7
Scheinbar von weit oben sehe ich zu, wie der Hohepriester sich über meinem reglosen Körper erhebt, der auf dem Opferaltar liegt. Seinen zeremoniellen Jadedolch emporgereckt wartet er darauf, dass endlich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne am Himmel verschwinden. Doch bevor er das Messer in meine Brust stoßen kann, zieht neben mir einer der maskierten Gehilfen eine in seinem Gewand verborgene Obsidianklinge – und rammt ihre widerhakenbesetzte Spitze direkt in das Herz des Hohepriesters.
Sofort löst sich meine Trance auf, meine Seele kehrt in meinen Körper zurück, und ich atme tief ein. Ein bitterer Gestank von schwefelhaltigem Rauch dringt in meine Nase, und das Dröhnen des ausbrechenden Vulkans donnert erneut in meinen Ohren. Von Panik erfüllt, zucke ich zusammen, als der maskierte Mann mir die Hand reicht.
»Vertrau mir«, drängt er.
»Dein Leben hängt an meinem, wie immer.«
Ich zögere, bin verwirrt und ängstlich. Auch wenn meine Trance durchbrochen ist, bin ich immer noch misstrauisch gegenüber diesem mysteriösen Retter. Seine Stimme wird durch die Maske gedämpft, doch er spricht in der Sprache des Omitl-Volkes, meines Clans.
»VERRÄTER«, heult der Hohepriester, während er vor der Statue der Gottheit niedersinkt. Er umklammert die schwarze Klinge, die aus
seiner Brust ragt, sein rot bemaltes Gesicht verzerrt sich, nicht vor Schmerz, sondern vor Wut.
Der maskierte Angreifer fixiert den furchterregenden Priester.
»Bin ich nicht, denn ich war niemals einer deiner Anhänger, Tanas.«
Die Verwendung seines wahren Seelennamens löst in den tiefschwarzen Augen des Hohepriesters einen Blitz des Wiedererkennens aus.
»DU!«, knurrt er.
»Ich dachte, ich hätte dich für immer verbannt!«
»Nein, nicht wirklich für immer
«, antwortet mein Retter. Er verpasst einem der maskierten Helfer, die mich immer noch festhalten, einen festen Tritt, worauf der Mann die steinernen Stufen der Pyramide hinunterstürzt. Dann reißt er seine eigene Jaguarmaske herunter und streckt mir erneut die Hand entgegen.
»Zianya, ich bin’s!«, sagt er.
Meine Augen weiten sich, als ich sein dunkles, markantes Gesicht mit den schwarzen Wirbeln der Stammestätowierungen erkenne:
»Necalli«, keuche ich. Strampelnd befreie ich meine Beine aus den Fängen der beiden anderen Männer und umarme den jungen Krieger, der mein Freund ist, seit ich zurückdenken kann.
Um uns herum herrscht Chaos: Der mächtige Vulkan speit brüllend Feuer und Schwefel, die Eruption schleudert flammende Magmakugeln wie einen Meteoritenschauer in den schwarzen Himmel. Auf dem Platz unter uns sind die Tletl entsetzt und wütend zugleich. Sie fürchten den Zorn ihres Feuergottes und sind aufgebracht, dass ein Betrüger ihr Opfer entführen könnte. Rasch rottet sich ein wütender Mob zusammen und stürmt die Pyramide hinauf.
Necalli sucht dringlich nach einem Fluchtweg für uns, aber Tanas, mit dem Rücken gegen die Statue gestützt, scheint dem Tod zu trotzen. Gestärkt durch den Geist des Wer-Jaguars zieht er die Obsidianklinge aus seinem Herzen. Blut, schwarz wie Teer, sickert aus der Wunde. Dann richtet er sich langsam wieder auf und brüllt:
»TÖTET DEN VERRÄTER!«
Die beiden muskulösen Wachen ziehen ihre mit Obsidiansplittern verzierten Schwerter, aber Necalli greift eine der Fackeln, die um die Statue des Gottes brennen, und treibt sie damit zurück. Während er sich gegen die Wachen verteidigt, packt mich einer der finster dreinblickenden Gefolgsleute von hinten, ein anderer schnappt sich den Jadedolch vom Tempelboden und mit weit aufgerissenen Augen und einem Ausdruck der Raserei holt er aus, um ihn mir ins Herz zu stoßen.
