Das Gesicht von Béatrice Bardot sprach Bände, als sie Keller an der Seite von Hugo Cocoon in ihr Büro marschieren sah. Pforte und Sekretariat hatten die beiden anstandslos durchgewinkt, denn niemand wagte es, sich einem Pflichtverteidiger in den Weg zu stellen und ihn damit womöglich in seinen Rechten zu beschneiden.
Doch Madame le commissaire war Profi genug, um die Regungen von Missmut oder Zorn, die sich sekundenkurz in ihren Augen zeigten, schnell zu überspielen. Sie konnte sich sogar zu einer Art Lächeln durchringen und bot ihren Gästen mit einladender Geste einen Platz in der Sitzecke an. Sie selbst gesellte sich dazu und legte die gefalteten Hände auf ihre Beine, die bis zum Knie vom sandfarbenen Stoff eines eleganten Kostüms bedeckt wurden.
»So sehen wir uns also doch noch einmal wieder«, sagte sie, an Keller gerichtet, und ergänzte süffisant: »Wer hätte das gedacht!«
Bevor Keller etwas darauf erwidern konnte, ergriff Cocoon das Wort. Er wies auf die neue Spur hin, wobei er diskret genug war, Kellers unautorisierte Beteiligung daran zu verschweigen. »Bisher war lediglich Habgier als Motiv im Gespräch. Möglicherweise gibt es jedoch einen zusätzlichen, neuen Beweggrund für die Bluttat: Rache oder vielmehr die Wiederherstellung der Familienehre.« Cocoon berichtete von Selena Mansouris Schwangerschaft, ihrer Behauptung, dass Clément La Croix der Vater ihres Babys sei, und von den verwandtschaftlichen Banden zu Karim.
Je länger Cocoon redete, desto mehr schwand Béatrice Bardots maskenhafte Mimik und wich offenem Staunen. Sie verzichtete darauf, den Anwalt zu unterbrechen, sondern hörte aufmerksam zu. Selbst als Cocoon die unausgegorenen Überlegungen zu Löchern im Sicherheitssystem erwähnte, wartete sie das Ende des Vortrags kommentarlos ab und beschränkte sich darauf, ab und zu bestätigend zu nicken.
Hatte Keller damit gerechnet, dass Béatrice Bardot sie beide nicht für voll nehmen und freundlich, aber bestimmt hinauskomplimentieren würde, sah er sich getäuscht. Im positiven Sinn. Denn kaum hatte Cocoon geendet, betätigte sie eine Sprechanlage zum Vorzimmer und orderte Kaffee. »Drei Tassen. Schwarz und stark.«
Nachdem sie alle mit Koffein versorgt waren, eröffnete Béatrice Bardot ihnen, dass die Kriminaltechniker vor Ort tatsächlich auf eine Lücke in der Überwachungsanlage gestoßen seien: »Wir haben dem bislang keine besondere Bedeutung beigemessen, aber theoretisch hätte man durch die angebaute Garage ins Wohnhaus gelangen können, ohne von einer der Kameras erfasst zu werden. Denn in den Innenräumen gibt es keine Videoüberwachung.«
»Warum habe ich davon keine Zeile im Untersuchungsbericht gefunden?«, monierte Cocoon.
»Weil die Verbindungstür zwischen Garage und Haupthaus zum Tatzeitpunkt versperrt war. Ohne Schlüssel wäre der Täter auf diesem Wege nicht ans Ziel gelangt, weshalb wir diese Spur nicht weiterverfolgt haben«, erklärte sie.
»Dann scheidet diese Möglichkeit aus«, stellte Cocoon fest.
Doch Keller dachte weiter. »Könnte es sein, dass Djamal Mansouri den Schlüssel aus Cléments Jackentasche entwendet hat, während dieser gerade Selena besuchte? Dann benutzte er entweder den gestohlenen Originalschlüssel oder eine Kopie, die er sich anfertigen ließ«, riet er ins Blaue hinein.
»Das wäre eine Option«, fand Cocoon.
Doch Keller schränkte die eigene These gleich wieder ein: »Eine Option, für die es keinerlei Belege gibt.«
Immerhin sicherte Béatrice Bardot zu, Mansouri und dessen Alibi für die Tatnacht zu überprüfen. »Wir gehen der Sache nach, Messieurs«, versprach die Kripochefin, woraufhin sich alle erhoben.
