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»Vier Menschen wurden getötet und viele weitere verletzt, als heute Morgen am Clapham Market ein Lieferwagen in die Fußgängerzone raste
«, verkündet eine ernste Stimme, während ich die Eingangstür zu unserem Haus öffne und leise den Flur betrete. Aus dem Wohnzimmer ertönen die Fernsehnachrichten: »Eine Frau Mitte zwanzig befindet sich nach einem Schuss in die Brust in kritischem Zustand. Die Polizei geht von einem Zusammenhang zwischen beiden Vorfällen aus und behandelt sie als mutmaßlichen Terroranschlag, obwohl sich bisher noch keine Organisation zu den Anschlägen bekannt hat. Mittlerweile wurden drei Personen festgenommen, und es wird im Zusammenhang mit den Anschlägen nach mindestens drei weiteren Verdächtigen gefahndet …
«
Als ich das Wohnzimmer betrete, zeigen sie im Fernsehen die Fahndungsfotos von drei Personen. Ich erkenne die beiden Männer als die Kerle wieder, die mich zu entführen versuchten. Die Frau ist vermutlich die Fahrerin des Lieferwagens. Damien ist nicht unter ihnen. Als meine Mutter mich in der Tür sieht, springt sie vom Sofa auf; ihre Wimperntusche ist verlaufen, und ein Haufen zerknitterter Taschentücher liegt auf dem Couchtisch.
»Genna
«, ruft sie, schließt mich in die Arme und küsst mich mit einer fast verzweifelten Heftigkeit auf Stirn und Wangen. Dann hält sie inne und mustert mich mit weit aufgerissenen Augen. »Wir haben uns
solche Sorgen um dich gemacht. Die Schule hat angerufen, dass du heute Morgen nicht zu deinem Geschichtstest erschienen bist. Dann haben wir die Nachricht von den Angriffen gesehen und das Schlimmste befürchtet …« Mums Stimme versagt.
Hinter ihr steht mein Vater und starrt mich mit einer Mischung aus Wut, Erleichterung und Freude an. Sein Gesicht wirkt so faltig, als wäre er seit dem Frühstück um zwanzig Jahre gealtert. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«, fragt er mit rauer Stimme.
»Ich …« Aber mir fehlen die Worte. Aus irgendeinem Grund will und kann
ich meinen Eltern nicht von Phoenix erzählen. Unbegreiflicherweise will ich ihn schützen. Auch von der versuchten Entführung möchte ich ihnen nicht erzählen. Jedenfalls noch nicht. Sie sind beide schon gestresst genug, und ich denke, sie brauchen nicht noch mehr Sorgen. »Ich habe mich versteckt«, antworte ich, wobei ich mich so weit wie möglich an die Wahrheit halte. »Nach den Anschlägen hatte ich solche Angst. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hab völlig das Zeitgefühl verloren …«
»Warum hast du nicht angerufen
?«, will mein Dad wissen. »Deshalb haben wir dir dein eigenes Telefon geschenkt! Ich habe dir unzählige Nachrichten hinterlassen!«
Ich zucke schwach mit den Achseln. »Ich habe meine Schultasche fallen lassen, als ich weggerannt bin … Es tut mir so leid, dass ich das Handy verloren habe … Ich wollte euch nicht verärgern.«
Mum zieht mich enger in die Arme und hält mich so fest, dass ich fürchte, sie könnte mich nie mehr loslassen. »Wir sind nicht böse auf dich, Genna … Wir waren nur so, so besorgt … Wir dachten, du wärst –«
Eine weitere Meldung im Fernsehen unterbricht sie: »An der Tower Bridge untersucht die Polizei einen zweiten Vorfall, der möglicherweise ebenfalls mit dem Anschlag heute Morgen in Clapham in Verbindung steht«
, verkündet die Nachrichtensprecherin. Hinter ihr ist die Aufnahme eines Schwimmkrans zu sehen, der ein gelbes XP-Liefermotorrad aus dem Fluss fischt. »Nach einer rasanten Verfolgungsjagd, an der vier Motorräder beteiligt waren, sprang ein
Motorradfahrer mit Beifahrer über die sich gerade öffnende Tower Bridge.«
Die Nachrichtensprecherin hebt ungläubig eine Augenbraue, und der Bildschirm wechselt zu einem wackeligen Handy-Clip, der zeigt, wie ein Motorrad zwischen den beiden hochgeklappten Hälften der Brücke durch die Luft fliegt.
