Mit wackligen Beinen ging Keller vorsichtig die schmale Stiege hinauf zum Deck. Inzwischen hatte sich der Hafen mehr und mehr belebt. Auf der Kaimauer promenierten Urlauber, auch auf den anderen Booten war jetzt mehr los. Manche der Bootsfahrer hievten Körbe aus dem Waschsalon an Bord, andere begannen gerade mit den Vorbereitungen zum Abendessen. Wieder andere saßen bei Brettspielen beieinander oder genossen einen kühlen Rosé im milden Sonnenlicht. Ein kleiner Junge, er mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre alt sein, winkte Keller fröhlich zu. Die Stimmung war unbekümmert und friedlich. Niemand ahnte, in was für einer brenzligen Lage sich Keller befand.
Es wäre ein Leichtes gewesen, laut um Hilfe zu rufen. Binnen Sekunden hätte Keller damit die Aufmerksamkeit Dutzender Menschen auf sich ziehen können, von denen sicherlich auch jemand die Polizei verständigt hätte. Aber er brachte es nicht fertig. Das lag weniger an dem Pistolenlauf, der aus dem Halbdunkel der Kabine auf seinen Rücken gerichtet war, als an der Sorge um Selena. Er traute Geneviève zu, dass sie die junge Frau erschoss, ohne mit der Wimper zu zucken.
Was stimmte nicht mit Geneviève Bertrand? Sie kam ihm gefühllos und kalt vor, mit Ausnahme von Wut zeigte sie keinerlei Emotionen. Gleichzeitig gab sie sich entschlossen und energisch. Keller rätselte: Was bewegte diese Frau, was trieb sie an?
Im Laufe seines langen Berufslebens hatte er es mit allen möglichen Verbrechern zu tun gehabt, den unterschiedlichsten Charakteren. Darunter waren Berufsverbrecher ebenso wie Gelegenheitstäter, Triebgesteuerte, Psychopathen und reine Verzweiflungstäter. Doch in welche dieser Kategorien passte Geneviève? Eigentlich in keine. Denn ihr Handeln ließ sich nicht in die gängigen Tätergruppen einordnen, es entsprach keinem der ihm bekannten Muster. Keller war verwirrt. Verfolgte sie wirklich einen Plan – oder war sie einfach nur gestört?
»Machen Sie endlich die Leinen los!«, ordnete Geneviève mit gepresster Stimme an.
Ohne übertriebene Hast – denn er wollte Geneviève keinen Grund für Kurzschlussreaktionen liefern – trat er zunächst an den Steuerstand und ließ den Motor an. Den Schalthebel stellte er auf Leerlauf.
Anschließend sprang er auf die Kaimauer und machte die vordere Leine los. Er warf das Tauende an Bord der Bonheur und ging weiter an die hintere Leine. Gerade wollte er sie lösen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.
Keller fuhr erschrocken zusammen. Hektisch drehte er sich um und sah sich einem beleibten Mann mit fleischigem Gesicht und einem Sonnenbrand auf der Glatze gegenüber, in Bermudashorts, kariertem Hemd und Riemensandalen. Keller hatte ihn schon einmal gesehen: ein Freizeitskipper von einem der anderen Boote im Hafen.
»’n Abend«, sprach ihn der Mann auf Deutsch an. Als Keller nicht gleich reagierte, erklärte er: »Sie sind doch ein Landsmann, nicht wahr?«
»Ja, bin ich«, antwortete Keller knapp.
»Freut mich! Wilfried Rudzinski der Name. Aber nennen Sie mich einfach Willy wie alle anderen auch«, sagte er mit unüberhörbarem Ruhrpott-Einschlag. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Keller. Konrad Keller.«
Der Deutsche beäugte ihn neugierig. »Was haben Sie vor? Soll’s etwa heute noch weitergehen?«
Keller starrte ihn verwirrt an. Er war nicht in der Lage, auf diese einfache Frage eine Antwort zu geben. Im Geiste war er in der Kajüte, von wo aus Geneviève sicher alles mit Argusaugen verfolgte.
