Eine Hand am Steuer, die andere auf dem Gashebel. Fast mechanisch lenkte Keller das Boot, während seine Gedanken darum kreisten, wie er sich und Selena aus dieser Falle befreien könnte.
Wieder und wieder fragte er sich, wie weit Geneviève gehen würde. Ob sie es wirklich fertigbrächte, auf zwei Menschen zu schießen und sie beide umzubringen. Natürlich, lautete die Antwort, die Keller sich im Stillen selbst gab. Denn es sprach ja alles dafür, dass sie es schon einmal getan hatte – bei Madame La Croix und ihren Kindern.
Aber was hatte sie zur Täterin gemacht? War sie verrückt? Durchgedreht aus irgendeinem, ihm nicht bekannten Grund? So einfach war es sicher nicht, überlegte Keller, sie schien ihm keine von einer Psychose gesteuerte Täterin zu sein, sie war zu kontrolliert. Es musste einen Auslöser gegeben haben, durch den ihr die Sicherungen durchgebrannt waren, einen Auslöser, der sie nun weiter vorantrieb und jedes Gefühl der Mitmenschlichkeit erstickte. Und der so mächtig war, dass sie vermutlich auch vor weiteren Morden nicht haltmachen würde.
Ja, sagte er zu sich selbst, bei Geneviève hatte er es sehr wahrscheinlich mit einer Täterin zu tun, die trotz ihres selbstbewussten Auftretens extreme innere Konflikte kompensieren musste. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass sie dermaßen skrupellos vorging.
Noch wusste er nicht, was ihr Verhalten ausgelöst hatte. Doch er war fest entschlossen, es herauszufinden. Nur wenn er sie genauer kennenlernen und ihren Schwachpunkt aufspüren konnte, hätte er eine Chance, es mit ihr aufzunehmen.
»Sie wissen, dass Sie das hier nicht tun müssten«, suchte er nach einem Anfang.
Keine Antwort.
»Denken Sie darüber nach. Denken Sie über andere Möglichkeiten nach.«
Schweigen.
»Es gibt für alles eine Lösung. Was auch immer Ihr Problem ist, ich bin sicher …« Weiter kam er nicht.
»Halten Sie den Mund!«, rief Geneviève erbost.
»Aber ich möchte …«
»Schluss! Ich will nichts hören!«
Keller schwieg und konzentrierte sich wieder auf die Wegstrecke. Das Kanalbett lag friedlich und still vor ihm, ein vollendeter Gegensatz zur Stimmung an Bord.
Während die Bonheur über das dunkle Wasser glitt, beobachtete Keller ein Paar grün schimmernder Libellen, die das Boot begleiteten. Am Ufer jagte eine streunende Katze einigen Vögeln hinterher. Nur Menschen sah er keine mehr.
»Wie weit noch?«, fragte er, nach hinten gerichtet.
»Nicht mehr weit«, lautete die Antwort.
Hieß das, dass für ihn und Selena das Ende nun sehr nahe war? Keller wollte diese düstere Aussicht nicht an sich heranlassen, er suchte immer noch fieberhaft nach einem Ausweg.
Kurz darauf näherten sie sich der nächsten Schleuse, die Écluse du Fresquel lag wenige Hundert Meter vor ihnen. Bot sich dort eine letzte Möglichkeit, jemanden von seiner Notlage in Kenntnis zu setzen?
»Schleuse voraus!«, meldete er.
»Gut«, meinte Geneviève. »Sie kennen das Spielchen ja inzwischen. Noch diese eine Staustufe, dann haben wir es geschafft.«
Was geschafft?, fragte sich Keller, sprach es aber nicht laut aus. Er konnte sich ausmalen, dass es für ihn und Selena hinter der Schleuse nicht einfacher werden würde, im Gegenteil! Die Écluse du Fresquel war wahrscheinlich ihre letzte Chance, sich aus der Gewalt dieser Frau zu befreien.
Trutzig wie Burgmauern zeichneten sich die Schleusenwände gegen die tief stehende Sonne ab. Keller hielt die Hand an die Stirn, um nicht vom Abendlicht geblendet zu werden. Im Näherkommen erkannte er, dass die Schleuse geschlossen war.
»Da kommen wir wohl zu spät«, sagte er erleichtert. Wenn sie heute nicht mehr geschleust wurden, waren sie gezwungen, an Ort und Stelle anzulegen und die Nacht hier zu verbringen. Geneviève würde dann nichts gegen sie unternehmen können, denn noch war die Gegend nicht einsam genug für die Umsetzung ihrer teuflischen Pläne.
