Der perfekte Mord? In der kühlen Morgenluft, die Keller am Tisch seines Sonnendecks um die Nase wehte, kamen ihm Zweifel an den vollmundigen Behauptungen, die er am Vorabend weinselig geäußert hatte. Hatte er sich vor wenigen Stunden noch wie ein Überflieger gefühlt, holte ihn nun die Realität wieder ein. Von wegen erfolgreicher Einzelkämpfer! Mangels jeglicher Beweise konnte er bislang eben doch nur Mutmaßungen anstellen und sich – was er als Profi äußerst ungern tat – auf sein Gefühl verlassen.
Ja, es gab diese dünne Spur, die zum Gemüseladen von Djamal Mansouri führte, rekapitulierte er, während er in ein Stück Baguette biss, das er sich am Hafenkiosk besorgt hatte. Der Obsthändler war ein Verwandter des potenziellen Täters Karim, er hatte sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten und sich Keller gegenüber verdächtig verhalten. Doch reichten diese drei Anhaltspunkte wirklich aus, um ihn mit dem Mordfall in Verbindung zu bringen? Nein. Und hatte Mansouri auf Keller den Eindruck eines Mannes gemacht, der einen komplexen Tathergang austüftelte, bei dem er seinen eigenen Vetter ans Messer lieferte? Wohl kaum. Vor allem sah Keller bei ihm keinerlei Motiv.
Bis auf eines. Ein sehr naheliegendes sogar, das Keller bei seiner Visite in Mansouris Geschäft förmlich ins Auge gesprungen war und an das er sich durch die Internetrecherche wieder erinnert hatte. Doch sollte die Lösung wirklich so einfach sein?
Mit bloßen Gedankenspielen kam er nicht weiter, erkannte Keller, ließ den Rest seines Stangenweißbrots für die Vögel liegen und stürzte stattdessen eine Tasse Kaffee hinunter. Wenn er Antworten auf seine vielen Fragen haben wollte, musste er sie sich holen!
Er wartete die Ankunft der Servicekraft von Le Boat ab, die das defekte Schloss ruck, zuck reparierte, dann konnte ihn nichts mehr halten. Mit seinem Dauerleihwagen fuhr er abermals in den Vorort, an dessen verwahrlosten Anblick er sich allmählich gewöhnte. Hatte er sich bei seinen beiden ersten Fahrten auf heruntergekommene Häuser, Zeichen der Zerstörungswut und den allgegenwärtigen Müll konzentriert, achtete er nun eher auf die Menschen. Und er sah, dass auch hier die Kinder lachten, die Alten tratschten und die Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern Gassi gingen, ganz so, wie sie es überall taten. Alles wirkte schäbiger als im Nobelviertel der La Croix’, aber hier wie dort lagen Freud und Leid dicht beieinander.
Diesmal fand er keinen nahe gelegenen Parkplatz für seinen Renault und musste ein ganzes Stück zu Fuß gehen, bevor er Mansouris Laden erreichte. Beim Näherkommen betrachtete er die üppigen Auslagen vor dem Geschäft. Prall und marktfrisch leuchtete das Obst in der Morgensonne. Keller legte sich im Kopf die Worte zurecht, mit denen er Mansouri entgegentreten wollte, da öffnete sich die Tür des Gemüseladens, und eine Frau kam heraus.
Keller blieb abrupt stehen, denn er hatte sie sofort erkannt: Es war die junge Frau, die bei seinem ersten Besuch von Mansouri so rigoros ins Hinterzimmer geschoben worden war. Wie gestern trug sie einen weißen Kittel, der sich über ihrem Babybauch wölbte. Sie hatte Keller nicht bemerkt, sondern machte sich daran, die Auslage um eine Kiste voller Feigen zu ergänzen.
Keller ergriff seine Chance. Zielstrebig ging er auf sie zu, stellte sich neben sie und sprach sie an: »Bonjour Madame.«
Die Frau fuhr herum und zuckte zusammen, als sie ihn erkannte. »Bonjour …«
»Darf ich Sie etwas fragen?« Keller blickte sie offen an.
»Ich glaube nicht, dass Vater das möchte«, sagte sie und sah unsicher zur Tür.
»Kommen Sie: Stellen wir uns ein Stück an die Seite, dann kann man uns von innen nicht sehen.« Keller nickte ihr aufmunternd zu.