Der Hobbykapitän ging über Kellers Sprachlosigkeit hinweg und redete einfach weiter: »Wir sind vor zwei Tagen angekommen und haben uns spontan in diese Stadt verliebt. Carcassonne, diese riesengroße Ritterburg! Herrlich! Eigentlich wollten wir heute auch weiterfahren, aber es gefällt uns einfach zu gut. Ihnen ja wohl auch. Denn Sie waren schon hier, als wir eingetroffen sind.«
»Ja«, lautete Kellers einsilbige Antwort.
Vorsichtig drehte er sich nach der Kajüte um. Doch er konnte nichts sehen; Geneviève hielt sich im Hintergrund.
»In welcher Richtung befahren Sie den Kanal? Wir haben bei Castelnaudary eingeschifft und wollen es bis ans Mittelmeer schaffen. Eine traumhafte Strecke mit all den tollen Brücken, Dämmen und Aquädukten! Und die meiste Zeit im Schatten von Pappeln und Zypressen, da knallt einem die Sonne nicht so auf den Kopf. Aber bei den vielen Schleusen muss man Geduld mitbringen, denn die Wärter kommen gern mal auf einen Schwatz an Bord. Ich weiß, wovon ich rede. Marianne und ich machen diese Tour im siebzehnten Jahr.« Ein kritischer Zug legte sich über das gemütliche Gesicht des gesprächigen Schiffers. »Viel Fahrt werden Sie heute nicht mehr machen können. Die Schleusen stellen gegen sechs den Betrieb ein. Allenfalls bis sieben haben Sie noch die Chance durchzukommen. Sie schaffen es höchstens bis Trèbes, aber auch dafür müssen Sie ordentlich Dampf machen. Wenn’s klappt, dürfen Sie sich auf ein nettes kleines Örtchen freuen. Im Weinkeller gleich neben der Anlegestelle können Sie sich einen wunderbaren Mascateur besorgen. Ganz in der Nähe gibt es auch eine hervorragende boucherie und eine kleine, aber feine pâtisserie.«
»Danke für die Tipps«, sagte Keller und witterte seine Chance. Gab es eine Möglichkeit, den anderen auf seine Zwangslage aufmerksam zu machen, ohne dass Geneviève es merkte? Schwerlich, denn der Mann war in entspannter Urlaubsstimmung, er würde versteckte Zeichen oder Hinweise wahrscheinlich gar nicht als solche erkennen.
»Wissen Sie was? Schieben Sie Ihre Weiterfahrt doch einfach um einen Tag auf! So laufen Sie nicht Gefahr, auf halbem Weg stecken zu bleiben und irgendwo auf freier Strecke zwischen den Schleusen L’écluse de l’Évêque und dem Pont-canal de L’Orbiel anlanden zu müssen.« Kumpelhaft legte er Keller den Arm um die Schultern. »Meine Frau Marianne und ich haben uns gefragt, ob Sie allein unterwegs sind. Ist das so?«
»Nun, ja …«
»Eigentlich bin ich nämlich hier, um Sie zu fragen, ob Sie uns heute Abend Gesellschaft leisten wollen. Marianne hat Bourride vorbereitet, ein Fischragout. Mögen Sie Fisch? Meine Frau hat Seehecht und Seeteufel vom Markt besorgt, dazu gibt’s Gemüse, Weißwein und einen ordentlichen Schlag Aioli. Marianne und ich würden uns freuen, mal wieder mit einem Landsmann zu plaudern. Ich hab sogar ein paar Dosen Beck’s im Kühlschrank, falls Sie mal eine Abwechslung zum Wein brauchen.«
Keller wurde angst und bange. Er musste mit Sicherheit davon ausgehen, dass Geneviève aus ihren Beobachtungen Schlüsse zog. Aus dem anbiedernden Verhalten des Fremden würde sie vielleicht folgern, dass Keller sich mit ihm gegen sie verschwor. Das wiederum könnte sie zu vorschnellem Handeln verleiten, und sie würde entweder auf Keller und den Urlauber oder aber auf Selena schießen.
