La Brasserie A 4 Temps lag in der ville basse unmittelbar neben einem prächtigen Torbogen. Die Inneneinrichtung bot einen unerwarteten Kontrast zu der aus Muschelkalkquadern errichteten Vorderseite des Hauses und war ganz in modernem Stil gehalten: helle Farben, viel Licht, Sitzecken mit bordeauxroten Polsterbänken. Die stilvolle Eleganz der anderen Mittagsgäste ließ Keller folgern, dass Cocoon nicht gerade die preisgünstigste Wahl getroffen hatte.
Der Anwalt erwartete ihn bereits. Keller entdeckte ihn an einem Tisch in einer Nische und gesellte sich zu ihm. Cocoon nickte ihm kurz zu, um sich sogleich in die Menükarte zu vertiefen.
»Nehmen Sie die Meeresfrüchte«, empfahl er und spitzte die Lippen. »Wasserschnecken, Kalmare, Hummer – alles, was aus dem Meer kommt, ist hier ein Gedicht. Natürlich auch der Fisch.«
»Meinen Sie?«, fragte Keller verhalten. Er scheute angesichts der danebenstehenden Preise zurück.
»Wissen Sie, im Languedoc ist die Küche mediterran geprägt und profitiert vom nahen Mittelmeer. Besonders beliebt sind anchois, also Sardellen, und Sardinen. Huîtres, Austern, werden auf den Bänken von Bouzigues gezüchtet. Bestellen Sie eine dégustation de fruits de mer – Sie werden es nicht bereuen! Sie mögen doch Schalentiere, oder? Tellines, das sind kleine Muscheln, die Sie roh oder gekocht mit Knoblauch und Petersilie gewürzt essen können. Das feine Fleisch schmeckt etwas nussig und ist einfach köstlich.«
Keller war nahe dran, Cocoons Vorschlägen zu folgen, hielt sich jedoch zurück und entschied sich für einen Vorspeisenteller. Dazu wählte er wie sein Begleiter, der eine Fischplatte orderte, einen Weißwein.
»So bescheiden?«, wunderte sich der Anwalt. »Sie verpassen ein ganz besonderes Geschmackserlebnis, denn wissen Sie, zum Verfeinern der Fischgerichte werden Kräuter wie Thymian, Estragon, Basilikum, Rosmarin und Salbei verwendet, die wild in der kargen garrigue gedeihen. So etwas Vollkommenes finden Sie nirgends sonst.«
Nach kurzem Vorgeplänkel machte Cocoon sein Versprechen wahr und legte die Fallakte auf den Tisch. Er schlug sie auf und weihte Keller in den von den Ermittlern rekonstruierten Zeitablauf ein, der in dieser Form vom zuständigen Untersuchungsrichter abgesegnet worden war.
Demnach hatte Richard La Croix um 19:50 Uhr das Haus durch den Haupteingang der Villa verlassen und war in seinen vor der Tür geparkten Jaguar F-Type gestiegen und zum Fernsehstudio gefahren. »Dort meldete er sich um 20:22 Uhr beim Pförtner an und wurde zunächst in die Maske geschickt, um anschließend sein halbstündiges Interview zu geben, das ab 21 Uhr übertragen wurde. Nach dem Abschminken verließ er das Studio um 21:50 Uhr und traf knapp eine Stunde später um 22:47 Uhr wieder zu Hause ein, was durch die Aufzeichnungen des hauseigenen Überwachungssystems belegt ist«, erläuterte Cocoon. »Dort fand er seine Familie leblos vor und verständigte um 22:55 Uhr den Notruf.«
»Für die Rückfahrt hat er deutlich länger gebraucht als für die Hinfahrt«, fiel Keller auf. »Gibt es dafür eine Erklärung?«
»La Croix ist Raucher. Nachdem er den Sender verlassen hatte, musste er seinen Nikotinbedarf stillen, ehe er sich hinters Steuer setzte. Außerdem hat er sich nach eigenen Angaben auf dem Rückweg mehr Zeit gelassen, da es keine Termine mehr gab und er es nicht eilig hatte.«
Keller, der einen Block dabeihatte, auf dem er sich einige Notizen machte, war gespannt auf die weiteren Zeitangaben. »Was ist über Karims Aufenthalt in der Villa bekannt?«, erkundigte er sich.
