Urlauber in der Überzahl wähnte.
Wie für südfranzösische Märkte üblich, gab es auch hier eine Unterteilung in verschiedene Sparten. Da war die Reihe der Obst- und Gemüseverkäufer, die mit Qualität und Frische ihrer Salatköpfe, Karottenbündel und Tomatenstränge die Konkurrenz auszustechen suchten. In der Schlemmermeile daneben rotierten schon am Morgen Hähnchen am Grill, und Auberginenaufläufe wetteiferten mit Fischen und Schalentieren. Und dann gab es noch die herrlich opulenten Käsetheken, an denen Keller nur schwer vorbeigehen konnte, ohne nicht mindestens ein Probierhäppchen entgegenzunehmen. Das Angebot an regionalen Produkten aus dem Languedoc-Roussillon mit seinen Weinen, den Aprikosen aus Gard und dem Honig aus den Cevennen ließ keinen Wunsch offen.
Ein paar Schritte weiter begann das Reich der Textilhändler, ein buntes Völkchen mit einem ebenso bunten Angebot von der Jogginghose bis zum Abendkleid. Keller hatte an einem solchen Stand neulich erst einen Satz T-Shirts zum Schnäppchenpreis erstanden. Leider waren sie nach der ersten Wäsche auf Kindergröße geschrumpft. Aber das musste nichts heißen; wenn man genau hinschaute, fand man auch Qualitätswaren. Espadrilles, Schmuck, Strandtaschen und Sonnenbrillen – die Auswahl war schier grenzenlos. Und dann war da noch der farbenprächtigste Teil des Marktes: Der Marché aux Fleurs bot eine kunterbunte Mischung aus Sonnenblumen, Lilien, Rosen und anderen Blumen – begehrte Fotomotive für Städtebummler. An solchen Ständen war Helga niemals vorbeigegangen, ohne einen Strauß mitzunehmen, als Tischdeko für den VW-Bus, mit dem sie viele Male unterwegs gewesen waren.
Nach dem ausgiebigen Rundgang über den Markt besann sich Keller auf sein eigentliches Vorhaben: das Frühstück. Er fand einen schönen Platz auf der Terrasse des Café Chez Félix, von wo aus er einen guten Blick auf das muntere Treiben auf dem Place Carnot hatte. Im Halbschatten ausladender Platanen genoss er die milde Morgenluft.
Keller schloss das Lokal spontan ins Herz. Der etwas antiquierte Charme der Einrichtung sagte ihm ebenso zu wie das Auftreten der Kellner, ganz klassisch mit schwarzen Hosen und weißen Hemden. Eine solche Uniform trug auch die Serviererin, die für seinen Tisch zuständig war: ein langbeiniges Geschöpf mit einem Wust dunkler Haare. Emsig eilte sie von einem Gast zum nächsten und strahlte dabei eine unerschütterliche Gelassenheit aus. Als sie seine Bestellung mit charmantem Lächeln aufnahm, musste er an seine Tochter Sophie denken.
Während Keller auf sein petit déjeuner, schwarzer Kaffee und ein Croissant, wartete, widmete er sich der Zeitung Midi Libre, die er sich am Hafenkiosk gekauft hatte. Es handelte sich um das lokale Provinzblatt, denn Keller zog es vor, stets die Gazetten aus der Gegend zu lesen, in der er sich gerade aufhielt. Das diente einerseits der Pflege seiner Sprachkenntnisse, er wusste aber auch gern Bescheid, was um ihn herum vorging. Heute interessierte ihn die Zeitung besonders, denn er rechnete mit einem Bericht über die Ereignisse des gestrigen Abends. Wie vermutet wurde er auf der ersten Seite des Lokalteils fündig, wo in einem mehrspaltigen Artikel über den Dreifachmord im Hause La Croix sowie die erfolgreiche Festnahme von Karim Abdelaziz berichtet wurde, der in der Zeitung feigenblattartig als Karim A. abgekürzt wurde.