Eine solche Eskalation konnte Keller nicht verantworten. Deshalb schob er den Arm des Mannes beiseite und ging demonstrativ auf Abstand.
Laut und deutlich, sodass es auch unter Deck der Bonheur zu verstehen war, sagte er: »Es tut mir leid, mein Herr, aber ich habe andere Pläne. Danke für Ihre freundliche Einladung, und richten Sie Ihrer Frau bitte schöne Grüße von mir aus.« Selbst wenn Geneviève kein Wort Deutsch verstand, musste sie aus seinem abweisenden Auftreten schließen, dass er dem anderen eine Abfuhr erteilte.
Abermals machte Keller sich an der Leine zu schaffen. Doch die Hoffnung, den Freizeitschiffer losgeworden zu sein, trog: Der Mann stand noch immer an Ort und Stelle und schaute Keller zu. »Sie sollten Segelhandschuhe tragen, dann leiden die Hände beim Hantieren am Tauwerk weniger.«
»Danke für den Hinweis«, gab Keller verkniffen von sich.
»Gern. Und achten Sie immer darauf, dass Ihre Taue korrekt aufgerollt sind und griffbereit auf der Brücke liegen. Eine Leine, die sich um die Schraube wickelt, verursacht eine lästige und unnötige Panne.«
»Ich werde darauf achten. Nochmals danke!«
»Ach, was soll’s! Bis Marianne mit dem Fisch so weit ist, kann ich Ihnen ja helfen. Ich komme rasch an Bord und bediene den Motor. Ein Stück zurücksetzen, schon ist die Leine nicht mehr so straff. Dann tun Sie sich leichter mit dem Lösen des Knotens.« Kaum gesagt, setzte der Mann einen Fuß auf die Stiege, die aufs Deck der Bonheur führte.
Keller zuckte zusammen. »Halt!«, rief er so laut, dass auch der andere zusammenfuhr. »Lassen Sie das! Bitte! Ich komme schon allein zurecht.«
Der Mann sah ihn verblüfft an und zog seinen Fuß zurück. Er wirkte erstaunt und beleidigt zugleich. »Ich wollte ja nur behilflich sein«, meinte er schmallippig.
»Das ist nicht nötig.« Keller sagte das ohne jedes weitere Wort der Erklärung.
Der Urlauber blieb stehen, als wartete er darauf, dass es sich Keller anders überlegte. Als dieser sich aber wieder der Leine zuwandte, räumte er schließlich kopfschüttelnd das Feld. Keller meinte noch, die Worte »undankbar« und »unhöflich« zu hören, dann verschwand der Mann in Richtung seines eigenen Bootes. Keller atmete auf.
Doch das Gefühl der Erleichterung hielt nur kurz an. Die Gefahr war lange nicht gebannt; das Schlimmste stand ihm womöglich noch bevor. Also machte er weiter, warf nun auch die hintere Leine an Deck und sprang zurück an Bord. Er stellte sich hinter den Steuerstand und legte seine Hand auf den Gashebel.
In seinem Rücken öffnete sich ein Fenster einen Spaltbreit. Ohne dass sie zu sehen war, erteilte Geneviève ihre nächsten Befehle: »Bringen Sie uns aus dem Hafenbecken. Aber machen Sie schnell! Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Keller gehorchte. Zunächst legte er den Rückwärtsgang ein und betätigte den Gashebel. Der Dieselmotor brummte auf und brachte den Schiffsboden zum Erzittern, das Schiff setzte sich in Bewegung.
Die Bonheur beschrieb einen leichten Bogen, als sie träge durch das Wasser pflügte. Obwohl Keller um Konzentration bemüht war, kam er bei dem Wendemanöver einem der benachbarten Kähne zu nahe. Mit einem ihrer Fender touchierte die Bonheur die Bordwand des anderen Schiffes, das von dem Ruck durchgeschüttelt wurde. Die Passagiere des anderen Hausbootes, die weintrinkend auf dem Sonnendeck saßen, warfen Keller vorwurfsvolle Blicke zu. Er antwortete mit entschuldigenden Gesten.
