3
Nackte Panik ergreift mich, als sich die fünf Kapuzenkerle von allen Seiten nähern und mich einkreisen. Ich bin wie erstarrt vor Angst, kann weder kämpfen noch fliehen, jeder normale Reflex ist ausgeschaltet. Der verzweifelte Versuch eines Schreis erstickt in meiner zugeschnürten Kehle. Meine Augen huschen umher und suchen nach irgendjemandem, der mir helfen könnte. Aber der Park ist vollkommen verlassen.
In einiger Entfernung sehe ich das Wartehäuschen der Busstation, Menschen laufen in ihre Handys vertieft daran vorbei, blind für alles um sie her. Der Lärm des Verkehrs und die Rufe der Nachtschwärmer dringen an meine Ohren, aber sie klingen seltsam gedämpft, als würde eine Glaswand den Park umgeben. Ich fühle mich völlig isoliert.
Als sich der Kreis weiter um mich schließt, greift einer der Kapuzenkerle sich meinen rechten Arm, ein anderer den linken. Erst jetzt finde ich meine Stimme wieder, ich rufe verzweifelt um Hilfe und bete, dass meine Schreie den Verkehrslärm übertönen. Doch sofort umschließt eine Hand meinen Mund.
Ich wehre mich und trete um mich. – Nein, nein, nein!
Weitere Hände greifen nach mir. Meine Beine werden unter mir weggerissen und sie schleppen mich auf den Spielplatz. Abseits des Laternenlichtes und der Hauptwege sind wir in völlige Dunkelheit gehüllt und vor möglichen Blicken verborgen. Grob lassen sie mich auf einen Picknicktisch fallen, halten meine Arme und Beine aber weiter fest umklammert. Mein Entsetzen wird noch verstärkt, weil die Gang in völliger Stille zusammenarbeitet. Mit ihren im Schatten der Kapuzen liegenden Gesichtern ragen sie über mir auf wie eine Bruderschaft gesichtsloser Mönche.
Damien nähert sich mir, ein dämonisches Grinsen verzerrt seine hübschen Gesichtszüge. »Keine Sorge, Genna – es ist bald vorbei.«
Er zieht ein Messer aus seiner Tasche – es ist der Jadedolch aus dem Museum! Die gebogene Klinge schimmert wie eine geschliffene Glasscherbe. Plötzlich erfüllt ein beißender Brandgeruch die Luft, und in meinen Ohren dröhnt wieder das ferne Trommeln. Alle noch verbliebenen Kräfte verlassen mich, ich liege schlaff auf dem Picknicktisch, spüre das harte Holz an meinem Rücken, während ich zu weinen beginne.
Doch plötzlich … wird einer meiner Angreifer nach hinten gerissen und landet mit ohrenbetäubendem Scheppern auf der metallenen Kinderrutsche.
Der Rest der Gang fährt herum. Eine Silhouette erhebt sich über dem gestürzten Kapuzenkerl – ein Teenager in einer ledernen Bikerjacke.
Damiens dunkle, unergründliche Augen sind nun auf den Angreifer gerichtet. »Ah, wen haben wir denn da?«, spöttelt er. »Einen Möchtegern-Helden?«
»Lasst sie gehen«, befiehlt der Junge. Der Hauch eines amerikanischen Akzents schwingt in seiner Stimme mit.
»Oh, was für ein knallharter Typ.« Damiens Tonfall ist herablassend. »Geh und spiel irgendwo anders den guten Samariter. Verzieh dich! «
Aber der Junge bleibt stehen, hoch aufgerichtet, die Fäuste geballt. »Das läuft nicht.«
Damien seufzt verärgert. »Vielleicht wirst du diese Entscheidung noch bereuen. Das heißt, falls du sie überlebst.« Und mit einem Nicken schickt er zwei von seiner Gang los, es mit dem Jungen aufzunehmen.
Meine Arme sind plötzlich frei und ich stemme mich vom Picknicktisch hoch.
»Ey, ey«, sagt Damien und deutet mit der Klinge auf mich. »Du gehst nirgendwohin.«
Ich sehe jetzt, dass die Person, die mein linkes Bein festhält, gar kein Kerl ist, sondern ein Mädchen. Jetzt löst sie ihren Griff, geht um den Tisch und packt mich stattdessen an den Haaren. Sie reißt meinen Kopf zurück, und ich zucke vor Schmerz zusammen. Mit dem Jadedolch an meiner Kehle kann ich nur zusehen, wie die beiden anderen auf meinen potenziellen Retter zumarschieren. Der an der Rutsche hat sich inzwischen ebenfalls erholt, ist wieder auf den Beinen und offensichtlich auf Rache aus. Es steht drei gegen einen, der Junge in der Lederjacke hat keine Chance. Aber als sie sich ihm nähern, nimmt er eine Art Kampfposition ein – die Beine leicht gespreizt, die Hände erhoben –, und ein winziger Funke Hoffnung regt sich in mir.