»Abwarten!« Geneviève wagte sich aus der Deckung, um sich selbst ein Bild der Lage zu machen. Dabei stieß sie Keller mit dem Lauf ihrer Pistole an. »Los, weiter! Bringen Sie uns näher ran!«
Keller musterte sie kalt. »Woher können Sie mit diesem Ding eigentlich so gut umgehen?«, fragte er. »Soweit ich weiß, müssen Sie Madame La Croix und ihre Kinder aus mehreren Metern Entfernung erschossen haben. Eine Meisterleistung.«
Überraschenderweise ging Geneviève diesmal auf sein Gesprächsangebot ein. Während sie mit den Augen unablässig das Ufer absuchte, sagte sie: »Ich bin Kunstschützin. Ein Hobby. Habe schon als Sechzehnjährige damit angefangen.«
»Das erklärt manches«, bemerkte Keller. »Aber es ist ein Unterschied, ob man auf Schießscheiben und Tontauben anlegt oder auf Menschen. Letzteres kostet Überwindung.« Er blickte auf die Waffe, die ruhig in ihrer Hand lag. »Würden Sie es wieder tun?«
»Jederzeit«, antwortete Geneviève ungerührt.
Keller lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Geneviève war längst wieder in der Kajüte verschwunden, als die Bonheur vor der Schleuse ankam. Malerisch lag die betagte Anlage mit ihren groben Mauersteinen und den gusseisernen Armaturen vor ihnen. Nur ein paar Schritte vom Schleusenbecken entfernt erhob sich das Schleusenwärterhäuschen hinter einem liebevoll gepflegten Vorgarten. Zwei Stockwerke, zart rosa verputzt, die Fensterläden lindgrün gestrichen. Vom Schleusenwärter war nichts zu sehen.
»Hupen Sie!«, rief Geneviève.
Keller betätigte das Signalhorn. Nichts tat sich.
»Noch mal!«
Erneut drückte Keller den Knopf. An Land blieb alles ruhig.
»Los, steuern Sie ans Ufer!«, befahl Geneviève ungehalten.
Keller kurbelte am Steuerrad. »Und wozu soll das gut sein?«, erkundigte er sich.
»Das werde ich Ihnen sagen: Sie gehen an Land und bedienen das verdammte Ding selbst.«
»Die Schleuse selbst bedienen?«, wunderte sich Keller. »Wenn es keine automatische ist, werde ich nichts ausrichten können.«
»Und ob Sie das können! Die meisten Schleusen lassen sich auch von Hand bedienen. Ich werde Ihnen die Taue zuwerfen und das Boot so lange auf Position halten.«
»Ich dachte, Sie wollen nicht gesehen werden.«
Geneviève zog sich die Baseballmütze wieder tiefer ins Gesicht. »Lassen Sie das mal meine Sorge sein.«
Keller nickte verdrießlich. Geneviève schien fest entschlossen, ihr Vorhaben durchzusetzen – Widerstand war zwecklos. Vielleicht aber bot sich durch ihre Verbissenheit auch eine neue Chance. Denn möglicherweise würde Keller bei seinem Landgang doch noch eine Gelegenheit bekommen, mit jemandem Kontakt aufzunehmen. Impulsiv fasste er nach seiner Hosentasche und fühlte, wie sich sein Handy unter dem dünnen Stoff abzeichnete.
Mit neuer Hoffnung bugsierte er die Bonheur an die Böschung. Ein Tauende in der Hand, sprang er an Land und schlang die Leine um den Stamm eines Uferbaums. Als Nächstes würde er die Stufen zum Schleusenwärterhaus erklimmen und so tun, als ob er nach dem Schleusenmechanismus suchte, in Wahrheit aber sein Handy benutzen, um den Notruf zu wählen. Doch diese Pläne zerschlugen sich schneller als erwartet.
»Halt!«, rief Geneviève ihm zu, kaum dass er das Boot vertäut hatte. »Werfen Sie mir das Ding rüber, bevor Sie gehen!«
Keller verzichtete darauf, den Ahnungslosen zu mimen. Er griff in seine Tasche und händigte Geneviève sein Smartphone aus. Diese bedachte ihn mit einem strafenden Blick und ließ das Handy ins Wasser fallen.