»Noch so ein Versuch, und mit Selena ist es aus und vorbei!«, sagte Geneviève hinter ihm.
Keller stand der Schweiß auf der Stirn. Sie würde ihren Worten Taten folgen lassen, das war für ihn so sicher wie das Amen in der Kirche. Er musste höllisch aufpassen, dass ihm kein weiterer Fehler unterlief. Er durfte Geneviève keinen Vorwand liefern, ihre Waffe zu gebrauchen.
Das Hausboot war nun aus dem Windschatten der anderen Schiffe gelangt, und Keller schaltete in den Vorwärtsgang. Wieder drehte der Motor hoch und beschleunigte auf Reisegeschwindigkeit. Sie lag nicht weit über der eines strammen Spaziergangs – ob Geneviève das reichte? Es musste, viel mehr gab die Bonheur nun mal nicht her.
Keller bog vom Hafen in den Kanal ein und hielt in der rechten Fahrrinne Kurs, in gebührendem Abstand zu einem entgegenkommenden Boot. Aber wie ging es jetzt weiter? Wo wollte Geneviève mit ihm und Selena hin?
Er neigte den Kopf zur Kajüte und fragte: »Was nun? Wir sind auf dem Kanal. Ist es das, was Sie wollten?«
»Nicht umdrehen!«, herrschte Geneviève ihn an. »Bringen Sie uns durch die erste Schleuse. Sie steht noch offen, ein anderes Boot fährt gerade ein. Hängen Sie sich dran.«
Diese Schleusenanlage unmittelbar hinter dem Hafenbecken würde sie auf eine Route kanalabwärts bringen, auf Trèbes zu, jenes Städtchen, das der geschwätzige Ruhrpottler erwähnt hatte. War das vielleicht das Ziel von Geneviève? Oder war es ihr egal, wohin die Reise ging? Wollte sie nur weg von hier, hinaus aus dem belebten Hafen?
»Machen Sie schon!«, befahl sie.
Keller drückte den Schubhebel nach vorn und ließ die Bonheur in die offene Schleusenkammer gleiten. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum war er eingefahren, schlossen sich die eisenbeschlagenen Tore hinter dem Heck. »Was soll ich als Nächstes tun?«, rief er gegen das Dröhnen des Motors an.
»Halten Sie die Position, der Rest ergibt sich«, lautete die Anweisung aus der Kajüte.
Keller tat, wie ihm befohlen. Er ließ das Boot zur Mitte der Kammer treiben, dann legte er den Schubhebel um, sodass sich die Schraube rückwärts drehte und das Schiff abbremste.
Kaum war die Bonheur zum Stillstand gekommen, tauchten zwei Frauen und ein Mann auf der Schleusenmauer auf. Offenbar stammten sie von einem entgegenkommenden Boot, das auf der anderen Seite der Schleuse warten musste. Als sie sahen, dass Keller allein an Deck war, gaben sie ihm zu verstehen, dass er ihnen die Leinen zuwerfen sollte.
Eigentlich hilfreich und nett, dachte Keller. Allerdings wurde ihm damit der Grund genommen, selbst an Land zu gehen, und damit eine Gelegenheit, jemanden auf seine Notlage hinzuweisen.
»Schmeißen Sie die verdammten Taue rüber!«, zischte Geneviève ihm zu.
Keller musste einsehen, dass Geneviève ihn nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. Viel Spielraum für Tricks blieb ihm also nicht. Mit einem Lächeln, das ihm sehr schwerfiel, reichte er den Wartenden die Seilenden an und sah zu, wie sie sie an den Pollern festzurrten.
Wasser strömte aus und ließ den Spiegel langsam sinken. Zentimeter um Zentimeter sackte die Bonheur in die Tiefe. Das abfließende Nass machte den Blick frei auf die mit dunkelgrünen Algen überzogenen Kammerwände, an denen sich glitzernde Rinnsale ihren Weg in die Tiefe suchten. Es war, als würde man in sein eigenes Grab hinuntergelassen.