Zögernd kam sie seiner Aufforderung nach. Neben einer Stellage mit Avocados blieb sie im Sichtschatten eines Werbeaufstellers stehen und sah ihn mit nervösem Blick an. »Wer sind Sie, und was wollen Sie von uns?«
Keller hob seine Hände. »Keine Bange, ich komme nicht von der Polizei. Ich bin Privatmann. Ein Tourist, der zufällig in diese Sache hineingeraten ist.«
»Hineingeraten? Wovon reden Sie?«, fragte sie und wirkte äußerst beunruhigt.
»Ich denke, das wissen Sie genauso gut wie ich«, sagte Keller. Ein Trick, um sie zum Sprechen zu bringen.
Mit Erfolg. Tränen sammelten sich in ihren dunklen Augen, sie zog die Schultern zusammen und schluchzte.
Keller war versucht, sie zu trösten. Doch als Ermittler musste er ihre Schwäche nutzen, um mehr von ihr zu erfahren. In sanftem Ton fragte er: »Mir ist aufgefallen, wie Sie gestern reagiert haben, als ich Ihrem Vater gegenüber den Namen La Croix erwähnt habe. Sie kennen diesen Namen, die Familie?«
Das Schluchzen wurde stärker.
»Wie gesagt, es war ein Zufall, der mich mit den Mordfällen im Hause La Croix in Verbindung gebracht hat«, wiederholte Keller. »Seitdem lässt mir die Sache keine Ruhe, ich suche nach Antworten. Können Sie mir helfen?«
Die Frau rieb sich die Tränen aus dem Gesicht und streckte ihm die Hand entgegen. »Selena Mansouri ist mein Name. Und Sie heißen?«
»Keller. Konrad Keller.« Er musterte sein Gegenüber mit freundlichem Blick. Dann rang er sich zu einer sehr direkten Frage durch: »Das Kind, das Sie erwarten – ist der Vater vielleicht Clément La Croix?«
Zunächst starrte Selena Mansouri ihn aus großen Augen an. Gleich darauf begann sie abermals zu weinen. »Ja«, antwortete sie wimmernd und legte schützend ihre flache Hand auf den Bauch. »Es ist Cléments Baby. Unser gemeinsames Kind.«
Also doch so einfach! Keller fühlte sich bestätigt; seine Kombinationsgabe war noch nicht vollends eingerostet. Gleichwohl erkannte er die Verzweiflung im Gesicht der jungen Frau. Sie plagten Zukunftsangst und die Trauer um den Verlust des Geliebten.
Selena tat ihm leid. Er senkte den Ton, als er mit ernster Miene fragte: »Ihr Vater war gegen diese Verbindung, habe ich recht?«
»Ja«, kam es ohne jedes Zögern. »Papa hat unsere Liebe nicht geachtet. Er meinte, Clément nutzt mich aus.« Der strenge Vater habe ihr vorgehalten, dass Clément aus einer anderen gesellschaftlichen Schicht stamme und noch dazu einer anderen Religion angehöre – aus Sicht von Mansouri konnte das nicht zusammenpassen. Er habe ihr weismachen wollen, Cléments schlechter Einfluss stürze sie ins Verderben. Nun redete sie wie ein Wasserfall: »Das erste Mal richtig gekracht hat es, als ich Clément zuliebe aufgehört habe, das Kopftuch zu tragen. Papa ist schier ausgerastet. Als dann herauskam, dass ich von Clément schwanger bin, war es völlig vorbei. Papa hat mir jeden Umgang mit ihm verboten.« Sie schwieg.
»Wir konnten uns nur noch heimlich treffen«, platzte es dann aus ihr heraus. »Und nun ist er …« Sie unterbrach sich, bevor sie mit gebrochener Stimme endete: »… nun ist er tot!«
Keller hoffte inständig, dass Mansouri sie nicht bemerkte und dem Gespräch ein Ende setzte. Behutsam tastete er sich vor: »Offenbar war Ihr Vater nicht der Einzige, der etwas gegen Ihren Freund hatte.« Er wartete, bis Selena sich wieder etwas gefangen hatte, ehe er eine provokante These aufstellte. »Auch Ihr Onkel, Karim Abdelaziz, sah offenbar Ihre Familienehre in Gefahr. Wie sonst erklären Sie sich das, was er getan hat?«
Selena fuhr zusammen, in ihren zarten Gesichtszügen zuckte es. Unruhe schien sie zu erfassen, sie zwinkerte nervös und sah aus, als hätte sie einen solchen Zusammenhang bisher selbst noch nicht hergestellt.