»Karim Abdelaziz wurde um 22:32 Uhr dabei gefilmt, wie er durch ein rückwärtiges Fenster einstieg, und um 22:39 Uhr, als er das Haus fluchtartig verließ, durch dasselbe Fenster.«
»Die beiden Männer haben sich also ganz knapp verpasst«, fasste Keller zusammen. »Hat denn Karim bei seinem Bruch keinen Alarm ausgelöst, der die Polizei auf den Plan rief?«
»Es ist zwar eine Alarmanlage installiert, aber weil sich die Familie zu Hause aufhielt, war sie nicht scharf geschaltet.«
Keller notierte auch dieses Detail, ehe er nach dem genauen Todeszeitpunkt der Opfer fragte.
»Exakt wollte sich der Leichendoktor nicht festlegen. Aber sie waren noch nicht lange tot, als man sie fand. Allerhöchstens zwei Stunden«, antwortete Cocoon. »Trotzdem kann man den Zeitraum weiter eingrenzen, denn um 21:34 Uhr hat Madame La Croix ein kurzes Telefonat mit einer Freundin geführt, die anrief, weil sie den Fernsehauftritt von Richard La Croix gesehen hatte. Und vom Handy ihrer Tochter Claire wurde um 22:11 Uhr die letzte WhatsApp-Nachricht verschickt.«
»Keine Nachbarn, die Schüsse gehört und dabei auf die Uhr geschaut haben?«
»Leider nein. Die Anwesen in dieser Gegend sind so groß, dass die nächstliegende Bebauung mehr als vierhundert Meter entfernt liegt. Es hat sich auch kein Passant gefunden, der etwas gehört oder gesehen hat.«
Keller erkundigte sich genauer nach der Art des Überwachungssystems.
Auch damit konnte der gut vorbereitete Anwalt dienen: »Das volle Programm: Türöffnerdetektoren, Glasbruchsensoren, Bewegungsmelder rings ums Haus und eben die Videoüberwachung.«
»Die Kameras liefen, obwohl die Alarmanlage deaktiviert war?«
»Ja, sie sind fortwährend aktiv«, sagte Cocoon und schlug eine Seite in seinem Ordner auf, die voll mit technischen Details war. »Ein Set aus Netzwerkrekorder und mehreren wetterfesten WLAN-Überwachungskameras rings um die Villa. Eine Bewegungserkennung löst die automatische Aufzeichnung aus, die Videosignale werden dann auf Festplatte vierundzwanzig Stunden lang gespeichert.«
Keller nickte anerkennend. Er musste eingestehen, dass La Croix sich und seine Familie gut gegen Eindringlinge geschützt hatte. Zumindest in der Theorie. Doch Keller wusste auch, dass selbst das beste und teuerste System seine Schwachstellen aufwies, denn perfekte Sicherheit gab es nicht. Er fragte: »Reichen die Kameras bis in die dunklen Ecken des Gartens?«
»In jeder Kamera sind LEDs integriert, die die Umgebung aufhellen und eine Sicht von bis zu zwanzig Metern erlauben.«
Keller nahm das zur Kenntnis und zog die ernüchternde Quintessenz: Auf den Überwachungsbändern im infrage kommenden Zeitraum waren lediglich Karim und Richard La Croix zu sehen, nicht aber Djamal Mansouri oder irgendjemand anderes. Doch damit mochte er sich nicht abfinden. Er hakte abermals nach: »Kann es vielleicht doch ein Schlupfloch im Überwachungssystem geben?«
»Das mag sein«, meinte Cocoon und musterte ihn durch seine dicken Brillengläser. »Doch selbst wenn irgendwo ein solches Schlupfloch, wie Sie es nennen, existieren sollte: Woher hätte der Täter die Lücke im System kennen sollen?«