Die Helfer am Beckenrand schenkten ihm keine weitere Beachtung. Hätte er versucht, ihnen versteckte Zeichen zu geben, wäre es ihnen nicht aufgefallen. Daher ging er kein unnötiges Risiko ein und ließ es bleiben.
Die vom abströmenden Wasser aufgewühlte Oberfläche beruhigte sich, als das niedrigere Niveau des nächsten Kanalabschnitts erreicht war. Der Mann auf der Mauer löste die Taue und warf sie nach unten, ohne Keller noch eines Blickes zu würdigen. Seine beiden Begleiterinnen waren bereits gegangen, wahrscheinlich zurück an Bord ihres eigenen Schiffes.
»Motor anlassen«, bestimmte Geneviève, kaum dass sich die vorderen Tore auftaten.
Keller folgte ohne Widerworte und legte den Schubhebel nach vorn. Gemächlich schlich die Bonheur aus der Kammer, dicht vor ihrem Bug das zweite Schiff, das mit ihnen talwärts geschleust worden war.
Draußen trieb wie erwartetet das Hausboot der Helfer, ein Luxuskahn, auf dessen Sonnendeck Keller die beiden Frauen erkannte, die ihm beim Schleusen zur Hand gegangen waren. Er nickte ihnen zu, doch es erfolgte keine Reaktion. Keller würde auf eine neue Gelegenheit warten müssen, um einen Rettungsversuch zu wagen.
»Geben Sie Gas!«, hörte Keller Geneviève aus dem Hintergrund. »Überholen Sie, hängen Sie das andere Boot ab!«
Keller schob den Gashebel bis zum Anschlag nach vorn. Die Bonheur reagierte mit einem kernigen Geräusch ihres Dieselmotors und nahm Fahrt auf. Das Hausboot, das vor ihnen die Schleuse verlassen hatte, war größer und um einiges schwerfälliger. Mühelos konnte Keller mit der Bonheur daran vorbeiziehen und gewann rasch Abstand.
»Was soll ich als Nächstes machen?«, rief er nach hinten. »Wo wollen Sie überhaupt mit uns hin? Was haben Sie vor?«
»Behalten Sie die Hände am Steuer, und schauen Sie geradeaus«, lautete die wenig erhellende Antwort. »Ich werde Ihnen früh genug sagen, was zu tun ist.«
Hatte Keller darauf spekuliert, trotz des Überholmanövers in Sichtkontakt mit dem anderen Hausboot zu bleiben, um bei Gelegenheit doch noch um Hilfe zu rufen, wurde diese Hoffnung enttäuscht: Als er sich nach dem anderen Schiff umblickte, musste er mit ansehen, wie es langsamer wurde und nach rechts ans Ufer zog. Jemand sprang an Land, ein Tau flog durch die Luft. Offensichtlich war die Besatzung des Bootes entschlossen, hier die Nacht zu verbringen. Nach der nächsten Kehre war das Schiff schon nicht mehr zu sehen. Verdammt!, dachte Keller.
Worauf hatte er sich bloß eingelassen? Keller ertappte sich bei dem Gedanken, dass er bereits mehrere Chancen vertan hatte, sich aus dem Staub zu machen. Gleich am Anfang, beim Lösen der Taue, und gerade eben an der Schleuse. Hätte er rasch genug reagiert, wäre er womöglich davongekommen.
Doch das hätte bedeutet, Selena in den Händen dieser Frau zurückzulassen. Das kam nicht infrage. Fürs Erste fügte er sich in sein Schicksal und hielt die Bonheur stur auf Kurs.
Die Strahlen der tief stehenden Sonne brachen sich in den Laubkronen der Uferbäume und ließen das Wasser in Rosatönen schimmern. Auf dem schmalen Treidelpfad zu seiner Rechten sah Keller eine Gruppe Fahrradfahrer, die ihm fröhlich zuwinkte. Er winkte zurück und dachte: Wenn die wüssten!