Aus dem Text erfuhr Keller, dass es sich bei dem hinterbliebenen Ehemann und Vater, einem gewissen Richard La Croix, um eine bekannte Persönlichkeit handelte. La Croix war nicht nur Geschäftsführer des gleichnamigen Familienbetriebs, eines gut gehenden Zulieferers für die Autobranche, sondern auch aufstrebender Politiker mit großen Ambitionen. La Croix gehörte der Partei La France d’abord! an, von der Keller bereits gehört hatte und die seiner Kenntnis nach als ultrakonservativ galt. Das abgebildete Foto zeigte einen gut aussehenden Herrn Ende vierzig, mit entschlossenem Blick, korrekt gescheiteltem dunklem Haar und tadellos sitzender Krawatte.
Während Keller über dem Artikel brütete und sich fragte, ob sich der Verdacht gegen Karim Abdelaziz wohl inzwischen erhärtet hatte, servierte die freundliche Kellnerin ihm das Frühstück.
»Merci bien«, bedankte er sich, wobei er ihr Lächeln erwiderte.
»Wenn die Frage erlaubt ist: Woher kommen Sie?«, erkundigte sich die Kellnerin mit heller Stimme und neigte neugierig den Kopf.
»Oh, ich komme aus …«, setzte Keller zu einer Antwort an, wurde jedoch unterbrochen.
»Warten Sie!«, rief die junge Frau und führte den Zeigefinger zum Mund. »Lassen Sie mich bitte raten. Ich bin gut darin. Liege fast immer richtig.«
Keller ließ sich bereitwillig auf den Spaß ein, zumal gerade kein anderer Gast nach der Bedienung verlangte. »Also gut. Raten Sie!«, sagte er auf Französisch, wobei er sich bemühte, seinen deutschen Akzent zu unterdrücken. Vergebens.
»Deutschland!«, tippte die Dame und traf auf Anhieb ins Schwarze.
»Stimmt! Wodurch habe ich mich verraten? Ich spreche Ihre Sprache, lese eine französische Zeitung und trage weder Seppelhut noch Lederhosen. Was mache ich falsch?«
»Sie machen gar nichts falsch«, entgegnete sie kichernd. »Es ist ganz einfach Ihre Art.«
»Meine was?«
»Wie Sie sich bewegen, Ihr Ausdruck, eben die Art. Die Deutschen sind meistens etwas – nun ja.«
»Nur zu: Was sind wir?«
»Etwas steif«, rückte sie mit ihrer Meinung heraus, um sogleich nachzuschieben: »Aber das ist völlig in Ordnung. Dafür sind die Niederländer etwas laut, die Engländer verraten sich durch den Sonnenbrand und die Pariser durch ihre Hochnäsigkeit.«
»Wie schön, dass Sie auch unter Einheimischen Unterschiede ausmachen.«
»Na klar, ich erkenne auch einen Bretonen, wenn er vor mir steht.« Sie beugte sich tiefer und sagte: »Und über Sie weiß ich sogar noch mehr.«
»Offenbar bin ich für Sie ein offenes Buch.«
»Sie sind Bootstourist!«
Keller lachte. »Um das zu erraten, braucht man keine hellseherischen Fähigkeiten. Ich nehme an, dass jeder dritte Gast auf Ihrer Terrasse mit dem Hausboot unterwegs ist.«
»Ganz so viele sind es nicht. Viele kommen mit dem Flugzeug, dem Auto oder im Reisebus. Aber trotzdem bin ich mir bei Ihnen sicher.«
»Weil ich ganz dem Typ eines grimmigen Seebären entspreche?«
Erneut kicherte die Kellnerin. »Sie? Ganz gewiss nicht. Nein, es liegt mehr daran …« Lachend lüftete sie das Geheimnis, indem sie die Wasserstraßenkarte hervorzog, die halb unter Kellers Zeitung lag. »Planen Sie Ihre weitere Tour? Wohin soll es denn als Nächstes gehen?«
»Kanalabwärts«, antwortete Keller. »Wann ich wo sein werde, weiß ich noch nicht. Das ist ja das Schöne am Bootfahren: Man kann sich einfach treiben lassen. Wenn ich durch einen besonders hübschen Landstrich komme und spontan anlegen möchte – kein Problem! An Bord sind Hammer und Pflöcke, sodass ich festmachen kann, wo immer ich möchte. Auch ohne Hafen, in freier Natur. Mein Name ist übrigens Keller. Konrad Keller.«
»Konrad? Ein schöner Name. Dann nenne ich Sie Monsieur Konrad, d’accord?« In die Leichtigkeit ihres Gesprächs mischte sich eine ernste Note, als sie anmerkte: »Sie sind allein unterwegs, ja?«
Keller nickte, ohne sich weiter zu erklären.