Ich starre verblüfft auf den todesmutigen Stunt. Das Motorrad und die beiden Personen darauf segeln über eine immer größer werdende Lücke hinweg, fünfzig Meter über dem eiskalten Wasser der Themse. Vom Flussufer aus gesehen ist klar, dass Phoenix nicht weniger als ein Wunder vollbracht hat.
»Ein zweites Motorrad versuchte zu folgen«
, fährt die Nachrichtensprecherin fort, »schaffte aber den Sprung nicht und stürzte in die Themse. Zunächst wurde befürchtet, der Fahrer könnte ertrunken sein, doch kurz darauf wurde ein junger Mann beobachtet, der nahe Butler’s Wharf aus dem Fluss stieg und zu Fuß von der Unfallstelle floh.«
Bei dieser Nachricht läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
»Ein dritter Verdächtiger wurde von der Polizei verfolgt und festgenommen, während ein vierter unter Polizeibewachung im Krankenhaus liegt, da er sich nach einem Unfall in kritischem Zustand befindet. In der Zwischenzeit wurden der draufgängerische Fahrer und sein unbekannter Beifahrer dabei beobachtet, wie sie mit hoher Geschwindigkeit in den Ostteil der Stadt unterwegs waren. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hinweise, die zur Ergreifung …
«
Der Rest des Berichts geht in meiner aufkommenden Panik unter.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragt Mum, die meine Anspannung spürt.
»Ich muss mich hinlegen«, murmle ich, löse mich aus ihren Armen und ziehe mich in den Flur zurück.
Mum will mir folgen, aber Dad legt ihr eine Hand auf die Schulter und hält sie sanft zurück. »Das ist eine gute Idee, Genna«, sagt er mit einem sorgenvollen Lächeln, denn sein Ärger ist mittlerweile seiner gewohnten Fürsorglichkeit gewichen. »Dieser Vormittag muss ein
schrecklicher gewesen sein.«
Auf zittrigen Beinen mache ich mich auf den Weg nach oben in mein Zimmer. »Ich schaue später nach dir«, ruft Mum mir nach. Dann höre ich, wie sie die Wohnzimmertür hinter sich schließen und eine angespannte, geflüsterte Diskussion beginnen.
In meinem Zimmer breche ich auf meinem Bett zusammen und drücke Coco, mein Schlappohr-Häschen, an meine Brust. Ich fühle mich zerschlagen, innerlich ausgehöhlt vor Angst. Die Nachricht, dass Phoenix und ich auf der Flucht beobachtet wurden, beunruhigt mich nicht allzu sehr. Wir sind schließlich unschuldig. Es ist vielmehr die Tatsache, dass Damien den Sprung überlebt hat und entkommen ist … Mein Peiniger läuft immer noch frei herum.
Ich schnappe mir meinen Laptop vom Schreibtisch und schalte ihn ein. Da mein Handy verloren ist, starte ich über den Browser einen Videoanruf bei Mei. Nach ein paar Klingeltönen wird eine Verbindung hergestellt, und das Gesicht meiner besten Freundin erscheint auf dem Bildschirm, erschöpft und etwas grau. Sie liegt auf dem Bett, eine Schüssel neben sich auf dem Nachttisch.
»Genna!«, ruft Mei überrascht und blickt in die Kamera. »Was machst du jetzt schon zu Hause?«
»Hey, alles okay?«, frage ich.
Mei nickt. »Klar doch. Nur eine Magenverstimmung. Aber was ist mit dir? Wie war der Test?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Ich habe ihn verpasst.«
»Was?
«, ruft Mei mit weit aufgerissenen Augen. »Das Superhirn schwänzt einen Test! Wieso das denn?«
»Hast du die Nachrichten gesehen?«, frage ich.
»Ja, klar, schrecklich«, antwortet Mei mit einem missbilligenden Schmollmund. »Diese Terroristen sind einfach krank. Ich meine, wie können sie Leute überfahren im Namen von –«
»Es war kein Terroranschlag«, unterbreche ich sie. Mei blinzelt überrascht und verstummt. »Sie haben mich
verfolgt.«
Meis Unterkiefer fällt herab. »Dich
? Wovon redest du da?«
»Damien hat versucht, mich zu entführen«, erkläre ich ihr.
Meis Mund öffnet sich weiter und weiter, während ich ihr von dem weißen Lieferwagen, meiner Entführung, der Rettung durch Phoenix und von der seltsamen Vision des Opferrituals erzähle.