Während sich Cocoon daranmachte, seine Unterlagen in seiner Aktentasche zu verstauen, nahm Béatrice Bardot Keller beiseite. Sie stellte sich so dicht neben ihn, dass er ihr frisches, leichtes Parfüm riechen konnte, und raunte ihm zu: »Chapeau, Kollege. Dank Ihrer Hartnäckigkeit bekommt der Fall einen anderen Dreh. Ich muss zugeben, dass mich diese Entwicklung überrascht.«
»Freut mich, wenn ich meinen Teil dazu beitragen konnte«, entgegnete Keller, dem das Lob guttat.
Cocoon stand bereits in der Tür, und Keller wollte ihm schon folgen, da wurde er auf eine Bilderleiste an der Wand des Büros aufmerksam. Es handelte sich ganz offensichtlich um Tatortfotos aus der La-Croix-Villa. Keller konnte nicht anders, als genauer hinzusehen. Als er die Markierungen und Nummern sah, die die Spurensicherung hinterlassen hatte, stutzte er. Eigentlich ein ganz normales Vorgehen, so wie er es auch aus Deutschland kannte. Doch etwas stimmte nicht.
»Monsieur Keller?«, sprach Béatrice Bardot ihn an. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Allerdings, dachte Keller, während er die Fotos studierte. Wenn er nach den Markierungen der Spurensicherer ging, ergab sich ein sehr fragwürdiges Bild des Tatablaufs. »Sind die Toten so vorgefunden worden, wie es hier dokumentiert ist?«
»Ja«, bestätigte Béatrice Bardot.
Keller nahm das zur Kenntnis und versuchte, sich anhand der Tatortfotos zusammenzureimen, was sich an dem schicksalhaften Abend im Hause La Croix abgespielt haben könnte: Demnach hatten die beiden jugendlichen Opfer auf einem Sofa vor dem Fernseher gesessen, als die Schüsse sie trafen, während die Mutter wenige Schritte entfernt in der offenen Wohnküche gestanden hatte und dort tödlich verletzt wurde.
»Seltsam«, murmelte Keller.
»Was ist seltsam?«, fragte Béatrice Bardot, die sich nun ebenfalls auf die Bilder konzentrierte.
»Die Anordnung der Toten«, antwortete Keller, ohne den Blick von den Aufnahmen zu nehmen. »Es macht den Eindruck, als hätte sich keiner der drei von der Stelle gerührt, als der Einbrecher hereinkam.«
»Ja. Und?«
»Hätten sie nicht versuchen müssen zu fliehen? Oder sich ihm entgegenzustellen? Das wäre doch normal gewesen, oder?« Nun drehte sich Keller zu Béatrice Bardot um und sah sie herausfordernd an. »Aber nein: Die Kinder schauten weiter fern, und die Mutter hantierte mit der Bratpfanne, als wäre es alltäglich, dass ein Räuber ins Zimmer spaziert.«
»Wahrscheinlich ging alles so schnell, dass sie nicht reagieren konnten. Sie wurden vom Täter überrascht«, legte Béatrice Bardot ihre Sicht der Dinge dar.
»Kann das wirklich sein? Müssten sie nicht gehört haben, wie der Eindringling in das Haus eingestiegen ist? Eigentlich hätten sie bereits alarmiert sein müssen.«
Béatrice Bardot schürzte die Lippen. »Der Ton des Fernsehers war weit aufgedreht. Dazu rauschte die Dunstabzugshaube, und die Tochter hatte zudem In-Ears in den Ohren. Wir haben das überprüft: Die drei Opfer konnten definitiv nichts hören. Das Eindringen des Täters wurde von ihnen erst bemerkt, als es bereits zu spät war. Die drei hatten keine Chance auf Flucht oder Gegenwehr.« Sie fasste Keller in der Armbeuge und dirigierte ihn von der Fotowand weg. »Reicht Ihnen das als Begründung, Kollege?«
Keller war immer noch voller Zweifel. Seine jahrelange Berufserfahrung sagte ihm, dass es so nicht gewesen sein konnte. Denn selbst wenn der Mörder unbemerkt bis in den Wohnraum gelangt war, hätte er nicht alle drei Opfer gleichzeitig erschießen können. Mindestens eines der Kinder oder die Mutter hätte sich wegducken oder fliehen können.
