Auf ein Frühstück in der Kühle des Morgens verzichtete er, stattdessen suchte er erneut den freundlichen Autovermieter auf, den Kellnerin Yvette ihm empfohlen hatte. Der Laden war eigentlich noch geschlossen, doch als der Angestellte Kellers charakteristisches Profil mit Kahlkopf und markanter Brille am Schaufenster erkannte, sperrte er für ihn auf.
»Sie sind noch nicht abgereist? Wie schön!« Die Freude des jungen Mannes in Bluejeans und ausgewaschenem T-Shirt wirkte echt. »Was darf es denn sein? Wieder ein Kleinwagen? Gute Wahl, damit kommen Sie in jede Parklücke. Ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis. Einen noch besseren diesmal!« Keller bekam die Schlüssel für einen Renault Clio in die Hand gedrückt. »Nehmen Sie den Wagen, und behalten Sie ihn, solange Sie wollen. Das mit der Abrechnung hat keine Eile. Freunde von Yvette bekommen von mir immer einen Bonus.«
Keller zeigte sich für die Zuvorkommenheit erkenntlich, indem er dem netten Kerl einen Zehneuroschein in die Hand drückte. Er setzte sich hinters Steuer des lindgrünen Mietautos und wollte den Zündschlüssel drehen, als er merkte, wie sein Handy in der Hosentasche vibrierte.
Keller las die Nummer ab und war wenig angetan. »Was, du schon wieder? Du entwickelst dich zu einer richtigen Landplage. Hast du wohl ein neues Rezept für mich?«
Sein Sohn Burkhard sprang sofort darauf an: »Etwas Superschnelles und Supereinfaches: Pizza à la française.«
»Ist das nicht eher Italienisch?«
»International und gerade in warmen Gegenden genau das Richtige, zum Beispiel als leichte Mittagskost: Für den Teig brauchst du bloß Wasser, Salz, Mehl und Hefe. Du belegst ihn mit Ringen aus süßen Zwiebeln, Sardellenfilets und in Scheiben geschnittenem Ziegenkäse. Dann träufelst du einige Tropfen Olivenöl darüber. Etwas Origano dazu, und ab damit in den Ofen. Ein Gedicht!«
»Klingt lecker. Aber erzähl mir nicht, dass das der wahre Grund deines Anrufs ist. Schon gar nicht so früh am Vormittag.«
»Na ja«, druckste Burkhard herum. »Wollte nur lauschen, ob ich im Hintergrund deinen Schiffsmotor hören kann. Hast du abgelegt, wie wir es vereinbart haben?«
Als Keller das hörte, reagierte er verärgert: »Damit das klar ist, wir haben gar nichts vereinbart.« Er machte deutlich, dass ihm das Drängen seines Sohnes allmählich auf die Nerven ging. Dann sagte er: Ja, er werde seine Reise in Kürze fortsetzen. Vorher habe er aber noch etwas zu erledigen. Nähere Details nannte er nicht, denn er sah keine Veranlassung dafür.
Doch Burkhard durchschaute ihn sofort. »Ich kann mir gut vorstellen, worum es sich dabei handelt. Dir ist bewusst, wie unvernünftig das ist, oder? Warum tust du das, weshalb lässt du nicht die Finger davon?«
Keller stöhnte auf. »Ich dachte, das hätte ich hinlänglich erklärt. Mir geht es um die Aufklärung eines Mordfalls.«
Auch Burkhard gab ein Stöhnen von sich. »Ich verstehe dich nicht, Paps. Mal mischst du mit, dann wieder nicht. Hast du nicht gerade erst erzählt, dass du dich von der Kommissarin verabschiedet und die Sache hinter dir gelassen hast? Und jetzt soll das schon wieder nicht mehr gelten?«
Das konnte Keller nicht von der Hand weisen. »Ich gebe zu, dass ich meine neue Rolle noch nicht gefunden habe«, sagte er nachdenklich.
»Sprichst du von deiner Rolle als Ruheständler?«
»Richtig. Ich kann mich nicht damit abfinden, einfach nur in den Tag hinein zu leben und so zu tun, als würden mich die Geschehnisse um mich herum nichts angehen.«
»Aber diese Morde gehen dich nichts an. Das ist Fakt.«
»Fakt ist auch, dass ich womöglich dazu beigetragen habe, einen Unschuldigen hinter Gitter zu bringen. Ich muss zumindest versuchen, das wiedergutzumachen.«
»Klingt sozial, aber du bist kein Robin Hood und kannst nicht die Probleme anderer Leute lösen, schon gar nicht in einem fremden Land. Und, ich wiederhole, es ist auch nicht deine Aufgabe.«
»Nicht meine Aufgabe …«, sinnierte Keller. »Damit wären wir wieder beim Thema: Welche Aufgaben habe ich denn sonst?«
»Deinen Ruhestand genießen, auf deine Gesundheit achten, Stress vermeiden.«
»Hört sich nicht so an, als könnte man damit den Tag ausfüllen.«
»Ich kenne viele, die liebend gern mit dir tauschen würden. Einen Gang herunterschalten, alles etwas langsamer angehen lassen – ist es nicht genau das, was einen Hausbooturlaub ausmacht? Mit Schneckentempo über den Kanal tuckern, links und rechts die Sonnenblumenfelder und Weinberge des Languedoc an sich vorbeiziehen lassen …«
»Ja, es ist schön hier, Burkhard. Das brauchst du mir nicht zu sagen, denn ich habe es selbst vor Augen.«
»Dennoch befasst du dich lieber mit Mord und Totschlag.«
»Wir drehen uns im Kreis. Ich habe dir meine Gründe genannt.«
»Ja, aber das ist doch längst nicht alles, Paps, und das weißt du ganz genau. Du bist auf der Flucht. Auf der Flucht vor der Trauer um Mama und vor der Einsamkeit.«
Nun riss Keller der Geduldsfaden. »Mein lieber Sohnemann, wenn mich nicht alles täuscht, haben deine Mutter und ich dich Tiermedizin studieren lassen und nicht Seelenkunde. Spar dir also bitte die Versuche einer Psychoanalyse, denn das geht daneben.«
»Um zu erkennen, was mit dir los ist, brauche ich kein Studium. Sophie, Jochen und ich wissen, wie sehr du Helga vermisst. Uns geht es doch genauso.«
Keller spürte ein Ziehen im Brustkorb, Burkhard hatte den wunden Punkt getroffen. Diese Reise, sein Interesse am Mordfall La Croix, seine Versuche, sich vor Madame le commissaire zu beweisen – diente all das wirklich bloß dazu, ihn auf andere Gedanken zu bringen, um sich nicht in Selbstmitleid zu verlieren? Wahrscheinlich ja. Denn Keller wusste, sobald er sich der Untätigkeit hingäbe, würde der Schmerz des Verlusts ihn überwältigen.
Doch so weit durfte es nicht kommen. Lieber würde er den Unmut seiner Kinder in Kauf nehmen und weiterhin das tun, was er für richtig hielt.
Abrupt wechselte er das Thema: »Wie war das noch mal mit dem Teig?«
»Teig?«
»Der für die Pizza. Was gehört da rein?«