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»Alles in Ordnung in der Schule?«, fragt meine Mutter, während ich das Essen auf meinem Teller herumschiebe. Sie sitzt mir am Esstisch gegenüber, nippt an einem Glas Wasser, ihre eisblauen Augen auf mich gerichtet, während sie eine lose Strähne ihres hellblonden Haares zurückschiebt, die sich aus ihrem Dutt gelöst hat.
»Ja … alles bestens«, murmele ich in Gedanken versunken. Der seltsame Stadtstreicher auf dem Markt hat mir noch mehr Angst gemacht als der Junge mit der Baseballkappe. Die Art, wie er sich … wandelte
. Nicht nur sein Wesen, sondern auch seine Stimme. Er hörte sich plötzlich wie ein ganz anderer Mensch an. Er verhielt sich auch so. Und sein Französisch wirkte fließend und mühelos. Es wäre ja möglich, dass er Franzose ist oder irgendwann einmal in Frankreich gelebt hat. Das Äußere täuscht manchmal, aber sein Dialekt war am Anfang ganz eindeutig ein Südlondoner. Der arme Mann musste so etwas wie eine Persönlichkeitsstörung haben. Entweder das oder er war ein sehr guter Schauspieler!
»Seit du am Samstagabend Mei getroffen hast, bist du so schweigsam«, sagt meine Mutter und lässt nicht locker. Sie stellt ihr Glas ab und legt ihre Hand sanft auf meine. »Ihr zwei hattet doch keinen Streit, oder?«
»Nein, alles in Ordnung«, antworte ich, aber ich kann ihr immer noch nicht in die Augen blicken. Ich will nicht, dass sie bemerkt, wie
aufgeregt und erschüttert ich bin. So lieb meine Eltern auch sind, ich bin noch nicht bereit, ihnen gegenüber offen zu sagen, was passiert ist. Sie werden nur überreagieren und mehr Fragen haben, als ich beantworten kann. Um ehrlich zu sein, habe ich selbst keine Ahnung, was vor sich geht. Ich bin verwirrt und ängstlich – und fange an, mein eigenes Urteilsvermögen anzuzweifeln. Ich frage mich inzwischen, ob der Junge mit der Baseballmütze mir überhaupt gefolgt ist. Und was den Stadtstreicher betrifft, vielleicht war ich es ja, die eine Panikattacke hatte? Eine posttraumatische Episode, verursacht durch den Überfall der Gang. Das erklärt aber immer noch nicht mein seltsames Erlebnis mit dem Jadedolch in der Ausstellung … Langsam frage ich mich, ob ich vielleicht durchdrehe.
»Mobbt dich jemand?«, fragt mein Dad, wie üblich geradeheraus. Seine Nasenflügel weiten sich und seine ansonsten glatte braune Stirn runzelt sich besorgt. Er piekst mit der Gabel ein Stück Huhn auf, wartet aber auf meine Antwort, bevor er es in den Mund schiebt.
Ich schüttle den Kopf und stupse eine weitere Erbse an den Tellerrand.
»Ärger mit Jungs?«
»Nein, Dad!«, rufe ich aus, meine Gabel klappert auf den Teller. Mir ist schon klar, dass er Liebeskummer meint, trotzdem kommt seine Ausdrucksweise der Sache erstaunlich nahe. Ich schiebe meinen Teller weg. »Darf ich aufstehen?«
Der Kiefer meiner Mum klappt herunter. »Aber, Liebling, du hast kaum einen Bissen gegessen!« Dann legt sie mir eine Hand auf die Stirn und fragt: »Hast du dir etwas eingefangen?«
Mein Stuhl kratzt über den Holzboden, während ich aufstehe. »Es geht mir gut. Ich muss noch eine Menge lernen, das ist alles. Nächste Woche ist der Geschichtstest.«
»Natürlich«, sagt Dad und legt meiner Mum sanft die Hand auf den Arm, damit sie mich in Ruhe lässt. »Du musst in der Schule unter großem Druck stehen. Geh ruhig nach oben. Lass uns einfach wissen, wenn du etwas brauchst.«
Mit einem fröhlichen Lächeln und einem Kuss auf
die Wange, um meine Mum zu beruhigen, verlasse ich das Esszimmer und gehe in den Flur. Als ich die Treppe hinaufsteige, höre ich sie reden.
»Etwas stimmt definitiv
nicht«, sagt sie. »Sie ist so verschlossen. Das passt überhaupt nicht zu ihr.«
»Es sind wahrscheinlich nur die Hormone«, antwortet mein Dad mit einem Seufzer. »Du weißt, wie Teenager sind.«
Ich höre meine Mum schnauben. »Steve, sie sieht fast grau aus! Und ihre Augen sind blutunterlaufen. Ich kann nicht anders, als mir Sorgen zu machen –«
»Wir sind ihre Eltern. Es ist unser Job, uns Sorgen zu machen. Also, schauen wir mal, wie es ihr morgen geht, nachdem sie sich ausgeruht und geschlafen hat. Vielleicht ist es nur ein 24-Stunden-Virus. Aber wenn es ein größeres Problem gibt, werden wir es lösen. Gemeinsam.«
Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Dad ist der Problemlöser in unserer Familie. Er ist immer bereit, zuzuhören und einen pragmatischen Weg einzuschlagen. Aber ich frage mich, ob es für mein spezielles Problem eine einfache Lösung gibt.