Sie hört fassungslos zu, während ich die schockierenden Details schildere, wie Damien jemanden angeschossen und dann versucht hat, Phoenix und mich zu überfahren; unsere gefährliche Flucht auf dem Motorrad, gefolgt von Phoenix’ unglaublicher Enthüllung über Seelenjäger und seine Behauptung, mein Guardian, mein Seelen-Bodyguard, zu sein. Und schließlich enthülle ich ihr meine surreale Rückblende in ein vergangenes Leben im Zweiten Weltkrieg.
Bereits als ich ihr meine Geschichte erzähle, wird mir klar, wie absurd das alles klingt.
Am Ende spiegelt Meis Gesichtsausdruck eine Mischung aus Verwunderung, Unglauben, Entsetzen und Heiterkeit. »Du verarschst mich, oder?«, sagt sie.
»Das ist kein
Witz«, antworte ich in ernstem Tonfall. »Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Mei richtet sich im Bett auf. »Das musst
du der Polizei melden.«
»Glaubst du denn, die werden mir glauben?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagt Mei und schüttelt den Kopf. »Zumindest nicht alles. Vielleicht solltest du die Sachen mit diesen früheren Leben lieber für dich behalten.«
»Glaubst du
mir denn?«, frage ich und spüre einen Anflug von Verzweiflung. Bei dem Gedanken, ich könnte den Bezug zur Realität verlieren, graut mir.
Mei spitzt die Lippen, überlegt gründlich und sagt dann: »Ich glaube, dass Damien wirklich hinter dir her ist und dass Phoenix eingeschritten ist, um dich zu retten – im Park und auch heute Morgen. Aber bei diesem Frühere-Leben-Zeug bin ich mir nicht so sicher. Du wurdest überfallen und gekidnappt. Das würde jeden psychisch schwer belasten. Glaubst du, diese Erinnerungsfetzen könnten nur Einbildung
gewesen sein?«
»Nein. Sie fühlten sich tatsächlich an wie Erinnerungen
«, beharre ich. »Es war alles so vollständig. Ich konnte sehen, schmecken, riechen, fühlen. Auf keinen Fall könnte ich mir solche Dinge einfach ausdenken – und es waren auch keine Träume. Es war genauso real wie jetzt, wo du und ich miteinander sprechen!«
»Aber du meintest doch, Phoenix hätte dir vielleicht etwas in dein Wasser getan. Könnte das nicht der Grund gewesen sein?«, erinnert mich Mei.
Ich seufze und zucke mit den Achseln. »Ich weiß es nicht, ehrlich … Selbst wenn er es getan hätte, erklärt das nicht all diese Flashbacks, die ich hatte.«
Mei schweigt wieder, scheinbar gedankenverloren. Schließlich sagt sie: »Glauben manche Religionen nicht an die Wiedergeburt? Ich bin sicher, Prisha hat mal drüber gesprochen. Ich nehme an, da wird schon irgendwas dran sein.«
»Dann werde ich nicht allmählich verrückt?«, frage ich zögernd.
Mei lächelt mich freundlich an. »Nein, das wirst du ganz sicher nicht. Aber dein Schutzengel könnte es sein. Dieses ganze Gerede von Inkarnaten
und deine Seele beschützen,
das klingt definitiv ein bisschen durchgeknallt … wie mutig oder gutaussehend du ihn auch immer findest!«
Sie lacht, ich falle ein, und fühle mich jetzt entspannter, nachdem Mei mich so beruhigt hat und meine Vermutung über Phoenix' Geisteszustand bestätigt hat. Trotzdem, bei dem Gedanken an ihn setzt mein Herz einen Schlag aus, und tief in mir spüre ich die tiefe Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Ich versuche, das Gefühl zu unterdrücken.
»Was soll ich also tun, wenn Phoenix mich wiederfindet?«, frage ich.
»Fühlst du dich von ihm bedroht?«, fragt Mei vorsichtig.
»Ganz im Gegenteil«, gebe ich zu. »Ich fühle mich bei ihm sicher
. Das ist es ja, was mich so erschreckt. Ich kenne ihn kaum, also warum sollte ich dann so empfinden?«
»Das ist ganz normal. Er hat dich ja beschützt«, erklärt Mei, dann verfinstert sich ihr Gesichtsausdruck. »Um ehrlich zu sein, würde ich mir mehr Sorgen machen, dass Damien dich wiederfindet. Er ist die wahre
Bedrohung –«
Wir werden von einem Klopfen an meiner Tür unterbrochen, und Mum steckt ihren Kopf herein. Ich will ihr gerade erklären, dass ich ein Gespräch mit Mei führe, als ich den ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht bemerke.
»Die Polizei ist hier und will dich sprechen.«