Und dann war da noch die Schwierigkeit, ein Ziel aus einer gewissen Distanz auf Anhieb tödlich zu treffen. Der Täter hätte sich jede Person einzeln vornehmen müssen, denn die Kugeln stammten ja nicht aus einem Maschinengewehr, das er bloß herumschwenken musste. Nein, dachte Keller. Dass alle drei an Ort und Stelle verharrt hatten, dafür gab es keine schlüssige Erklärung.
»Ich merke, dass Sie nicht überzeugt sind«, stellte Béatrice Bardot fest. »Sie denken, dass doch wenigstens eines der Kinder hätte weglaufen können, selbst wenn es nur ein paar Meter weit gekommen wäre, richtig?«
»Ja, genau darüber zerbreche ich mir den Kopf.«
»Schonen Sie Ihren Kopf, und überlassen Sie die Analysearbeit mir und meinem Team, dafür werden wir ja bezahlt.« Aus großen Augen sah sie ihn an. »Liegt die Erklärung nicht auf der Hand?«
Keller überlegte erneut. Hatte er die Bilder nicht richtig gedeutet? »Nein«, sagte er schließlich, »für mich ist das Verhalten der Opfer nicht schlüssig.«
»Für uns schon«, gab sich Béatrice Bardot selbstbewusst. »Es war der Schock. Alle drei Opfer waren dermaßen überrascht und überrumpelt durch das plötzliche Erscheinen des Täters, dass sie außerstande waren, sich zu bewegen. Die Angst lähmte sie.«
Wie praktisch für den Täter, dachte sich Keller. So musste der Mörder seine Ziele bloß noch nacheinander ins Visier nehmen und abdrücken. Wie in einer Schießbude.
Bevor er dazu kam, weitere Fragen zu stellen, spürte er die Hand von Cocoon auf seinem Unterarm. Der Anwalt nickte ihm nachdrücklich zu, ein unmissverständlicher Wink, jetzt ohne weitere Diskussion abzutreten. Das sah Keller ein, zumal der Empfang durch Madame le commissaire weitaus offener und interessierter gewesen war, als er es erwartet hatte. Er wollte es sich mit ihr nicht verscherzen.
»Merci beaucoup, Madame«, sagte er. »Danke, dass Sie uns angehört haben.«
»Der Dank gilt Ihnen«, entgegnete Béatrice Bardot.
Keller entging nicht, dass sie seine Hand einen Deut länger drückte, als es notwendig gewesen wäre.
Wie auf dem Hinweg zum Präsidium nahm Cocoon ihn in seinem Wagen mit. Sie schwiegen beide, jeder hing seinen Gedanken nach. Keller wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte. In diesem Fall kamen ständig neue Aspekte zum Tragen, die immer wieder Fragen aufwarfen, Karim aber dennoch nicht überzeugend entlasten konnten. Keller war mit stockenden Ermittlungen dieser Art zwar durchaus vertraut, abfinden wollte er sich damit dennoch nicht. Denn es hatte ihn schon immer gewurmt, auf der Stelle zu treten.
Am Rand der unteren Altstadt ließ er sich absetzen, er wollte den restlichen Weg bis zum Hafen zu Fuß zurücklegen. Eine gute Entscheidung, wie sich herausstellte: Die ville basse sah wunderschön aus, wenn man – wie Keller – an dem leicht morbiden Charme alter Gemäuer Gefallen fand. Ihm fiel auf, dass trockenes Moos in den Rissen der bröckelnden Fassaden wuchs, und selbst die windschiefen Kakteen, die sich auf staubigen Balkonen sonnten, trugen zu der angenehmen Gesamterscheinung bei. Keller kam vorbei an hippen Cafés, lässigen Klamottenläden und modern designten Bistros und empfand den kurzen Spaziergang als ungemein wohltuend. Die ganze Stadt schmeckte nach Sommer. Nach café au lait, frisch gepresstem Orangensaft, dem verlockenden Parfüm der eleganten Französinnen und dem süßen Eis der Kinder.
Eine halbe Stunde in dieser inspirierenden Umgebung entschädigte ihn für das Kopfzerbrechen, das ihm der Fall La Croix bescherte. Seine Batterien waren schon bald wieder aufgeladen.