»Und Sie kommen klar?«
»Komisch, dass ich das immer wieder gefragt werde. Falls Sie auf eine ausgewogene Ernährung abzielen sollten, lautet die Antwort eindeutig: Ja«, sagte er augenzwinkernd. »Ich verfüge über eine voll ausgestattete Kombüse mit Gasherd, Ofen, Kühlschrank, Töpfen, Pfanne und Geschirr. Und meine Zutaten besorge ich mir frisch und landestypisch auf dem Markt oder in Geschäften entlang meiner Route.«
Die Kellnerin setzte zu einer weiteren Frage an, doch eine Dame mit Hund, die zwei Tische weiter Platz genommen hatte, winkte nach ihr.
Mit entschuldigender Geste beendete die junge Frau die nette Plauderei. Keller ließ sie ziehen und griff zu dem ofenwarmen Croissant, dessen betörender Duft ihm schon die ganze Zeit in die Nase gestiegen war. Gerade wollte er hineinbeißen, als sich sein Handy meldete. Keller rückte seine Gleitsichtbrille zurecht, um die angezeigte Nummer ablesen zu können: Burkhard, sein Zweitgeborener. Keller wunderte sich ein wenig über diesen Anruf, denn um diese Uhrzeit war Burkhard gewöhnlich viel zu beschäftigt, um mit seinem alten Vater zu telefonieren.
»Sind dir die Patienten ausgegangen?«, neckte Keller seinen Sohn.
»Ganz im Gegenteil!«, meldete sich der Junior mit warmer Brummbärenstimme. »Vorm Sprechzimmer warten zwei Kaninchen, drei Hunde, eine Katze und sogar ein Leguan. Nicht zu vergessen ein asthmatischer Wellensittich. Rushhour!«
»Dann erstaunt es mich umso mehr, dass du mich anrufst. Was kannst du für den Sittich tun?«
»Im Zweifelsfall stecke ich ihn ins Sauerstoffzelt.«
»So was gibt es für Vögel? Ist das nicht etwas aufwendig und übertrieben?«
»Für das Tierwohl ist den Herrchen und Frauchen nichts zu aufwendig.«
»Und nichts zu teuer.«
»Nun ja, ich kann nicht klagen.«
Nach einigem Geplänkel über Burkhards Tierarztpraxis kam sein Sohn auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen. Wie es dem Vater gehe, wollte er wissen, ob seine Reise nach Plan verlaufe und er gut auf sich achte.