Diesem Einwand konnte Keller auf Anhieb nichts entgegensetzen. »Zugegeben, ein gewöhnlicher Einbrecher hätte es schwer gehabt, so etwas herauszufinden, selbst wenn er die Villa beobachtet und ausgekundschaftet hätte. Was aber, wenn es Helfer aus der Familie gab?«
Cocoon zog seine Brauen hoch. »Ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen: La Croix’ Sohn Clément könnte seiner Geliebten Selena geflüstert haben, auf welchen Schleichwegen sie die Kameraüberwachung umgehen konnte, um ungesehen ins Haus zu gelangen. Das tat er, um heimliche Treffen mit seiner Freundin möglich zu machen, denn der dünkelhafte Vater durfte ja nichts von seinem Verhältnis zu einem Vorstadtmädchen wissen. Selena aber missbrauchte ihr Insiderwissen, indem sie es an ihren kriminell veranlagten Verwandten Karim weitergab.«
»Hört sich logisch an«, fand Keller. »Es hilft uns bloß nicht weiter, denn auch bei dieser Variante bliebe Karim der Mörder. Außerdem hätte er sich dann besonders amateurhaft angestellt, wenn er sich trotz seines Wissens um den toten Winkel am Ende hat filmen lassen.«
»Richtig, das ergibt keinen Sinn.«
»Bliebe die Variante, dass sich Selena selbst ins Haus geschlichen hat. Fragt sich allerdings, weshalb sie ihren eigenen Freund und Vater ihres Ungeborenen töten sollte? Da wäre doch eher ihr Vater Djamal Mansouri …«
»Vorausgesetzt, dass Clément die Schwachstelle im Überwachungssystem wirklich kannte und ausgeplaudert hat.«
»Ja«, stimmte Keller zu. »Und ebenfalls vorausgesetzt, dass Selena oder ihr Vater Djamal die Tat kurz vor oder zwischen dem Erscheinen von Karim und Richard La Croix am Haus begangen haben und ihnen das Kunststück gelang, gleich darauf unbemerkt zu verschwinden. Denn sehr viel Zeit blieb dafür nicht.«
»Ich sehe schon«, seufzte Cocoon, »wir haben eine ganze Menge Arbeit vor uns, wenn wir Karim noch vor Prozessbeginn rausboxen wollen. Ich kann nur hoffen, dass er die Mühe wert ist.«
»Darf ich das so deuten, dass Sie es zumindest versuchen werden? Dass Sie davon absehen, ihn zu einem schnellen Geständnis zu bewegen?«
Cocoon schien mit sich zu kämpfen, ob er den Weg des geringsten Widerstands tatsächlich verlassen und sich stattdessen mit Béatrice Bardot und mit dem einflussreichen La Croix anlegen sollte. Schließlich verstaute er die Akte in seiner Tasche und beugte sich vor. »Also gut, mein Freund«, sagte er vertraulich, »lassen Sie uns Madame le commissaire aufsuchen und ein paar Takte mit ihr plaudern.«
»Sie nehmen mich mit, Maître Cocoon?«, wunderte sich Keller. Das war weit mehr, als er erhofft hatte.
»Aber ja! Ich will Sie keineswegs um die Früchte Ihrer Arbeit bringen«, meinte Cocoon launig. »Doch zuvor wird ausgiebig getafelt. Schließlich möchte ich Ihre freundliche Einladung gebührend würdigen.«
Einladung? Keller beobachtete mit bangem Blick, wie zwei Kellner ihre Bestellungen auftrugen: Kellers Vorspeise, bestehend aus hauchdünn geschnittenen Wurstspezialitäten, fingerdicken Scheiben von Wild- und Pilzpasteten und einer Auswahl lokaler Käsespezialitäten von Kuh und Schaf. Cocoon bekam eine Étagère voller Meeresfrüchte und Fischfilets, kreativ garniert mit leuchtend grünem Algensalat.
Ein herber Schlag für die Urlaubskasse, dachte Keller und nahm mit gedämpfter Freude das Besteck zur Hand.