2
Als ich den Eingang zur U-Bahn erreiche, stelle ich zu meiner Bestürzung fest, dass die Station wegen Bauarbeiten geschlossen ist. Ein Schild weist mir den Weg zu einer Bushaltestelle auf der anderen Seite des Parks. Ich könnte einen Umweg machen, aber das würde ewig dauern, und laut Fahrplan würde ich den nächsten Bus verpassen. Und ich möchte einfach nur nach Hause. Mich in die Geborgenheit meines Zimmers flüchten.
Mein Handgelenk tut immer noch weh. Tatsächlich bildet sich bereits ein dunkler, ringförmiger Bluterguss. Was war nur mit diesem Jungen los? Die Art, wie er sich plötzlich … wandelte .
Anders kann man es nicht beschreiben. In einem Moment war er freundlich und charmant. Im nächsten war er wie ein Raubtier. Und dieses seltsame Erlebnis mit dem Jadedolch – das Dröhnen in meinen Ohren, die Schreie des Mädchens und der schreckliche Gestank von brennendem Haar. Was ist da nur mit mir geschehen?
Plötzlich habe ich das mulmige Gefühl, dass ich beobachtet werde. Ich schaue mich nervös um, erwarte fast, den Jungen aus dem Museum wiederzusehen. Die Straße ist dicht bevölkert. Eine Gruppe Betrunkener stolpert aus einer Kneipe, schreit und flucht. Ein verliebtes Paar schlendert Arm in Arm auf ein Restaurant zu. Gelächter kündigt eine Gruppe von Frauen in Cocktailkleidern an, die silberne Geburtstagsballons hinter sich herziehen. Ein Büroangestellter wedelt verzweifelt mit seinem Arm in meine Richtung … aber ich merke schnell, dass er gerade ein Taxi herbeiwinkt. Niemand nimmt auch nur die geringste Notiz von mir …
Dann bemerke ich eine Gestalt, die in einer dunklen Türöffnung herumlungert. Sie ist kaum mehr als ein Schatten. Aber obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, scheint sie mich direkt anzustarren.
Mein Herz schlägt schneller. Ist Damien mir gefolgt?
Ein Lkw fährt vorbei und versperrt mir die Sicht. Ich versuche, die Gestalt im Auge zu behalten. Aber als der Wagen vorüber ist, fehlt von dem Schatten in der Türöffnung jede Spur. Ich frage mich, ob ich die Gestalt tatsächlich gesehen habe. Vielleicht war es nur jemand, der seine Haustür aufgeschlossen hat …
Ich schüttele den kalten Schauder ab und studiere erneut den Fahrplan. Wenn ich den nächsten Bus verpasse, kommt eine ganze Stunde lang keiner mehr. Zögernd drehe ich mich um, betrete den Park und folge dann zügig den provisorischen Schildern aus der U-Bahn. Hier ist es viel stiller als auf der Straße. Aber ich sage mir, je schneller ich die Bushaltestelle erreiche, desto schneller komme ich nach Hause.
Der Weg verläuft diagonal durch den düsteren Park. Die Hälfte der Laternen ist defekt, sodass ich zwischen den gelben Lichtinseln immer wieder ins Dunkel tauche. Bei jedem Schritt fühle ich Blicke auf mich gerichtet. Meine Paranoia gerät außer Kontrolle. Schon als kleines Kind dachte ich oft, dass Menschen mich beobachten, und das geht mir immer noch so. Meine Eltern meinen, es sei völlig normal, Fremden gegenüber ein gesundes Misstrauen zu haben, aber das ist es nicht. Es gibt immer wieder Menschen, die mich ein bisschen zu lange anstarren, als würden sie überlegen, ob sie mich kennen. Manchmal denke ich sogar selbst, dass ich eine Person schon einmal gesehen habe. Ich erkenne sie tatsächlich wieder , obwohl ich ihr das erste Mal in meinem Leben begegne. Es ist eine sehr seltsame Art von Déjà-vu.