Bei der letzten Frage kam der Mediziner in ihm durch, dachte sich Keller schmunzelnd und antwortete brav: »Meine Kombüse ist gefüllt, inklusive reichlich Vitaminen in Form von Obst. Besonders die Honigmelonen haben es mir angetan: ein Aroma vom Feinsten. Und als Skipper bin ich unschlagbar. Ich beherrsche inzwischen sogar die gängigen Seemannsknoten.«
»Das freut mich zu hören. Ich hoffe, bei den Melonen handelt es sich nicht um Supermarktware. Denn das wäre eine Sünde bei dem frischen Angebot, das es auf den Märkten in Südfrankreich gibt.«
»Solange ich hier bin, habe ich noch keinen Fuß in einen supermarché gesetzt – obwohl auch diese ausgezeichnete Qualität bieten.«
»Abgesehen vom Obst, was kommt sonst auf deinen Teller? Würdigst du die lokalen Spezialitäten? Saucisse de Toulouse, diese köstliche Bratwurst, oder Poulet basquaise, Hähnchenkeule mit Estragon und viel Knoblauch. Schon probiert? Was würde ich dafür geben, jetzt bei dir sein zu können!«
»Du scheinst dich ja ausgiebig mit meinem Urlaubsland befasst zu haben.«
»Zumindest mit den lukullischen Aspekten. Du weißt ja, dass das mein großes Hobby ist.«
»Ja, wenn du nicht in deiner Praxis stehst, dann am Herd oder vorm Grill«, meinte Keller und hatte seinen gut genährten Sohn dabei bildlich vor Augen. »Wie dem auch sei, ich lasse es gemütlich angehen und habe immer einen vollen Magen. Alles in allem geht es mir gut.«
»Aber?« Burkhards kurze Nachfrage verriet Keller, dass sein Sohn ihn durchschaut hatte. Er schien es im Gespür zu haben, dass Konrad Keller sich nicht darauf beschränkte, den lieben langen Tag über Frankreichs schönste Wasserstraße zu schippern. »Da ist doch noch mehr. Die ersten Tage hast du jeden Abend eine Nachricht geschickt – seit gestern herrscht Funkstille.«
»Na und? Du hast dich früher bei Klassenfahrten auch nicht regelmäßig bei uns gemeldet.«
»Inge meint jedenfalls, dass da was faul ist. Und dass ich besser mal bei dir anrufen sollte.«
»Was deine Frau nur immer denkt …«
»Also hat sie recht!«
Keller stieß einen tiefen Seufzer aus. Gegen den Instinkt seiner Schwiegertochter kam er nicht an. Und so erzählte er Burkhard, was am Abend zuvor vorgefallen war, woraufhin erst einmal Schweigen herrschte.
»Burkhard, bist du noch dran?«, erkundigte sich Keller.
»Ja«, kam es knapp durch den Hörer. »Es war abzusehen, dass du wieder einmal in irgendetwas Kriminelles verwickelt bist, Paps.«
»Was soll das denn heißen?«
»Genau das, was ich gesagt habe«, antwortete Burkhard mit strengem Unterton.
»Na, hör mal! Ich bin in gar nichts verwickelt. Da ist ein fremder Kerl auf mein Boot gesprungen, und ich habe etwas nachgeholfen, damit er nicht weiterkommt. Das war alles.«
»Ich hoffe, du lässt diese Sache damit auf sich beruhen.«
»Eigentlich hatte ich das vor. Andererseits interessiert es mich, wie sich diese Sache, wie du sie nennst, weiterentwickelt. Zumal es aus meiner Sicht einige Ungereimtheiten gibt.«
»Was für Ungereimtheiten?«, fragte Burkhard leicht gereizt.
»Wenn ich das richtig sehe, handelt es sich im Grunde genommen um einen Einbruch. Doch der klassische Einbrecher ist normalerweise kein Gewaltverbrecher, sondern haut ab, wenn er erwischt wird. Ein Dreifachmord passt da nicht ins Bild.«
»Kann ja sein, aber das hat dich nicht zu interessieren. Dafür ist die französische Polizei zuständig, und du bist in Rente.«
»Auch ein Pensionär darf sich so seine Gedanken machen, oder? Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass dieser Fall nicht ganz so glasklar ist, wie es die zuständige Kommissarin gern hätte.«
Burkhard legte ihm erneut nahe, sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen und sich rauszuhalten. »Vergiss es, Paps. Kümmere dich nicht darum, und genieß stattdessen deinen Urlaub.«
»Das tue ich bereits. Ich sitze in einem wunderschönen Café mit lauter entspannten Leuten um mich herum und habe einen tollen Blick auf den Marktplatz. Trotzdem kann ich nicht ausschließen, dass man von offizieller Seite noch einmal auf mich zukommen wird. Immerhin war es mein Schiff, auf das Karim sich geflüchtet hat«, gab Keller zu bedenken.