»Ich vollende das Ritual für dich, Meister«, ruft er und nimmt die seltsame Beschwörungsformel wieder auf:
»Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …«
Ich kratze, beiße und schreie wie eine Wildkatze. Bevor er den Gesang beenden und die Klinge in mein Herz rammen kann, fällt ein Klumpen geschmolzenen Gesteins vom Himmel und trifft seinen Kopf, wobei das glühende Magma seinen Schädel versengt. Der Mann kreischt und windet sich zu meinen Füßen, während der beißende Gestank von brennendem Haar in meine Nasenlöcher steigt. Der verbliebene Gehilfe, schockiert über das Schicksal seines Kameraden, lockert kurzzeitig seinen Griff – lange genug für mich, um meinen Kopf nach hinten zu schleudern und ihm die Nase zu brechen. Dann wirble ich herum und stoße ihn mit aller Kraft von mir. Er wankt am Rand der Lavagrube, bevor er mit einem hohen Kreischen über den Rand kippt.
»Das ist für Meztli«, rufe ich und erinnere mich an das Schicksal meines jungen Freundes, während der Schrei des Gehilfen von der brodelnden Lava übertönt wird.
Ich drehe mich um und suche nach Necalli. Dem jungen Krieger ist es gelungen, einem Wächter den Schwertarm zu verbrennen, wodurch dieser gezwungen war, seine Waffe fallen zu lassen. Mit einem zweiten, gezielten Stoß der Fackel entzündet er das Lendentuch des Wächters. Der muskulöse Mann quietscht wie ein aufgespießtes Schwein, während er an seinen flammenden Kleidern zerrt und davonläuft.
Aber der andere Wächter ist schneller und geschickter mit dem
Schwert. Er spaltet die Fackel in zwei Hälften, worauf Necalli unbewaffnet und wehrlos dasteht. Dann treibt er meinen Freund mit einer Reihe wütender Hiebe vor sich her. Necalli weicht bis an den Rand der Lavagrube zurück, dann hält er inne. Er rudert mit den Armen und versucht verzweifelt, sein Gleichgewicht zu halten. Der nächste Schwertstreich des Wächters wird entweder seinen Kopf treffen oder ihn in die Grube katapultieren.
Ich bin in einem Clan von Omitl-Kriegern aufgewachsen und werde nicht tatenlos zusehen, wie mein Freund in den Tod stürzt. Ich ziehe den Jadedolch aus der Hand des toten Gehilfen zu meinen Füßen, renne hinüber und versenke die Klinge im Rücken des Wächters. Er grunzt vor Schmerz und fällt auf die Knie. Ich trete das Schwert aus seinem Griff, dann packe ich Necalli, der gerade dabei ist, das Gleichgewicht endgültig zu verlieren.
»Und ich dachte,
ich wäre derjenige, der
dich retten muss!«, lacht Necalli erleichtert.
Da die Wachen zwar niedergeschlagen, aber noch nicht ausgeschaltet sind, nimmt Necalli meine Hand, und wir hetzen zur südlichen Treppe … nur um auf den Mob zu treffen, der zu uns heraufstürmt.
Ich bleibe stehen.
»Was nun?«
Necallis Blick fällt auf einen großen zeremoniellen Schild, der sich unter den zahlreichen Opfergaben für den Feuergott Ra-Ka befindet. Er schleppt ihn zur Treppe hinüber und legt ihn auf eine glatte Steinrampe, die zu beiden Seiten der Stufen bis zum Platz darunter verläuft.
