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»Sind das deine Schultasche und dein Handy?«, fragt der weibliche Detective Inspector und hält eine durchsichtige Plastiktüte mit einer Schultasche mit Blumenmuster und einem Smartphone in Glitzerhülle hoch. Ihr Gesichtsausdruck ist streng, aber nicht offen feindselig, ihre grauen Augen wirken scharf und wachsam hinter ihrer getönten Brille, und ihr schwarzes Haar ist zu einem festen Dutt aufgesteckt. Sie hat sich als DI Katherine Shaw von der Metropolitan Police vorgestellt, trägt aber statt der üblichen Polizeiuniform einen maßgeschneiderten marineblauen Anzug und eine weiße Bluse.
»Ja«, antworte ich und strecke die Hand aus, um meinen Besitz entgegenzunehmen. Aber sie übergibt ihn mir nicht. Stattdessen reicht sie die Tüte an ihren Kollegen weiter, einen Polizeibeamten mittleren Alters in Uniform. Er ist stämmig, trägt einen ordentlich gestutzten Bart und sieht eher wie ein Bodyguard als ein Polizist aus.
»Wir würden das gerne als Beweismittel behalten, wenn es dir nichts ausmacht«, erklärt DI Shaw, wobei ihr knapper Tonfall darauf hinweist, dass dies eher eine Feststellung als eine Bitte war.
»Beweismittel?«, fragt mein Vater scharf. Er wirft der Kriminalbeamtin einen herausfordernden Blick zu. »Sie vermuten doch wohl nicht, dass unsere Tochter etwas mit diesem Terroranschlag zu tun hat, oder?«
DI Shaw zieht ein Notizbuch aus ihrer Jackentasche und klickt auf
das Ende ihres Kugelschreibers. »Das ist es, was wir herausfinden wollen, Sir. Wir möchten Genna lediglich ein paar Fragen stellen. Einige Dinge klären.«
Meine Eltern tauschen unbehagliche Blicke aus, als die Polizistin mir gegenüber am Esszimmertisch Platz nimmt und mir direkt in die Augen starrt. Ich winde mich ein wenig in meinem Stuhl. Plötzlich fühlt sich das Esszimmer heiß und stickig an. Mein Mund wird knochentrocken.
Mum setzt sich an das Tischende und umklammert eine Tasse Tee, ohne Anstalten zu machen, daraus zu trinken. Dad steht neben ihr, die Arme verschränkt, die dichten Augenbrauen gerunzelt, die ganze Situation ist ihm sichtlich unangenehm.
DI Shaw lächelt mich kühl an. Möglicherweise hat sie vor, mich damit zu beruhigen, doch ihr aufgesetztes Lächeln bewirkt so ziemlich das Gegenteil. »Genna«, beginnt sie, »kannst du uns sagen, wo du dich heute Morgen aufgehalten hast?«
»Ich … war auf dem Weg zur Schule«, antworte ich, ein hörbares Zittern in meiner Stimme.
»Oaklands School?«, fragt sie, worauf ich nicke und sie sich eine Notiz macht. »Warst du irgendwo in der Nähe von Clapham Market?«
Ich nicke erneut, und sie kritzelt eine weitere Notiz.
»Und warst du Zeugin eines der Anschläge?«
Wieder nicke ich. Ich weiß nicht, wie viel ich dieser Frau erzählen soll. Ich habe Angst, ich könnte etwas sagen, das mich belastet. Gleichzeitig wollte Mei, dass ich mit der Polizei spreche, und nun ist sie hier. Aber das Auftreten der Kommissarin ist so distanziert und herablassend, dass ich mich eher wie eine Kriminelle fühle.
»Könntest du gegebenenfalls einen der Attentäter identifizieren?«, fragt sie.
»Ich denke schon«, antworte ich.
