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Mesoamerika (Guatemala), 2500 v. Chr.
»Zu Ehren Ra-Kas, dem Herrn der Unterwelt und Feuer der Erde«, brüllte der Hohepriester, »bringen wir dieses Opfer!«
Ein menschliches Herz pulsierte in der Faust des Hohepriesters, dessen letzte Schläge sich mit dem Rhythmus der zeremoniellen Trommeln zu vereinen schienen, die auf der Spitze der Steinpyramide ertönten. Hinter der Tempelanlage erhob sich ein riesiger Vulkan, der grollend Lava ausspie. Ströme geschmolzenen roten Gesteins liefen wie Adern die geschwärzten Hänge hinab und in den dampfenden Dschungel darunter.
Als der Hohepriester das Herz dem feurigen Gipfel entgegenstreckte, brach ein riesiger Jubel unter den Menschen aus, die auf dem Platz am Fuß der Pyramide versammelt waren. Der Vulkan antwortete mit einem weiteren finsteren Grollen. Dann verstummten die Trommeln und Schweigen senkte sich über die Menge.
Mit großer Vorsicht legte der Hohepriester das Herz in eine Holzschale und stellte diese vor die riesige Statue einer Gottheit mit
katzenähnlichen Augen und einem weit aufgerissenen, mit Reißzähnen gespickten Maul. Er selbst trug den Schädel und das gesprenkelte Fell eines Jaguars als Umhang. Sein rot bemaltes Gesicht ragte durch die geöffneten Kiefer des Schädels, dessen scharfe Zähne noch seine markanten Gesichtszüge betonten: eine Nase wie das Blatt einer Streitaxt, hohe Wangenknochen und schmale Augen, hart und obsidianschwarz. Im flackernden Licht des Feuers erschien der Hohepriester so furchterregend wie die Götter, die das Volk der Tletl verehrte.
Der Priester näherte sich dem steinernen Altar, wo noch immer die Leiche des Opfers lag: ein Junge, nicht älter als vierzehn Jahre, die Augen weit aufgerissen vor Schreck und Schmerz, die nun ein Ende gefunden hatten. Mit einem knappen Nicken befahl der Hohepriester seinen Gefolgsleuten, die Opferzeremonie zu vollenden.
Zwei muskelbepackte Männer mit nackten, geölten Oberkörpern zogen auf der obersten Plattform des Tempels eine Steinplatte zurück, und Schwaden von schwefligem Dampf wälzten sich in den düsteren Himmel. Vier mit Jaguarmasken vermummte Gefolgsleute hoben den schlaffen Körper des Jungen vom Altar und trugen ihn zu der Öffnung. Noch einmal entfesselten die Trommler einen schweren, donnernden Rhythmus, und die Menschen auf dem Platz begannen frenetisch dazu zu tanzen.
»Ra-Ka!«, rief der Hohepriester. »Wir opfern dir das Herz, den Körper und die Seele dieses Jungen! Verzehre sie mit deinem Feuer!«
Unter einem gewaltigen Jubelschrei der Menge wurde die Leiche in den brodelnden Lavasee geworfen. Der Hohepriester hob zum Zeichen der Ehrerbietung seine blutroten Hände, während das Trommeln zu einem Crescendo anstieg, bevor es abrupt verstummte –
Alles war totenstill. Dann begann die Erde zu vibrieren. Zuerst kaum wahrnehmbar, dann schwoll das Zittern zu einem heftigen Beben an.
Die Bäume wankten …
Vögel stoben auf …
Hütten erbebten …
Steinmauern bröckelten …
Und unten auf dem Platz barst der Boden wie ein ausgetrocknetes Flussbett, Risse schlängelten sich zwischen den Füßen der in Panik geratenen Zuschauer hindurch.
Tief unten in seinem Schlund grollte der Vulkan und spuckte Bälle flammenden Magmas und schwarze, heiße Aschewolken aus. Der mächtige Zorn ihres Gottes ließ die Menschen auf dem Platz aufschreien. Aber der Hohepriester blieb ungerührt. Furchtlos und furchterregend stand er über ihnen.
»Nun zum Haupt
opfer«, verkündete er, während das Erdbeben nachließ. »Dieses reine Opfer wird unseren Feuergott besänftigen und eine neue Morgendämmerung heraufbeschwören.«
Mit einem Lächeln so scharf wie eine Sense wandte sich der Hohepriester einem jungen Mädchen zu. Sie hatte lange tiefschwarze Locken, ein ebenmäßiges goldbraunes Gesicht und selbst jetzt strahlende Augen. Festgehalten von vier Gehilfen, wand sich das Mädchen verzweifelt, trat um sich und schrie, um dem Griff der Männer zu entkommen, die sie nun zum Altar schleppten. Die Trommeln hatten ihren donnernden Rhythmus wieder aufgenommen, und die Menge verfiel in einen rituellen Gesang.
»RA-KA! RA-KA! RA-KA!«
Das Mädchen wurde auf den Altar gehoben und fühlte, wie sich der kalte harte Stein gegen ihren nackten Rücken presste. Sie spürte auch die glitschig-warme Nässe des Blutes darauf. Vor lauter Schreck verstummten nun ihre Schreie, während ihre Gliedmaßen von den vier maskierten Männern auf den Altar gedrückt wurden.
Die dunklen, scheinbar seelenlosen Augen des Hohepriesters richteten sich auf sie, und jede Hoffnung, die sie noch in sich getragen hatte, wurde von diesem Blick ausgelöscht. Der Mann schwang in seiner Hand einen verzierten Jadedolch, in dessen Griff das Bild eines Jaguarmannes eingraviert war. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte das Mädchen verfolgen müssen, wie diese Klinge ihren Freund
aufgeschlitzt hatte. Sie war gezwungen gewesen, zuzusehen, wie der Hohepriester in den Körper des Opfers gegriffen und ihm das noch schlagende Herz aus der Brust gerissen hatte.
Doch ihr eigenes Herz schlug noch und das Mädchen wusste, dass es mit aller Kraft kämpfen musste. Sie bäumte sich in einem letzten verzweifelten Befreiungsversuch auf, aber es war zwecklos, und während der Hohepriester eine Beschwörungsformel ausstieß, in einer Sprache, die so alt war, dass sie wie dunkle Magie klang, fühlte sie jeden Widerstand schwinden.
»Rura, rkumaa, raar ard ruhrd,
Qmourar ruq rouhk ur darchraqq,
Ghraruq urq kugr rour ararrurd …«
Der Klang der Trommeln dröhnte in ihren Ohren und der Gesang der Menge wurde immer lauter und wilder.
»RA-KA! RA-KA! RA-KA!«
Durch die Bannformel des Hohepriesters versank das Mädchen in eine Art Trance. Ihre Seele schien sich von ihrem Körper zu lösen und aufwärtszuschweben, sodass sie wie aus großer Höhe verfolgte, wie der mit einem Jaguarschädel maskierte Priester mit dem Jadedolch ausholte, der immer noch vom Blut ihres Freundes triefte.
Mit hocherhobener Klinge warf der Hohepriester einen Blick zum Horizont und wartete auf den genauen Zeitpunkt, an dem die Sonne untergehen und die letzten Lichtstrahlen verlöschen würden … für immer
.