Die drei Kapuzentypen greifen gleichzeitig an. Der Junge weicht dem ersten Schlag aus und kontert mit einem Hieb, der so schnell kommt, dass ich ihn kaum wahrnehme. Seine Faust trifft das Kinn des ersten Angreifers und lässt ihn wie einen angeschlagenen Boxer taumeln.
Die nächste Kapuzengestalt attackiert ihn mit einem brutalen Tritt gegen das Bein, aber der Junge blockt mit dem Schienbein ab, bewegt sich dann blitzschnell vorwärts, packt seine Angreiferin am Arm und wirft sie über seine Schulter.
Sie landet mit einem harten, dumpfen Schlag auf dem Asphalt und ringt keuchend nach Atem.
Der dritte Schläger – der kräftigste von allen – stürzt sich wie ein Rammbock auf den Jungen. Mein Retter wird nach hinten geschleudert, die beiden donnern gegen ein mit Graffiti beschmiertes Karussell und setzen es in Gang. Das Spielgerät knarrt und ächzt, während der Kapuzentyp den Jungen mit hammerartigen Fäusten traktiert, der die Schläge abwehrt, so gut er kann. Ein Blutspritzer landet auf dem Metall des Karussells.
»Aufhören! AUFHÖREN !«, schreie ich, aber ich weiß, dass es vergeblich ist. Der Brutalo drischt nur noch wilder auf ihn ein, bis ich ein widerliches Knirschen höre und erneut Blut spritzt. Ich zucke zusammen … bevor ich begreife, dass dies nicht das Blut des Jungen ist.
Es stammt aus der Nase des Schlägers, die ihm durch einen kräftigen Stoß mit der Handfläche gebrochen wurde. Mit einem dumpfen Heulen stürzt er gegen das Karussell, die sich drehenden Stäbe knallen gegen seinen Kopf und schlagen ihn k.o.
Damien spuckt vor Verachtung über das Versagen seiner Gang aus. Er starrt das groß gewachsene Mädchen an, das mich immer noch festhält. Er befiehlt: »Mach dem ein Ende«, während mein Retter sich wieder aufrichtet.
Während Damien mir den Dolch noch fester an die Kehle drückt, huscht sie hinüber, um sich in den Kampf einzuschalten. Die ersten beiden Angreifer, die jetzt wieder im Einsatz sind, stürzen sich wie Kampfhunde auf meinen Retter. Der Junge ist so darauf konzentriert, sie abzuwehren, dass er weder das Mädchen hinter sich bemerkt – noch die Waffe in ihrer Hand.
»Vorsicht!«, rufe ich. Aber es ist bereits zu spät.
Sie schlägt ihm mit einem Stück Stahlrohr auf den Hinterkopf, und der Junge geht in die Knie. Die beiden anderen fangen an, auf ihn einzutreten, als wäre er ein Fußball.
Damien lacht grausam. »Oh ja, von Hero zu Zero!«
Seine sadistische Freude über den Sturz meines Retters lässt eine Welle der Wut in mir aufwallen. Während Damiens Aufmerksamkeit auf den Kampf gerichtet ist, verpasse ich ihm einen harten Tritt mit dem Fuß und erwische ihn in der Leiste. Er krümmt sich vor Schmerz, hält seinen Unterleib umklammert. Ich rolle vom Picknicktisch und stolpere davon. Desorientiert und mit weichen Knien taumle ich über den Spielplatz und suche einen Fluchtweg.
Damien brüllt vor Wut und macht sich an die Verfolgung.
Ich winde mich durch die Stäbe eines riesigen Klettergerüsts und versuche, ihn in der Dunkelheit abzuschütteln. Rasch wird mir klar, dass ich so meinem Peiniger niemals entkommen werde, und als ich an einem Spielhäuschen vorbeikomme, verkrieche ich mich darin. Zitternd und zu Tode geängstigt hocke ich in der Ecke, ziehe meine Beine hoch, schlinge die Arme darum und versuche, mich so klein wie möglich zu machen.
Draußen kratzt eine Klinge mit unheimlichem Geräusch über die Metallkonstruktion des Klettergerüsts.
»Verstecken ist zwecklos, Genna«, faucht Damien. »Jetzt, da ich in deine Seele geblickt habe, kannst du dich nicht länger vor mir verstecken.«
In meine Seele geblickt? Er ist ja völlig irre! Sein wahnsinniges Gerede verängstigt mich nur noch mehr.
Das Geräusch der schabenden Klinge kommt immer näher und näher, jetzt hört es sich an wie das Kreischen einer gequälten Katze. Es ertönt direkt an der Tür des Spielhauses … und bewegt sich weiter, entfernt sich schließlich von mir.
