Kellers Renault rollte durch die erwachende Stadt. Fensterläden wurden aufgeklappt, Menschen traten vor ihre Häuser. Auf den Balkonen der mehrstöckigen Wohnblocks erschienen Raucher in Unterhemden oder ausgewaschenen T-Shirts und sogen gierig an ihren Zigaretten. Die Tristesse der grauen Betonklötze, die das Ozanam-Viertel dominierten, wurde durch Graffiti durchbrochen, die allgegenwärtig waren wie der Schrott an vielen Straßenecken. Aus dem Wagenfenster sah Keller vom Rost zerfressene Autowracks, Fahrräder ohne Reifen, Sofas mit herausgesprungenen Federn.
Es kam ihm durchaus gelegen, dass sein Mietwagen nicht mehr ganz neu war, denn mit der Sicherheit schien es in dieser Gegend wirklich nicht zum Besten zu stehen. Trotz der guten Erfahrungen, die er bei seinem letzten Besuch hier gesammelt hatte, blieb er auf der Hut.
Er fand einen Parkplatz nahe der gesuchten Adresse, gut sichtbar an der Hauptstraße, wo niemand sich ungesehen an dem Clio zu schaffen machen konnte. Der Obstladen war leicht zu erkennen, unter einer tief heruntergelassenen weinroten Markise türmten sich Südfrüchte aller Art. Daneben standen prall gefüllte Kisten mit Auberginen, Zucchini, Strauchtomaten und Paprika. Außerdem gab es Nüsse und Süßwaren wie daumendicke Riegel türkischen Honigs. Die Ware sah frisch und einladend aus. Keller, der immer noch nichts gegessen hatte, war versucht, sich zu bedienen.
Er wollte den Laden betreten, da wurde er auf ein abgestelltes Auto aufmerksam und stutzte: ein blauer Renault-Kastenwagen, die gleiche Marke und Farbe wie der Wagen, den er in der Nähe des La-Croix-Anwesens gesehen und dann hier im Viertel aus den Augen verloren hatte! Keller legte die Handkanten auf die Scheibe und spähte hinein. Im Laderaum standen Gemüsekisten und Paletten. Gehörte das Auto also dem Obsthändler? Sehr wahrscheinlich ja, schlussfolgerte Keller und sah sich in seiner Theorie bestätigt.
Nun betrat er den Laden und stand in einem winzigen, nahezu quadratischen Verkaufsraum, in dem Regale und Auslagen so eng beieinanderstanden, dass ein übergewichtiger Kunde kaum hindurchgepasst hätte. Es roch nach orientalischen Gewürzen wie Kardamom, Muskat und Curry. Hinter einer gläsernen Theke, in der Käselaibe diverser Größen und Formen lagerten, stand ein untersetzter Mann im weißen Kittel. Sein lichtes schwarzes Haar hatte er streng zurückgekämmt, das rundliche Gesicht zierte ein kräftiger Schnauzbart. War dies der Mann, der die Villa beschattet hatte? Keller bemühte sich, die Erinnerung an den Fahrer heraufzubeschwören, war sich jedoch nicht sicher. Der Ladenbesitzer taxierte Keller sekundenschnell, wunderte sich wahrscheinlich über den untypischen Kunden, lächelte ihm dann jedoch höflich zu.
Keller war aufgefallen, dass die Ware in den Regalen ausschließlich mit arabischen Artikelbezeichnungen versehen war, dennoch sprach ihn der Gemüsehändler auf Französisch an. Er erkundigte sich, womit er Keller dienen könne, und kam emsig hinter seinem Tresen hervor. Dann begann er, den unbekannten Kunden zu umgarnen, er pries seine Ware an wie auf einem Basar. Da er offenbar meinte, einen Touristen auf Abwegen vor sich zu haben, dessen Portemonnaie locker saß, dirigierte er ihn zu einer Spezialitätenecke, wo er Keller ansprechend hergerichtete Feinkost schmackhaft zu machen versuchte. Es gab gefüllte Peperoni, eingelegte Oliven mit Knoblauch, groß wie Haselnusssplitter, und üppige Portionen Couscous, wahlweise mit Hühnchen, Meeresfrüchten oder vegetarisch.
»Unsere Spezialität ist Tapenade mit Anchovis und Kapern, die wir mit Kräutern der Provence würzen. Dazu Zitronensaft und ein Schuss Weinbrand«, erklärte der Händler eifrig, bestrich ein Stück Weißbrot damit und reichte es Keller zum Probieren.
Keller nahm dankend an, kostete und nickte zustimmend. »Très bien«, lobte er und bat darum, eine Portion für ihn abzufüllen.