DI Shaw hält das körnige Standbild einer Videoüberwachungskamera vom Clapham Market hoch. »Kennst du den Jungen auf diesem Bild?«
Ich starre auf den schwarzhaarigen, hellhäutigen Jungen, der inmitten der zerstörten Marktstände steht. Sein Gesicht ist unscharf, aber ich erkenne ihn sofort wieder. Ein Schauder überläuft mich. Sogar auf einem Foto lässt seine unheimliche Präsenz meine Haut kribbeln. »Ja …«, sage ich. »Sein Name ist Damien.«
Die Kriminalbeamtin blickt zu dem Constable hinüber und hebt eine Augenbraue, diese Information hat eindeutig ihr Interesse geweckt. »Was weißt du noch über ihn, Genna?«, fragt sie.
Da ich nichts über das Seelenjäger-Zeug, wie Mei es nennt, verraten möchte, zucke ich mit den Achseln und sage: »Eigentlich nichts.«
DI Shaw beugt sich in ihrem Stuhl nach vorne, stützt ihre Ellbogen auf den Tisch und fixiert mich mit ihrem durchdringenden Blick. »Nichts? Mehrere Zeugen behaupten, sie hätten beobachtet, wie du
aus dem weißen Lieferwagen gestiegen bist, der an dem Anschlag beteiligt war –«
»Moment!«, unterbricht mein Dad und löst seine Arme aus der Verschränkung. »Dies ist mehr als nur eine ›Klärung der Dinge‹. Wer sind diese sogenannten Zeugen? Sollte für solche Fragen nicht ein Anwalt anwesend sein?«
»Ich glaube nicht, dass dergleichen nötig sein wird«, sagt DI Shaw. »Oder, Genna?« Wiederum macht ihr bestimmter Tonfall deutlich, dass es sich hier um eine Ansage und nicht um eine Frage handelt.
Ich schüttle stumm den Kopf, erleichtert, aber auch etwas ängstlich angesichts der Aussicht, endlich jemandem von der Polizei von meinem Peiniger berichten zu können. Ich atme tief ein. »Ich glaube, Damien hat versucht, mich zu entführen –«
»Entführen?
«, schreit Mum und verschüttet fast ihren Tee. Ich weiche ihrem entsetzten Blick aus und fahre fort.
»Er und die anderen haben mich in den hinteren Teil des Lieferwagens geworfen … Aber ich konnte entkommen, und da hat er versucht, mich zu erschießen …«
»Damien versuchte, dich zu erschießen?«, hakt DI Shaw nach.
Ich nicke. »Er schoss daneben und traf stattdessen die arme Frau.« Tränen brennen in meinen Augen und mein Kinn beginnt zu zittern, als ich mich an den tragischen Vorfall erinnere. »Vor einer Woche haben Damien und seine Bande mich in einem Park in der Nähe des Museums überfallen.«
Dad stürzt nach vorn und stemmt seine Hände auf den Esstisch. Er starrt mich völlig geschockt an. »Genna, warum hast du uns nichts davon erzählt?«, fragt er sichtlich erschüttert. »Wir hätten etwas tun können. Die Polizei anrufen. Ihn verhaften lassen!«
Als ich den bestürzten und enttäuschten Ausdruck auf dem Gesicht meines Vaters sehe, habe ich das Gefühl, ihn verraten zu haben, und beginne zu weinen. »Ich … ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, niemand wird mir glauben …«
Mum rutscht neben mich und legt einen Arm um meine Schultern. »Schon gut, Schätzchen«, tröstet sie mich und reicht mir ein Taschentuch. »Du bist jetzt zu Hause. Du bist in Sicherheit. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Sobald ich mich beruhigt habe, fragt DI Shaw: »Warum glaubst du, sollte Damien dich entführen wollen?«
Ich wische mir die Tränen ab und antworte zögernd: »Ich … weiß es nicht.«
Sie fixiert mich weiterhin mit steinernem Blick und wartet eindeutig auf eine andere Antwort – die Wahrheit. Eine quälende Stille setzt ein. Der Druck, mich zu äußern, lastet schwer auf meiner Brust. Doch ich weiß, dass die Wahrheit, oder zumindest der Grund, der mir dafür genannt wurde, so weit hergeholt und unglaublich ist, dass alle denken würden, ich wäre verrückt oder würde lügen.