Er befiehlt:
»Steig auf!«
Ich werfe ihm einen ungläubigen Blick zu. Aber in dem Moment taumelt Tanas auf uns zu, knurrend und fauchend wie eine verwundete Bestie. Als er an der gefallenen Wache vorbeikommt, reißt er dem Mann die Jadeklinge aus dem Rücken und stürzt sich auf mich. Ich habe keine andere Wahl. Ich springe auf den Schild, und Necalli steigt hinter mir auf.
»
Festhalten«, ruft er und stößt uns ab, während Tanas nach uns ausholt, wobei die Jadeklinge haarscharf an meinem Hals vorbeizischt.
Auf dem Schild schlittern wir am äußeren Rand der Treppe hinunter. Jeder, der unsere Abfahrt zu bremsen versucht, wird zur Seite geschleudert und löst eine Menschenlawine auf den Stufen aus. In halsbrecherischer Geschwindigkeit erreichen wir das untere Ende der Pyramide, krachen auf den Platz und werden kopfüber auf die Steine geschleudert, während der Schild in hundert Stücke zersplittert.
»LASST SIE NICHT ENTKOMMEN«, donnert Tanas von der Spitze der Pyramide.
»Sie MUSS geopfert werden!«
Der Mob ändert seine Richtung und verfolgt uns erneut. Necalli zieht mich auf die Beine, und wir rennen in Richtung Dschungel. Aber er humpelt stark, da er sich beim Aufprall das Bein verletzt hat. Die wütenden Rufe der Gottesanbeter begleiten uns den ganzen Weg. Pfeile und Blasrohr-Geschosse, die von den Tletl-Kriegern abgefeuert werden, schwirren wie pfeifende Dämonenvögel an uns vorbei, während weiter tödliche Brocken geschmolzenen Gesteins herabregnen, als stünde der Himmel selbst in Flammen.
Als wir den dichten Dschungel betreten, finden wir etwas Deckung, aber es ist so dunkel, dass wir kaum den Weg erkennen können, das einzige Licht stammt vom Feuerregen des Vulkans. Bäume werden in Brand gesteckt und Brüllaffen kreischen vor Schrecken. Ein gewaltiger Donnerschlag verkündet, dass der Berg selbst auseinanderbricht, und die Erde beginnt mit einem Zorn zu beben, wie ihn nur ein Gott entfachen kann.
»Ist das meine Schuld?«, schreie ich mit einem ängstlichen Blick zurück auf den wütenden Vulkan.
»Es ist das, was Tanas sein Volk glauben machen wollte, aber nein«, keucht Necalli stolpernd. Er drängt mich, immer dicht bei ihm zu bleiben, ein menschlicher Schutzschild.
Hinter uns holen die Tletl-Krieger immer mehr auf. Rings um uns surren Blasrohrgeschosse und Pfeile bohren sich mit dumpfem
Aufprall in die Baumstämme. Blätter und Farne peitschen uns ins Gesicht, während wir durch das dichte Gestrüpp flüchten.
Wie durch ein Wunder schaffen wir es, den Fluss zu erreichen, wo ein Einbaum liegt.
Necalli hilft mir an Bord. Am Heck, das Paddel haltend, steht ein junges Mädchen in meinem Alter.
»Bring sie in Sicherheit. Haltet sie versteckt«, sagt Necalli und schiebt das Gefährt in das schnell fließende Wasser hinaus.
»Was ist mit dir?«, frage ich voller Kummer.
»Kommst du nicht mit uns? Um mich zu beschützen?«
Der Dschungel am Ufer ist jetzt voller Tletl-Krieger. Necalli antwortet mit einem Lächeln, das von Schmerz gezeichnet ist. Die Strömung des Flusses reißt das Kanu mit sich, aber er unternimmt keinen Versuch, uns hinterherzuschwimmen.
»Im nächsten Leben«, antwortet er, bevor er im Wasser zusammenbricht, einen Pfeil in seinem Rücken.