Ich kauere schlotternd in der Dunkelheit und traue mich kaum zu atmen. Das wütende Handgemenge des Kampfes dauert an. Ich möchte weinen. Ich hätte dem Jungen helfen sollen. Stattdessen bin ich weggerannt und habe mich versteckt. Scham brennt in mir. Der Junge versucht mich zu retten, und jetzt –
Plötzlich erscheint im Fenster Damiens Gesicht wie ein schrecklicher, schwarzäugiger Springteufel.
»Gefunden!«, trällert er mit einer singenden Stimme, als wäre dies alles ein lustiges Versteckspiel für ihn.
Ich stoße einen Schrei aus und zucke vor seinen krallenartigen Händen zurück. Er packt mich. Ich zappele und winde mich. Meine Jacke zerreißt, während ich mich losmache und aus dem Spielhaus flüchte. Aber in meiner Panik und Verwirrung renne ich direkt in das Netz des Klettergerüsts. Für einen Moment verfange ich mich darin, wie eine Fliege in einem Spinnennetz. Ich drehe mich um, will in die andere Richtung flüchten … nur, um zu entdecken, dass Damien mir den Ausweg versperrt.
»Oh, Genna, du machst es mir nicht leicht«, knurrt er und kommt mit dem Jadedolch in der Hand auf mich zu.
Ich bin am Ende meiner Kraft. Mein Rücken ist gegen das Netz gepresst, ich kann nirgendwo mehr hin. Außer nach oben . Ich drehe mich um, um am Netz hinaufzuklettern, als ein Blitz aus schwarzem Leder heranzischt. Damien wird gegen das Spielhaus geschleudert. Mein mysteriöser Retter rammt ihm den Ellenbogen ins Gesicht und ringt mit ihm um den Dolch. Während sie gegeneinander kämpfen, schimmert der bösartige Jadesplitter in der Dunkelheit. Die Klinge ratscht über den linken Unterarm meines Retters und durchschneidet seinen Lederärmel. Blut strömt aus der Wunde, trotzdem weigert sich der Junge, Damien loszulassen.
»Lauf, Genna! LAUF!«, schreit der Junge.
Ohne groß zu überlegen, flüchte ich vom Spielplatz. Vorbei an den reglosen Körpern der Bande, aber ich bin zu panisch, um mich zu fragen, wie der Junge es geschafft hat, sie alle zu besiegen … oder woher er meinen Namen kennt!
Ich sprinte über den Rasen zurück auf den Weg und erreiche die erste funktionierende Laterne. Erst dann halte ich inne und blicke zurück. Vor dem Klettergerüst sind nur noch zwei Silhouetten in einen erbitterten Zweikampf verwickelt, das tödliche Jademesser schnellt wie eine Schlange zwischen ihnen hin und her.
Der Junge sieht mich unter der Lampe verharren und schreit erneut: »Lauf, Genna! Renn um dein Leben! «
Auf dem Spielplatz rappelt sich einer der Kapuzenkerle langsam wieder hoch und kommt auf mich zu. Da hält mich nichts mehr. Ich hetze den Weg entlang, erreiche das Parktor und stürze hinaus auf die belebte Straße. Der Bus Nummer 37 hält gerade an der Haltestelle gegenüber. Mein Bus. Ich renne quer über die Straße. Reifen quietschen, das wütende Hupen eines Autos ertönt.
Aber ich traue mich nicht, innezuhalten. Die Türen des Busses schließen sich in dem Moment, als ich hineinspringe. Der Fahrer mustert mich finster. Ich muss ziemlich mitgenommen aussehen – Jacke zerrissen, Haare zerwühlt, Augen weit aufgerissen. Aber zweifellos kriegt er in der Nachtschicht noch viel Schlimmeres zu sehen, deshalb fragt er nicht nach, sondern murmelt nur: »Fahrkarte?«
Erschüttert durch seine Teilnahmslosigkeit fummele ich nach meinem Busticket, wobei meine Finger so stark zittern, dass ich das verdammte Ding kaum halten kann. Der Fahrer winkt mich gereizt weiter, sichtlich besorgter um seinen Fahrplan als um mein Wohlbefinden. Auch die anderen Fahrgäste sind sehr darauf bedacht, Abstand zu halten, entweder ignorieren sie mich oder wirken plötzlich von ihren Handys magisch angezogen. Als ich hinten einen freien Sitzplatz finde, lasse ich mich in die abgenutzten Polster fallen und spähe nervös durch die Heckscheibe. Vom hellen Inneren des Busses aus gesehen, liegt der Park draußen verborgen hinter dem undurchdringlichen Vorhang der Nacht.
Ich kann den Spielplatz nicht mehr sehen. Ich kann die Kapuzen-Gang nicht mehr sehen.
Und auch den Jungen nicht, der mich gerettet hat.