»Versuchen Sie auch unser Aioli, das darf in keiner südfranzösischen Küche fehlen. Eigentlich heißt es ›Allioli‹, das ist Okzitanisch und bedeutet Knoblauch mit Öl. Neben dem Knoblauch und dem Öl kommen aber auch Peperonispitzen, Eigelb und Zitronensaft dazu. Die Creme passt hervorragend als Beilage zu Fleisch- oder Fischgerichten, man kann aber auch ganz einfach das Baguette hineindippen.«
Keller kostete und staunte über die Geschmacksexplosion, die sich in seinem Mund entfaltete. Die intensive Knoblauchnote wurde von der Schärfe der Peperoni befeuert, während das samtige Öl mit dem Ei mild und ausgleichend wirkte. »Fantastisch! Bitte auch davon.« Außerdem wollte er eine Schale mit getrockneten Tomaten sowie ein Fläschchen Trüffelöl mitnehmen, was den Verkäufer sichtlich freute. Als es ans Zahlen ging, ließ Keller beiläufig den Namen Karim fallen: »Er soll hier ab und zu einkaufen. Ein Kunde von Ihnen, richtig?«
Der Händler sah von seiner Kasse auf. Er wirkte erst überrascht, dann argwöhnisch. »Von wem sprechen Sie?«
»Karim«, wiederholte Keller den Namen. »Karim Abdelaziz.«
Die Miene des Mannes verfinsterte sich. Mit den hängenden Mundwinkeln senkten sich auch die Spitzen seines Schnauzers, was ihn geradezu feindselig aussehen ließ.
»Warum fragen Sie ausgerechnet nach Karim?«, wollte er wissen.
»Das ist eine lange Geschichte. Ihnen alles zu erklären, würde zu weit führen. Aber es stimmt, dass Sie ihn kennen, sehe ich das richtig?«
»Hören Sie mal …« Die Haltung des Obsthändlers hatte jetzt etwas Drohendes.
»Lassen Sie mich erklären, bitte«, lenkte Keller ein. »Durch einen Zufall bin ich an Karims Bauchtasche gekommen, darin fand sich eine Visitenkarte Ihres Geschäfts. Sie sind doch Monsieur Mansouri, der Inhaber?«
Der Ladenbesitzer beruhigte sich etwas, blieb jedoch auf der Hut. »Ja. Djamal Mansouri«, antwortete er knapp.
»Nun, wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich gern wissen, in welchem Verhältnis Sie zu Karim stehen.«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
»Wie gesagt: Ihre Karte lag in Karims Tasche. An wen sonst könnte ich mich also wenden?«
»Meine Karte? Ich habe fünfhundert Stück davon drucken lassen. Jeder, der an meine Kasse kommt, kann sich eine mitnehmen.«
Er weicht mir aus, dachte Keller und fragte weiter: »Ihnen sagt dieser Name also nichts? Karim Abdelaziz – nie gehört?«
Mansouri stieß ein unwilliges Knurren aus. »Na schön, warum soll ich es verheimlichen? Karim ist mein Vetter.«
»Ihr … Vetter?« Keller war erstaunt.
»Er geht mir hin und wieder zur Hand, übernimmt die eine oder andere Fuhre vom Großmarkt und liefert für Kunden aus, die nicht mehr so gut zu Fuß sind.« Mehr war er nicht bereit zu sagen. Mansouri stopfte Kellers Einkäufe in eine Plastiktüte und reichte sie ihm herüber. »Zahlen Sie bar oder mit Karte?«
»Bar«, antwortete Keller, der damit beschäftigt war, die neue Information mit seiner Theorie zu verknüpfen. Hatte er es mit einer kriminellen Familie zu tun, der das Obstgeschäft bloß als Tarnung diente? Einer Familie, in der ein Mitglied Verbrechen plante, die ein anderes ausführte? Oder bedeutete die Visitenkarte des Gemüseverkäufers nichts weiter, als dass Karim mit ihm verwandt war und hin und wieder im Laden aushalf? Das wäre eine ebenso logische wie harmlose Erklärung. Während Keller zahlte, kam ihm der Wagen wieder in den Sinn, der vor dem Geschäft abgestellt war. Nun wollte er es genau wissen und fragte: »Das Auto draußen, das mit den Obstkisten: Gehört das Ihnen?«
Erneut stand Mansouri das Misstrauen ins Gesicht geschrieben. »Ja. Was dagegen?«
»Ich bin neulich zufällig in der Nähe der La-Croix-Villa gewesen. Wenn mich nicht alles täuscht, hat dort ein Wagen geparkt, der Ihrem zum Verwechseln ähnlich sah.«
Diese Bemerkung brachte das Fass zum Überlaufen. Der kleine Mann schoss mit einem Satz auf ihn zu, packte ihn am Kragen und schimpfte: »Was stecken Sie Ihre Nase in fremde Angelegenheiten? Das alles hat Sie nicht zu interessieren!« Dem Wutausbruch folgten viele weitere Worte, die Keller so schnell nicht übersetzen konnte, so laut, dass eine junge Frau auf die Auseinandersetzung aufmerksam wurde.
Sie kam aus einem Hinterzimmer, trug genau wie Mansouri einen weißen Kittel und sah die beiden Streithähne fragend an. Ihr intelligentes Gesicht und die selbstbewusste Haltung beeindruckten Keller sofort. Die Tochter des Hauses, vermutete Keller, dem nicht entging, dass die Frau schwanger war. In einer fremd klingenden Sprache, vermutlich Arabisch, redete sie auf Mansouri ein und veranlasste ihn dazu, Keller loszulassen. Dann traktierte sie ihn mit Fragen, die Keller nicht verstand.
Mansouri reagierte darauf, indem er sie anherrschte und am Unterarm packte. Sehr energisch schob er sie hinter den Vorhang zurück, der den Ladenraum vom Hinterzimmer trennte.
Kurz darauf war er wieder da, baute sich erneut vor Keller auf, behielt aber diesmal seine Hände bei sich. Seine Augen glühten vor Zorn, als er Keller aufforderte: »Gehen Sie jetzt. Verlassen Sie mein Geschäft, und verschwinden Sie!«