Ich schlurfe über den Gang zu meinem Zimmer, schließe die Tür hinter mir und lasse mich an meinem Schreibtisch nieder. Mein Zimmer ist meine Oase. Mein weißes Himmelbett steht in einer Ecke, mit vielen Kissen darauf, auf denen Coco thront, mein altes flauschiges Häschen, von dem ich mich nicht trennen kann. Über dem Kopfende des Bettes hängen Postkarten aus verschiedenen Familienferien sowie Poster und Zeitschriftenausschnitte meiner derzeitigen Lieblings-Boyband, The Rushes
. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich mein Bücherregal, wobei ein ganzes Fach historischen Romanen vorbehalten ist, darüber thronen eine Handvoll Urkunden für besondere schulische Leistungen und in der Mitte, worauf ich ganz besonders stolz bin, eine goldene Medaille fürs Turnen. Links vom Bücherregal zeigt das große Schiebefenster hinaus auf eine Reihe von Gärten, die zu den umliegenden Häusern gehören, und diese typische
Vorstadtansicht wird umrahmt von einer Lichterkette und meinen fuchsiafarbenen Vorhängen.
Sicher in meiner Zuflucht angekommen, verblasst die Erinnerung an meine Begegnung mit dem Obdachlosen wie ein böser Traum. Sogar der Überfall der Gang fühlt sich allmählich immer unwirklicher an, als ob er jemand anderem zugestoßen wäre. Aber meine unterschwellige Sorge lässt nicht nach. Um mich zu beschäftigen, ziehe ich meine Schulbücher aus der Tasche. Die Mathe-Hausaufgaben können warten. Geografie auch. Ich wähle mein Geschichtsbuch und blättere auf die Seite mit dem Lesezeichen. Durch einen seltsamen Zufall behandelt der bevorstehende Test die Französische Revolution. Ich schalte meinen Laptop ein, damit ich mir Notizen machen kann, und beginne zu lesen:
Die Schreckensherrschaft (5. September 1793 – 28. Juli 1794), auch bekannt als La Terreur
, war eine Periode der Gewalt, die nach dem Ausbruch der Französischen Revolution begann. Sie wurde ausgelöst durch den Konflikt zwischen zwei rivalisierenden politischen Fraktionen – den Girondins und den Jakobinern …
Ich gebe die Daten und die beiden politischen Gruppierungen ein. Im Gegensatz zu manchen in meiner Klasse, die das Fach öde und langweilig finden, ist Geschichte für mich sehr lebendig. Einige Perioden empfinde ich als besonders spannend, wie die Tudor-Epoche oder den Zweiten Weltkrieg. Wenn ich darüber lese, kommt es mir vor, als ob das alles erst gestern geschehen wären, so plastisch steht es mir vor Augen. Und wenn ich mich stark konzentriere, kann ich mich beinahe in diese Zeiten zurückversetzen.
La Terreur
war bekannt für die Massenhinrichtungen von
»Feinden der Revolution«. Die Zahl der Todesopfer überstieg 40.000, wobei 16.594 Menschen durch –
Thunk …
– die Guillotine und mehr als 25.000 durch Schnellhinrichtungen in ganz Frankreich zu Tode kamen. Praktisch die gesamte französische Aristokratie wurde …
Thunk …
Ich blicke auf, als ein weiterer dumpfer Schlag meine Lektüre stört. Als ich aus dem Fenster blicke, entdecke ich unseren Nachbarn Mr Jenkins in seinem Garten, dessen stattlicher Körper beinahe die Nähte seines grünen Parkas sprengt, der auch schon bessere Tage gesehen hat. Unter seinem Apfelbaum hackt er Holz. Es ist zwar erst September, aber offenbar möchte er schon jetzt den Vorrat für seinen Kaminofen auffüllen. Ich kehre zu meinem Buch zurück; sein Hacken setzt den unregelmäßigen, aber eindringlichen Rhythmus im Hintergrund fort. Thunk … thunk … thunk …
Die Guillotine, die den Spitznamen »Nationales Rasiermesser« trug, wurde zum Symbol der revolutionären Bewegung und durch eine Reihe hochgestellter Hingerichteter berühmt-berüchtigt: König Ludwig XVI. und Marie Antoinette gehörten zu den berühmtesten.