Tatsächlich habe ich oft Déjà-vu-Erlebnisse. Die Empfindung ist manchmal sehr stark. Ich erinnere mich noch genau, wie meine Eltern mich einmal zu einem Anwesen des National Trust mitnahmen, einem Landhaus aus dem 17. Jahrhundert in Berkshire. Damals war ich etwa acht. Wir nahmen an einer Führung teil und hatten gerade den Salon erreicht, als ich dringend auf die Toilette musste. Meine Eltern fragten die Führerin, eine ziemlich strenge alte Dame, die schmallippig antwortete, ich hätte vor Beginn der Führung gehen sollen, da die einzige öffentliche Toilette draußen am Eingang sei. Aber ich wusste – ich schwöre, das wusste ich wirklich –, dass es hinter dem Bücherregal in der Ecke eine Toilette gab. Die Führerin schaute mich durch ihre Perlmuttbrille an und sagte mir, ich solle mich nicht lächerlich machen. Aber ich blieb hartnäckig. Da kam zufällig der Chefkurator des Hauses vorbei und erklärte, dass es tatsächlich vor langer Zeit hier eine Toilette gegeben hatte, die aber zugemauert worden sei. Vor etwa hundertzwanzig Jahren! Meine Eltern hatten mich beide mit offenem Mund angestarrt. Ich hatte keine Erklärung für sie. Irgendwie hatte ich es einfach gewusst .
Mein Handy pingt in meiner Tasche. Ich bleibe stehen und schaue auf das Display. Eine Nachricht von Mei.
G, alles ok? Mach mir Sorgen um dich. Sims, wenn du zu Hause bist. x
Als ich ihr gerade antworten will, nehme ich aus den Augenwinkeln eine schemenhafte Bewegung wahr. Mein Puls geht hoch und ich spähe in die Nacht. Das Leuchten meines Handy-Displays hat mich kurz geblendet, aber ich bin mir sicher, dass ich eine Gestalt erkennen kann, die reglos mitten im Park steht. Es herrscht plötzlich eine absolute Stille und mich überläuft eine Gänsehaut. Schaudernd atme ich tief durch, um mich zu beruhigen.
Ich stecke mein Handy ein und mache mich wieder auf den Weg. Es ist völlig menschenleer hier. Wo sind denn alle? Warum nimmt niemand sonst diese Umleitung? Ich wünschte, ich wäre wieder inmitten einer trubeligen Menschenmenge. Endlich sehe ich die Bushaltestelle, auf der anderen Seite des Kinderspielplatzes, wie ein Leuchtfeuer, das Sicherheit verspricht. Ich laufe darauf zu, jede Lichtinsel der Laternen als Zufluchtsort vor der tückischen Dunkelheit nutzend.
Da huscht plötzlich eine Gestalt zu meiner Linken durch den Park. Dann sind da drei weitere Schatten.
Wie kannst du nur so dämlich sein, Genna! Wie oft haben Mum und Dad dich schon davor gewarnt, solche Risiken einzugehen? Warum zum Teufel habe ich diese Abkürzung genommen?
Jetzt erscheint die Bushaltestelle weiter weg als je zuvor. Ich beginne zu rennen. Mein Atem geht stoßweise, das Blut hämmert mir in den Ohren. Als ich den Spielplatz erreiche, tritt wie aus dem Nichts eine Gang in Kapuzenpullovern aus der Dunkelheit und versperrt mir den Weg. Sie umzingeln mich.
»Wohin so eilig?«, fragt einer von ihnen, sein Gesicht im Schatten der Kapuze verborgen.
»H-heim«, antworte ich mit zitternder Stimme.
»Nicht heute Nacht, tut uns leid.«
Ich kämpfe gegen meine Panik an, greife in die Jackentasche und ziehe meine Geldbörse raus. »Hier, nehmt«, sage ich und halte sie ihnen hin. Mein Vater sagt immer, falls ich jemals überfallen werde, soll ich ihnen einfach geben, was sie verlangen. Geld kann ersetzt werden – mein Leben nicht. Aber keiner von ihnen reagiert. Sie stehen nur da, Hände in den Taschen, Gesichter im Schatten.
Ich greife jetzt nach meinem Handy und strecke es ihnen hin. »Das ist alles, was ich habe. Bitte , nehmt es einfach und lasst mich in Ruhe.«
»Wir wollen weder dein Geld … noch dein Handy«, sagt einer der Kerle.
Mein Magen verkrampft sich. »Was wollt ihr denn
Er tritt ins Licht und enthüllt ein blasses Gesicht mit Augen, die so weit geöffnet sind, dass sie wie schwarze Löcher aussehen.
»Dich, Genna«, sagt Damien. »Wir wollen nur dich