»Machen Sie schon!«, keifte sie. »Ich gebe Ihnen zehn Minuten. Keine Sekunde mehr.«
»Was ist, wenn ich länger brauche? Wenn ich mit der Mechanik nicht zurechtkomme?«
»Denken Sie an Selena.«
Keller sah ein, dass jede weitere Diskussion sinnlos war. Er wandte sich ab und stieg die ausgetretenen Stufen zum Schleuserhäuschen hinauf. Es wirkte verlassen, also ging er gleich weiter zu einer Vorrichtung mit Handrädern. Die eisernen Ringe waren mehrfach mit Farbe gegen den Rost gestrichen worden. Dennoch platzte der Lack an vielen Stellen ab und zeigte, wie alt die Anlage war.
Doch wie Keller schnell feststellte, war die Schleuse bereits elektrifiziert worden. Ganz in der Nähe, verborgen unter einer Plane, fand er ein Steuerpult, mit dem die Schleuse bedient werden konnte – wenn man denn wusste, wie.
An den nicht bemannten Schleusen ließen sich die Tore allein mit Muskelkraft öffnen und schließen, und zwar mithilfe langer Hebel, die auf ein Zahnradsystem wirkten, eine ebenso schlichte wie verlässliche Mechanik. Auch das Ablassen des Wassers war bei solchen einfachen Schleusen quasi selbsterklärend. Bei einer automatisierten Schleuse wie dieser sah die Sache jedoch anders aus.
Die Zeit verrann. Das machte ihn nervös, denn Geneviève sah sicher schon ungeduldig auf die Uhr. Sie würde ihm die Hölle heißmachen, wenn er sich verspätete. Andererseits hatte die Verzögerung auch ihr Gutes: Je mehr Zeit verstrich, desto dämmriger wurde es. Und je dunkler es wurde, desto größer standen seine Chancen, dass er Geneviève überwältigen konnte.
Noch während er an seiner Taktik feilte, hörte Keller ein Geräusch. Es kam aus der Richtung des Hauses. Er wandte den Kopf und erkannte zu seiner Verwunderung einen gebeugt gehenden Mann, der schlurfend aus dem Gebäude kam. Er war uralt, trug eine blaue Latzhose über dem hellen Leinenhemd und auf dem Kopf eine Baskenmütze. Fehlte bloß noch das Baguette unterm Arm, dachte Keller mit einem kurzen Anflug von Heiterkeit, als er diesem Inbegriff eines alten Franzosen entgegenblickte.
»Bonsoir, Monsieur«, sagte der Mann mit zittriger Stimme. »Die Schleuse ist geschlossen. Verstehen Sie? Fermé. Kommen Sie morgen wieder.«
Keller schaute erst ihn an, dann reckte er sich und hielt Ausschau nach Geneviève auf der Bonheur. Er wollte ihr signalisieren, dass es heute kein Weiterkommen mehr für sie gab.
»Wenn Sie es allerdings sehr eilig haben …«, sagte der Alte, nachdem er Keller ausgiebig gemustert hatte. Ein verschmitztes Lächeln erschien auf seinem zerknitterten Gesicht. »Warten Sie hier. Einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da.«
Ziemlich ratlos sah Keller zu, wie der Schleusenwärter sich wieder entfernte und im Haus verschwand. Sofort wanderten seine sorgenvollen Blicke in Richtung der Bonheur, die scheinbar harmlos am Ufer dümpelte.
Was waren seine Optionen?, überlegte er. Sollte er das Gespräch mit dem Alten nutzen und ihn bitten, die Polizei zu verständigen?
Aber würde er ihm glauben? Oder würde der Alte erst zum Boot gehen, um sich selbst zu überzeugen – und Geneviève damit einen Vorwand liefern, einen weiteren lästigen Zeugen aus dem Weg zu räumen?
Nein, das durfte nicht geschehen. Was also sonst? Keller zermarterte sich den Kopf, ob es nicht irgendeinen anderen Weg gab, dem Mann eine Nachricht zu übergeben, ohne dass Geneviève etwas davon mitbekam.
Während er nachdachte, fasste er in seine Hosentaschen und bekam ein Stück Papier zu fassen. Das musste ein Einkaufszettel sein, auf dem er seine letzten Besorgungen notiert hatte. Konnte er damit etwas anfangen? Keller suchte weiter, denn zum Abhaken der erledigten Dinge führte er meistens auch einen kurzen Bleistift bei sich. Er tastete seine Taschen danach ab.