Unter dem Text befindet sich die Reproduktion eines Ölgemäldes von Marie Antoinettes Hinrichtung auf der Place de la Révolution am 16. Oktober 1793. Ich kann mir die Szene in meinem Kopf so deutlich vorstellen, als befände ich mich in der Menge: Die ehemalige Königin trägt ein weißes Kleid, ein weißes Tuch, das ihre Schultern bedeckt, und eine weiße Haube mit einem Band. Ich spüre ihre würdevolle Haltung, während sie unter dem Hohn und den Beleidigungen der auf dem Platz Versammelten vom offenen Wagen gezerrt wird. Die Wachen sind in Rot, Weiß und Blau gekleidet, sie verspotten die abgesetzte Königin und spucken sie voller Abscheu an. Als Marie das Schafott hinaufsteigt, tritt sie versehentlich auf den Fuß des Henkers und entschuldigt sich mit einem höflichen »Pardonnez-moi«
. Der Henker – der berüchtigte Charles-Henri Sanson – schert Maries lange Locken ab, um einen schnellen, sauberen Schnitt seines Fallbeils zu gewährleisten. Sie kniet für einen Augenblick nieder, spricht ein kaum hörbares Gebet und wird dann auf die Holzplanke der Guillotine geschnallt. Mit handwerklicher Effizienz senkt Sanson das Brett ab, schiebt Marie nach vorne und sichert ihren Kopf zwischen den Holzbügeln.
Die Menge verstummt. Die Augen jedes Mannes, jeder Frau und jedes Kindes sind auf die kurz bevorstehende Enthauptung gerichtet.
Mit einem schnellen, scharfen Zug gibt Sanson die Klinge der Guillotine frei … Thunk!
Der Kopf Marie Antoinettes fällt in den Korb, die Menge jubelt begeistert und ruft: »Vive la Nation! Vive la Republique!«
Sanson greift in den Korb und setzt den enthaupteten Kopf auf einen Spieß, um ihn der Menge zu präsentieren.
Genau in diesem Moment wird mein Handgelenk gepackt. Erschrocken fahre ich herum und sehe mich einem zahnlosen Grinsen gegenüber. Es ist das Gesicht des Stadtstreichers! Nur ist er jetzt glatt rasiert und trägt die Uniform der Revolutionsgarde.
»C’est elle! C’est elle!«,
schreit er und hebt meinen Arm, damit Sanson mich sehen kann.
Der Henker stürzt auf mich zu, seine kohlrabenschwarzen Augen
weiten sich in einer Mischung aus Unglauben und Freude. Indem er Maries Kopf in meine Richtung stößt, erklärt Sanson auf Französisch: »Sie muss im Namen der Revolution hingerichtet werden! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«
Während ich die Stufen des Schafotts hinaufgezerrt werde, stimmt die Menge einen Sprechchor an: »Auf die Guillotine! À la guillotine! À la guillotine!«
Trotz meiner Gegenwehr werde ich auf die Holzplanke gebunden, der Lederriemen schneidet tief in meinen Rücken. Es klappert, als die Planke heruntergelassen wird, und mein Kopf wird in die Holzmulde gedrückt. Nachdem der Nackenbügel gesichert ist, kann ich nur noch in den blutgetränkten Weidenkorb starren. Ein durchdringender Schrei kommt aus meiner Kehle, wird aber unterbrochen, als die Stahlklinge herabsaust –
Ich erwache mit einem Ruck. Der Schrei ist nun ein Wimmern. Kalter Schweiß bedeckt meine Stirn. Instinktiv zuckt meine Hand an meine Kehle.
Der Alptraum war so lebendig, dass ich fast fühlen kann, wie die rasiermesserscharfe Klinge meinen Hals getroffen hat.
Ich blicke auf die Uhr. Es ist schon nach elf. Der Mond wirft einen silbrigen Schein durch mein Zimmer und auf mein Bett. Coco ist in einem merkwürdigen Winkel zusammengesunken, seine langen, abgenutzten Ohren fallen zur Seite und erwecken den Eindruck, als wäre sein Hals gebrochen.
Mein Blick wandert wieder zu dem Bild der Hinrichtung von Marie Antoinette.
Jetzt bemerke ich auf dem Gemälde eine Frau in der Menge, ihr Gesicht ist mir unheimlich vertraut. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich schlage das Schulbuch zu.
Es ist nur Einbildung
, sage ich mir, nur Einbildung.
Auf meinem schwankenden Weg zum Bett schalte ich die Lichterkette an meinem Fenster aus und ziehe die Vorhänge zu. Während ich das tue, erblicke ich eine geisterhafte Gestalt unter dem
Apfelbaum im Garten meines Nachbarn. Die Silhouette steht stocksteif neben der Axt, deren Klinge in einen großen Baumstumpf versenkt ist, als wäre er ein Scharfrichterblock.
Einen Schrei unterdrückend ziehe ich die Vorhänge zu und tauche unter meine Bettdecke. Mit geschlossenen Augen und zusammengepressten Händen beginne ich zu beten. Ich weiß, dass da draußen jemand in der Dunkelheit ist. Er beobachtet mein Fenster.
Er beobachtet mich.