»Es ist nicht dein Schiff, sondern ein gemietetes Boot. Wie du gerade selbst gesagt hast, war es Zufall, dass der Mann bei dir gelandet ist. Du musst dich zu nichts verpflichtet fühlen. Deine Aussage hast du doch schon zu Protokoll gegeben, also bist du aus dem Schneider. Außerdem …«
»Außerdem was?«
»Außerdem bist du für solche Dinge einfach zu alt.«
Keller zuckte zusammen, diese Feststellung seines Sohnes hatte ihn getroffen. Da war es wieder: das bittere Gefühl, zum alten Eisen zu gehören. Nicht mehr gebraucht zu werden. Seit dem Tag seiner Pensionierung hatte Keller damit zu kämpfen, und sämtliche Freuden eines pflichtbefreiten Rentnerlebens konnten ihn nicht über seine plötzliche Bedeutungslosigkeit hinwegtrösten.
Seine Stimmung war entsprechend gedrückt, als er das Frühstück beendete und überlegte, wie er den Rest des Tages verbringen sollte. Bisher hatte er nur wenig von der Stadt gesehen und bloß oberflächliche Eindrücke gesammelt. Über Mittag, wenn die Sonne im Zenit stand und die Luft in der Hitze flirrte, wäre ein Museumsbesuch angeraten. Er hatte sich bereits erkundigt: Es gab eine Mittelalterschau, eine Militärausstellung und das Musée des Beaux-Arts, das ganz den schönen Künsten gewidmet war.
Helga hätte nicht lange überlegen müssen und sich für das Kunstmuseum entschieden, aber ohne sie tendierte Keller eher zum Mittelalter. Doch ihm fehlte ganz einfach der Elan. Er verspürte wenig Lust, sich aufzuraffen und noch einmal den Hügel zur Cité hinaufzusteigen, wo die Ausstellung untergebracht war.
Unschlüssig, wie er momentan war, ließ er sich in dem Menschenstrom treiben, der ihn erneut ins Getümmel des Marktplatzes zog. Mittlerweile hatte sich das Bild komplett verändert. Touristen aus aller Herren Länder drängten sich in den engen Gängen zwischen den Verkaufswagen. Auch der Geräuschpegel war enorm. Keller fing Gesprächsfetzen in Englisch, Niederländisch, Spanisch und Deutsch auf, aber kaum noch Französisch.
Er schwamm im Strom der Urlauber bis zur Schlemmermeile, als ihm die Idee kam, sich Zutaten für sein Mittagessen zu besorgen. Worauf hatte er Appetit? Leicht sollte es sein, leicht und bekömmlich. Vielleicht ein Salat, zu dem er sich eine Handvoll Shrimps braten würde. Oder frischer Fisch? In Wein gedünstet mit ein paar Kräutern, das ging immer. Inzwischen beherrschte er die Zubereitung solcher einfachen Speisen recht gut. Jahrzehntelang hatte er Helga beim Kochen über die Schulter geguckt und höchstens mal beim Kartoffelschälen geholfen. Trotzdem hatte er gelernt, welche Tricks und Kniffe nötig waren, um aus gewöhnlichen Zutaten einen Gaumenschmaus zu kreieren, denn Helga hatte ihm bereitwillig immer wieder erklärt, was bei einem Rezept zu beachten war und was man tunlichst unterlassen sollte. Vielleicht hatte sie sein Interesse am Kochen ganz bewusst gefördert, weil sie in den letzten Monaten ihren viel zu frühen Tod geahnt hatte und ihn gut versorgt wissen wollte?
Dieser Gedanke machte Keller noch trübseliger. Er bemühte sich, die Mundwinkel nicht hängen zu lassen, und richtete die Aufmerksamkeit auf seine Umgebung, um sich von der guten Laune der Marktbesucher anstecken zu lassen. Vor ihm in der Schlange am Fischstand unterhielt sich eine – dem Klang nach – schwäbische Familie mit zwei heublonden Kindern darüber, ob die im Eisbett ausgelegten Doraden, Meerbarben und Seehechte denn wirklich echt seien und nicht aus Plastik. Und wie grauslich die großen Hummer und Langusten aussähen! »Igitt! Die leben ja noch!«, rief eines der Kinder entsetzt.