Gerade als das Schweigen für mich unerträglich wird, fragt DI Shaw: »Wer war der andere Junge, mit dem du zusammen warst?«
»Was …« Ich schlucke schwer. Wieder bin ich mir des unerklärlichen Drangs bewusst, Phoenix’ Identität zu schützen. »Welcher andere Junge?«
Die Polizistin klopft ungeduldig mit ihrem Stift auf ihr Notizbuch.
»Der, mit dem du beim Wegrennen beobachtet wurdest«, sagt sie.
Ich senke meine Augen und weiche ihrem starrenden Blick aus. »Keine Ahnung, wer er ist«, murmle ich. »Ich bin ihm noch nie begegnet.«
DI Shaws Lippen werden schmal: Sie ist eindeutig skeptisch. Nachdem sie eine Notiz in ihr Büchlein gekritzelt hat, streckt sie die Hand in Richtung des Polizeibeamten aus, der ihr einen dünnen Ordner reicht. Sie klappt ihn auf. Auf die Innenseite der Mappe ist das Passfoto eines Jungen mit hohen Wangenknochen, karamellfarbenem Teint und kastanienbraunem Haar geheftet. Seine Augen erscheinen auf dem Foto eher dunkel, und ich frage mich, ob nur ich
das sternenähnliche blaue Strahlen in ihnen erkennen kann.
»Also«, sagt sie, »unsere ersten Ermittlungen haben einige grundlegende Fakten über ihn zutage gefördert. Sein Name ist Phoenix Rivers. Er ist amerikanischer Staatsbürger, laut Reisepass in Flagstaff, Arizona, geboren. Sein Vater ist unbekannt. Die Mutter ist Ángela Silva, ursprünglich aus Córdoba, Mexiko, sie starb bei einem Autounfall, als er drei Jahre alt war, danach wuchs er bei einer Reihe von Pflegefamilien auf. Es scheint, dass er so etwas wie ein Problemkind
war, und laut seiner Krankenakte hat er sich zahlreichen psychotherapeutischen Behandlungen unterzogen. Er landete vor zweiunddreißig Tagen in Heathrow, sein Flug startete vom internationalen Flughafen Los Angeles aus. Aufenthaltsort danach unbekannt. Was ich wissen möchte, Genna, ist, in welcher Verbindung du
zu ihm stehst.«
Ich knete meine Hände unter dem Tisch, meine Handflächen sind feucht, mein Puls rast. »Es gibt keine Verbindung.«
DI Shaws Augen verengen sich hinter ihrer getönten Brille. »Warum hat er dann aber einfach so sein Leben für dich riskiert?«
Ich zucke mit den Achseln. »Weil er ein guter Mensch ist, nehme ich an.«
»Wo ist er jetzt?«
»I-i-ich weiß es nicht«, lüge ich. Es besteht die Möglichkeit, dass
er immer noch im unterirdischen Bunker ist, aber auch jetzt hindert mich mein Instinkt daran, ihr dies zu verraten.
DI Shaw lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und atmet tief und gemessen ein. »Ich bin nicht überzeugt, dass du mir die ganze Wahrheit sagst, Genna«, erklärt sie. Mein Vater öffnet den Mund, um zu protestieren, aber sie hebt eine Hand und stoppt ihn. Aus dem Ordner zieht sie ein Video-Standbild der Tower Bridge, das zwei Fahrer auf einem schlanken leuchtend blauen Motorrad zeigt: Phoenix’ Gesicht ist unter seiner Baseballmütze deutlich zu erkennen, aber das Gesicht seiner Beifahrerin ist von einem Helm verdeckt.