Dann jedoch schüttelte sie energisch den Kopf. »Karim soll meine Ehre verteidigt haben? Niemals!« Die Antwort klang dermaßen entschieden, dass sie keinen Zweifel aufkommen ließ.
Keller hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet, sie sogar herbeigesehnt. Denn sie bestätigte seine Skepsis hinsichtlich Karims Schuld. Dennoch wollte er mehr wissen.
»Karim wurde wegen dringenden Mordverdachts an Clément, dessen Schwester und dessen Mutter festgenommen«, zählte er auf. »Die Polizei nimmt an, dass er auf Geld, Schmuck und sonstige Wertgegenstände aus war. Ich bin überzeugt, sie irrt sich. Aber wäre es denn wirklich so abwegig, dass er Ihretwegen so gehandelt hat?«
Selena sah Keller an wie einen Außerirdischen. Das, was er da sagte, schien für sie völlig absurd zu sein. »Karim ist ein Nichtsnutz, ein Faulenzer und Herumtreiber. Das schwarze Schaf der Familie. Wenn er etwas macht, dann nur zu seinem eigenen Nutzen. Ganz sicher nicht für mich.«
»Es muss aber einen Zusammenhang geben«, beharrte Keller. »Das wäre einfach zu viel des Zufalls. Warum sonst könnte Karim in der Villa Ihres Freundes eingestiegen sein?«
Selena musste nicht lange nachdenken. »Ich fürchte, die Polizei liegt ganz richtig: Natürlich musste er davon ausgehen, dass Cléments Eltern in Geld schwimmen. Das ist der Grund, warum er diesen Bruch gemacht hat. Das und nichts anderes.«
»Dann hat er also doch aus Habgier gehandelt, als er auf die Familie Ihres Freundes schoss?«
Doch Selena verneinte erneut. »Karim ist kein Mörder. Er ist ein Mann ohne Ehre und Moral, aber bei Gewalt hört selbst für ihn der Spaß auf. Zumindest würde er nicht so weit gehen, jemanden ernstlich zu verletzen oder gar zu töten.«
»Aber wer sonst soll es getan haben? Wer hat die tödlichen Schüsse Ihrer Meinung nach abgegeben?«, bohrte Keller weiter, der endlich einen Namen hören wollte.
Doch seine letzten Fragen waren zu viel für Selena, die sich inzwischen sichtbar ängstigte. Immer wieder blickte sie sich furchtsam um. »Ich muss zurück ins Geschäft«, sagte sie.
»Bitte warten Sie noch. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass Karim die Morde nicht begangen hat, müssen Sie ihm helfen«, appellierte Keller an sie. »Es ist Ihre Pflicht!«
»Ich ihm helfen?« Selena wurde blass. »Nein, das geht nicht.«
»Sie können nicht zulassen, dass ein Unschuldiger verurteilt wird!«
Selena entfernte sich rückwärtsgehend von Keller. »Unschuldig? Vielleicht hat er ja doch geschossen. Die Polizei wird schon wissen, was sie tut.« Sie hatte die Tür erreicht und legte ihre Hand auf die Klinke.
Jetzt musste Keller retten, was noch zu retten war. Er appellierte an Selena: »Wenn Sie es sich anders überlegen, erreichen Sie mich auf einem Hausboot im Kanalhafen. Mein Schiff heißt Bonheur.«
Selena nickte verhuscht, im nächsten Moment war sie im Laden verschwunden.
Keller wollte ihr nicht noch mehr zusetzen und verzichtete darauf, ihr zu folgen. Während er zu seinem Wagen zurückging, verfestigte sich seine Überzeugung, dass er mit dem Mordmotiv der Rache richtiglag, Karim jedoch nicht der ausführende Täter gewesen war.
Sollte am Ende tatsächlich Selenas Vater Djamal den Mord begangen haben, um die Familienehre wiederherzustellen? Und wenn ja, wie? Laut Béatrice Bardot hatten die Überwachungskameras zur fraglichen Zeit nur einen Besucher erfasst: Karim.
Was also hatten sowohl die Polizei wie auch Keller bisher übersehen?