Dies entlockte Keller immerhin ein Schmunzeln, und er überlegte, für was er sich entscheiden sollte. Das war nicht einfach. Der Étang de Thau beherbergte die weitläufigsten Austernbänke der Welt, und über die Fischereihäfen war fangfrisch alles verfügbar, was das Mittelmeer zu bieten hatte. Auf Märkten wie diesem wurde der Fisch in einer Güte angeboten, wie es in Deutschland abseits von Nord- und Ostsee nicht möglich war – und gerade dieses enorme Angebot machte für Keller die Entscheidung nicht leicht.
Während er noch überlegte, sah er, wie eines der beiden Kinder in die Handtasche der Mutter fasste und, von dieser unbemerkt, eine kleine Kamera herausholte. Das Mädchen wollte offenbar ein Foto von den Hummern machen, stellte sich jedoch so ungeschickt an, dass der Fotoapparat auf den Boden fiel. Die Mutter fuhr erschrocken herum und sah ihre beiden Kinder vorwurfsvoll an. Ihr Verdacht fiel auf den Jungen, doch der wedelte aufgeregt mit den Armen und schrie: »Das war ich nicht! Ich bin es nicht gewesen!« Die Mutter hob die Kamera auf und stellte fest, dass sie den Sturz heil überstanden hatte, womit die Sache für sie erledigt war.
Nicht aber für Keller, denn diese kurze Episode – so unbedeutend sie für die Beteiligten gewesen sein mochte – hatte erneut die Erinnerung an das gestrige Geschehen in ihm wachgerufen. Ihm fiel ein, was Karim Abdelaziz ihm zugerufen hatte. Es waren fast die gleichen Worte gewesen, wie sie der Junge soeben verwendet hatte – und der war tatsächlich unschuldig.
Das gab Keller zu denken und stachelte gleichzeitig seinen Ehrgeiz an. Sein Mittagessen war ihm plötzlich gleichgültig. Er verließ die Warteschlange und beschloss, die Warnung seines Sohnes in den Wind zu schlagen. Statt darauf zu warten, ob sich die Polizei noch einmal bei ihm meldete, wollte er das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen. Als Erstes würde er Madame le commissaire aufsuchen, um sie persönlich nach dem Stand der Dinge zu fragen.
Er hatte den Entschluss gerade gefasst, als er noch einmal an dem netten Frühstückscafé vorbeikam und die freundliche Kellnerin erblickte. Spontan ging er auf sie zu und erkundigte sich bei ihr nach der Adresse der Police nationale.
Die sympathische junge Frau erklärte ihm etwas umständlich, dass seine Frage nicht so einfach zu beantworten sei: »L’hôtel de police de Carcassonne liegt in der Stadtmitte zwischen der Brasserie A 4 Temps und la cathédrale Saint-Michel.«
»Prima, das sind ja nur ein paar Minuten von hier.«
»Ja und nein. Dort wird nämlich gerade renoviert. Deshalb wurde die Polizei vorübergehend in einen Vorort umquartiert.«
»Auch recht. Wie komme ich dort hin?«
»Es ist außerhalb, zu Fuß schaffen Sie das nicht. Und öffentlich ist es schwer zu erreichen, zumal heute die Busfahrer streiken. Sie könnten natürlich ein Taxi nehmen, wobei es leicht passieren kann, dass man Sie übers Ohr haut.« Die Bedienung sah ihn mit bedauernder Miene an, während sie nach einer Lösung für ihren Gast suchte.
Dann hellten sich ihre Züge auf. »Wie wäre es mit einem Mietwagen? Mit dem können Sie sich auch gleich das Umland ansehen. Es ist wunderschön!« Sie griff in ihre Serviertasche und reichte ihm die Karte eines Autovermieters. »Ein Freund von mir«, erklärte sie, »sein Büro liegt nur zwei Straßen von hier entfernt. Sie können es gar nicht verfehlen.«
Keller wendete die Karte in seiner Hand. »Meinen Sie, dass das eine gute Idee ist?«
»Unbedingt!«, versicherte die Kellnerin mit leuchtenden Augen. »Sagen Sie, Yvette hat Sie geschickt, dann macht Ihnen Joey einen Sonderpreis.«