Wenig später tauchte der Schleusenwärter mit einem Weidenkorb unterm Arm auf. Der Mann stellte den Korb auf einem Poller ab und präsentierte Keller stolz den Inhalt: mehrere Einmachgläser mit Bügelverschluss und handgeschriebenen Etiketten, die eine cremig gelbe Flüssigkeit enthielten.
»Narbonne-Honig. Schon probiert? Es gibt keinen besseren.« Er griff in den Korb und hielt Keller eines der Gläser hin. »Der Imker ist ein guter Freund von mir. Er mischt Rosmarin bei, das verleiht dem Honig seine besondere Note. Wir haben auch Honigkuchen. Hausgemacht. Möchten Sie kosten?«
Keller zögerte. Er wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Außerdem verriet ihm ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr, dass die Zeit, die ihm Geneviève für den Landgang gegeben hatte, schon beinahe abgelaufen war. Er durfte nicht riskieren, Selena Genevièves Unberechenbarkeit auszusetzen.
Der Schleusenwärter nahm ihm die Entscheidung ab, indem er Keller drei Honigtöpfe reichte. »Nehmen Sie sie. Ich mache Ihnen einen guten Preis. Dazu zwei Honigkuchen und einen Rosé, dann drücke ich beide Augen zu.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Ich werde die Schleuse ausnahmsweise noch einmal in Betrieb nehmen«, sagte der Mann gönnerisch. »Für einen guten Kunden wie Sie ist mir das die Mühe wert.«
Keller zückte seufzend sein Portemonnaie.
»Warum hat das so lange gedauert?«, fauchte Geneviève, kaum dass Keller zurück an Bord war. »Worüber haben Sie mit dem Alten gequatscht? Haben Sie mich etwa verraten?«
Im Gegensatz zu Geneviève versuchte Keller, besonnen zu bleiben, als er erklärte: »Ich habe ihm diese Dinge hier abgekauft. Dafür lässt er uns passieren. Mehr war nicht.«
»Ich glaube Ihnen nicht! Wenn Sie geredet haben, dann gnade Ihnen Gott.«
Schlimmer konnte es ohnehin kaum werden, dachte sich Keller und zeigte auf die sich öffnenden Schleusentore. »Schauen Sie hin, und urteilen Sie selbst. Sieht so jemand aus, den man gerade vor einer mörderischen Psychopathin gewarnt hat?«
Geneviève warf ihm einen giftigen Blick zu, bevor sie sich ans Fenster stellte und hinaussah.
Der Schleusenwärter verrichtete in aller Seelenruhe seine Arbeit. Er nahm gelassen die Leinen entgegen, um dann auf einer windschiefen Bank Platz zu nehmen und zu warten, bis die Bonheur auf das tiefere Flussniveau abgesenkt worden war. Währenddessen gähnte er ausgiebig und blinzelte in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Seine Arglosigkeit würde selbst die überkritische Geneviève überzeugen, glaubte Keller und behielt recht: Die Anwältin unternahm nichts, sondern ließ Keller gewähren. Dieser rief dem alten Schleusenmann noch ein »Merci bien!« zu und brachte den Dieselmotor auf Touren.
Langsam schob sich die Bonheur aus der Schleusenkammer und setzte ihren Weg in der Dämmerung fort.
Die Arbeit an der Schleuse und die Unterhaltung mit dem Wärter hatten Keller abgelenkt. Das war eine wahre Wohltat gewesen, im Gegensatz zu dem, was ihn nun erwartete. Während er am Steuerruder stand, spürte er die Beklemmung, die an Bord seines Bootes herrschte. Von Selena war außer einem gelegentlichen leisen Wimmern kaum noch etwas zu hören. Als hätte sie sich mit ihrem traurigen Schicksal abgefunden. Auch Geneviève kam kein Wort mehr über die Lippen. Keller interpretierte das so, dass sie ihrem Ziel jetzt sehr nahe waren.
Was stand ihnen als Nächstes bevor? Eine Exekution in freier Natur? Oder spielte Geneviève am Ende selbst auf Zeit, weil sie genauso wenig wusste, wie es weitergehen sollte?
Das Einzige, was Keller klar erkannte, war die Tatsache, dass sein Handlungsspielraum immer kleiner wurde, je weiter sie sich von der Zivilisation entfernten. Er musste etwas unternehmen. Dringend!