Keller ließ den Gashebel in Position, als er die Bonheur einige Meter weiter in die Mitte des Kanalbetts steuerte. Damit wich er einem ausrangierten Frachtkahn aus, der an der Böschung lag. Farbenfroh gestrichen und mit Blumenkästen behängt, diente er als alternatives Wohnquartier. Ähnliche schwimmende Behausungen hatte Keller unterwegs immer mal wieder gesehen, zuletzt während seines Spaziergangs nahe Carcassonne.
»Gibt der Motor nicht mehr her? Wir müssen schneller vorankommen!«, trieb Geneviève ihn an.
Keller drückte den Gashebel durch. Mehr ging nicht. Der Motor begann zu dröhnen, die Bonheur machte aber kaum mehr Tempo. »Man sollte die Maschine nicht dauerhaft auf Volllast fahren«, warnte Keller. »Sie läuft sonst heiß.«
»Das Risiko gehe ich ein! Fahren Sie weiter!«
Die Wasserstraße verlief jetzt schnurgerade, und Keller konnte die weitere Wegstrecke gut überblicken. Er sah nur noch wenige andere Boote, und auch die Passanten auf den Uferwegen wurden seltener. In einigen Hundert Metern Entfernung erkannte er das nächste Sperrtor. Keller hielt darauf zu.
»Das müsste die Écluse Saint-Jean sein«, meldete sich umgehend Geneviève hinter ihm. »Sie wissen, was Sie zu tun haben?«
Keller schaltete auf stur. »Nein«, sagte er.
»Dasselbe wie bei der letzten Schleuse.«
»Was, wenn diesmal niemand in der Nähe ist, der mir helfen kann?«
»Sie werden schon eine Lösung finden. Notfalls hilft der Schleusenwärter.«
»Falls er nicht schon Feierabend gemacht hat.«
»Das werden wir gleich wissen. Aber passen Sie auf, ich werde Sie genau im Blick behalten. Eine falsche Bemerkung dem Wärter gegenüber und …«
»Ja, ich weiß Bescheid«, gab Keller verbittert von sich.
Die Écluse Saint-Jean war alt, sie stammte aus der Zeit des Kanalbaus und war einfach konstruiert. Ihre keilförmig angeordneten Tore mit eisernen Rahmen waren an großen Mauerblöcken befestigt und mit daumendickem Blech verstärkt. Darüber befand sich ein schmaler Steg mit eisernem Handlauf. Im Kontrast dazu stand eine moderne Straßenbrücke, die sich auf zwei Betonstützen über den Kanal spannte.
Keller betätigte das Horn, woraufhin sich die Tore wie von Geisterhand öffneten. Der Schleusenwärter war also noch im Dienst. Keine Selbstverständlichkeit, denn was die Arbeitszeiten anging, waren die meisten der Wärter sehr kreativ. Eine Stunde hin oder her spielte für sie überhaupt keine Rolle, und oft waren die Bootsfahrer auf ihren guten Willen angewiesen, wie Keller aus eigener Erfahrung nur zu gut wusste.
Es war wie verhext: Auch diesmal hatte Keller keinen Grund, das Boot zu verlassen. Wieder wurde ihm beim Vertäuen geholfen, und wieder bekam er keine Gelegenheit, sich mitzuteilen, während die Bonheur auf der sprudelnden Gischt schaukelte. Kaum war der Schleusungsvorgang abgeschlossen, lag das Boot wieder träge auf dem Wasser. Die vorderen Tore schwangen auf, ohne dass Keller noch jemanden am Ufer zu Gesicht bekam.
Verflucht!, dachte er. Eine weitere vertane Chance! Er fragte sich, wie lange Geneviève ihn diese Fahrt fortsetzen lassen würde. Was war ihr Ziel? Hatte sie überhaupt eines?
Mit mulmigem Gefühl registrierte er, dass die Umgebung immer einsamer wurde. Wollte Geneviève die Dämmerung abwarten, um Selena und ihn irgendwo in der Abgeschiedenheit zu töten? Diese Vermutung lag nahe …