»Phoenix Rivers wurde eindeutig als einer der Motorradfahrer identifiziert, die in den Vorfall an der Tower Bridge verwickelt waren.« Sie mustert mich von oben bis unten und nimmt besonders meine Jeans, mein weißes Shirt und meine grüne Jacke in Augenschein. »Da deine Kleider mit denen der Person auf den Videoaufnahmen übereinstimmen, nehme ich an, dass du seine Beifahrerin warst.«
Plötzlich scheint nicht mehr genug Luft im Raum zu sein, und ich wünsche mir verzweifelt, dass jemand ein Fenster öffnet.
Meine Eltern mustern mich, als ob sie mich nicht mehr kennen würden, ihre Gesichter sind vor Schock und Unglauben ganz starr. Der Polizeibeamte baut sich an der Tür auf, offenbar in der Befürchtung, ich könnte einen Fluchtversuch starten, während DI Shaw mich weiterhin mit ihrem stählernen Blick durchbohrt.
Unter der Last der feindseligen Blicke aller gerät meine Haltung ins Wanken.
Unter einer Flut von Schluchzern und Tränen verrate ich die ganze Geschichte: Phoenix’ unwahrscheinliche Erzählung über frühere Leben und Erste Nachkommen, über Inkarnaten und Seelenjäger sowie Damiens Absicht, mich in einem Opferritus zu töten. Meine eigenen Flashbacks aus vergangenen Leben gestehe ich nicht ein, aus Angst, die Polizei und meine Eltern könnten meinen Geisteszustand endgültig infrage stellen. Aber als ich fertig bin, schauen sie mich alle mit tiefem, fast demütigendem Mitleid an.
DI
Shaws eisiges Verhalten taut auf. Sie streckt ihre Hand aus und berührt meine. »Genna, es war das Beste, was du tun konntest, dass du es uns erzählt hast. Es ist verständlich, dass du verwirrt und verängstigt bist nach all dem, was du erlebt hast. Dieser Phoenix hat dich vielleicht gerettet, aber meiner professionellen Einschätzung nach nutzt er dich in deinem verletzlichen Zustand aus.«
Ich schaue sie an und runzele die Stirn. »Warum sollte er das tun?«
»In Anbetracht seiner Erziehung, seiner medizinischen Vorgeschichte und der Tatsache, dass er ein Waisenkind ist, hat der Junge wahrscheinlich Bindungsprobleme«, erklärt sie. »Er hat sich diese Fantasiewelt mit Seelenbeschützern und Seelenjägern geschaffen, um seine Opfer anzulocken und sie davon zu überzeugen, sich allein auf ihn zu verlassen. Ich würde also grundsätzlich allem, was er sagt, nicht viel Wahrheitsgehalt beimessen. Ich bin kein Psychologe, aber es klingt, als könnte er ein paranoider Schizophrener sein.«
»Ein was?«, frage ich.
»Jemand mit einem chronischen psychischen Problem, aufgrund dessen er den Bezug zur Realität verliert. In der Regel sind solche Personen an sich harmlos, aber sie glauben oft, dass man sie verfolgt oder gegen sie ein Komplott schmiedet. Es kommt auch häufig vor, dass sie unter Größenwahn leiden und glauben, sie seien jemand Wichtiges oder Berühmtes, was zu Phoenix’ Erzählungen von früheren Leben passt. Die meisten paranoiden Wahnvorstellungen sind komplex, aber die dieses Jungen scheinen wirklich außergewöhnlich zu sein. Seine Hintergrundgeschichte erfordert nicht den geringsten Beweis, und deshalb ist sie so effektiv.«
Die Einschätzung der Kriminalbeamtin beruhigt und bestürzt mich zugleich. »Phoenix hat also Wahnvorstellungen?«, frage ich.
DI Shaw nickt. »Tatsächlich würde ich sogar so weit gehen, diese als gefährlich einzustufen. In Anbetracht seiner waghalsigen Heldentaten ist er für dich eine ebenso große Bedrohung wie dieser Damien … wenn nicht sogar eine noch größere.«