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»Wir müssen Genna mitnehmen, damit sie eine offizielle Aussage machen kann«, verkündet Detective Inspector Shaw, indem sie sich erhebt und die Befragung beendet. Sie gibt dem Polizeibeamten einen Wink, worauf dieser um den Esstisch herum auf mich zukommt.
Aber Dad schreitet ein. »Wird unsere Tochter als Zeugin oder als Verdächtige mitgenommen?«
»Dies ist lediglich ein Standard-Polizeiverfahren, Mr Adams«, antwortet DI Shaw. »Wir werden sie nicht verhaften. Sie hilft uns nur bei unseren Ermittlungen. Aber wenn Sie sich dabei wohler fühlen, dann arrangieren Sie auf jeden Fall die Anwesenheit eines Anwalts.«
Der Constable deutet an, dass mein Vater zur Seite treten soll. Für einen Moment weigert sich Dad, Platz zu machen. Dann lässt er den Beamten nur sehr widerwillig vorbei und sagt:. »Ja, ich werde auf jeden Fall einen Anwalt einschalten.«
Plötzlich werde ich nervös, als der Polizist mich am Arm packt und aus dem Esszimmer führt.
»Muss das jetzt gleich
sein?«, fragt Mum und folgt uns durch den Flur.
»Der Zeitfaktor ist bei terrorbezogenen Ermittlungen von entscheidender Bedeutung, Mrs Adams«, erwidert DI Shaw, öffnet die Haustür und führt mich hinaus in den hellen, kalten Sonnenschein.
»Aber Genna sagte, es sei eine Entführung gewesen, kein
Terroranschlag«, erinnert sie Mum.
»Das haben wir
zu beurteilen«, entgegnet DI Shaw, während man mich zu dem blau-weißen Streifenwagen eskortiert, der vor unserem Haus geparkt ist. Sie öffnet die hintere Beifahrertür, und der Constable hilft mir auf den Rücksitz.
»Sollten nicht besser wir
Genna zum Revier bringen?«, sagt mein Vater entschlossen.
»Für die Sicherheit Ihrer Tochter ist es das Beste, wenn wir das übernehmen«, erwidert DI Shaw. »Genna ist eine wichtige Zeugin dieser mutmaßlichen Terroranschläge und daher ein potenzielles Ziel. Wenn Phoenix so unausgeglichen ist, wie es scheint, und dieser Damien so entschlossen und skrupellos ist, wie er es bisher unter Beweis gestellt hat, dann ist der sicherste Ort für Ihre Tochter die Polizeiwache. Je schneller wir sie dorthin bringen, desto besser. Sie können uns jedoch in Ihrem eigenen Wagen folgen. Wir warten auf Sie.«
Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als wolle mein Dad kurzerhand zu mir auf den Rücksitz des Streifenwagens springen, aber dann knallt DI Shaw die Tür zu, und plötzlich bin ich allein, gefangen im Inneren des Fahrzeugs.
Mein Vater rennt los, um seinen Mantel und die Autoschlüssel zu holen, während Mum sich in aller Eile ihre Schuhe anzieht. Vor dem Streifenwagen scheinen die Kriminalbeamtin und der Constable eine kurze, hitzige Debatte darüber zu führen, wer fährt, dann reicht der Mann seiner Vorgesetzten die Schlüssel und eilt zur Beifahrerseite. Ich fummle an meinem Sicherheitsgurt herum, während meine Hände zu zittern beginnen und meine Angst zunimmt. Die Gefahr, die von Damien ausgeht, wird auf eine fast greifbare Art real. Wenn die Polizei sich schon so angespannt verhält, dann habe ich wirklich allen Grund, mir Sorgen zu machen. Umso mehr, wenn ich an die zusätzliche Bedrohung durch Phoenix’ Geisteszustand denke.
Durch das Wagenfenster beobachte ich, wie meine Eltern hastig das Haus abschließen und zur Garage eilen. Trotz des Versprechens, auf sie zu warten, klettert DI Shaw auf den Fahrersitz, betätigt die Zündung
und setzt den Wagen in Gang. Während wir die Straße entlangfahren, blicke ich durch die Heckscheibe zurück. Der silberne Volvo meiner Eltern ist gerade erst aus der Einfahrt gebogen. Am Ende unserer Straße hält sich DI Shaw rechts und beschleunigt, mit eingeschalteten Blaulichtern, aber ohne Sirene. Meine Eltern haben Mühe mitzuhalten.
»Äh … könnten wir bitte etwas langsamer fahren?«, frage ich. Aber die beiden Beamten ignorieren mich.
Die Häuser entlang der Hauptstraße sausen vorbei, Passanten drehen die Köpfe, als das blinkende Polizeifahrzeug die Straße hinunterschießt. Jetzt bin ich definitiv beunruhigt und meine Fingernägel graben sich in meine Handflächen.
Alles geht so schnell, und ich habe das Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren, wie eine Feder, die von einem Hurrikan mitgerissen wird.
Wir nähern uns einer Kreuzung, und DI Shaw prescht über die rote Ampel, während meine Eltern hinter uns davon aufgehalten werden.
»Halt!«, schreie ich. »Meine Eltern mussten an der Ampel stehen bleiben.«
»Sie kennen den Weg«, antwortet DI Shaw kurz angebunden. Sie rast weiter die Straße hinunter, der silberne Volvo meiner Eltern bleibt rasch in der Ferne zurück.
»Aber Sie kennen den Weg doch hoffentlich auch, Ma’am?«, fragt der Constable zaghaft. Er deutet auf eine Seitenstraße, an der wir gerade vorbeigedonnert sind. »Das Revier ist dort unten.«
»Ich weiß«, sagt sie, fährt aber trotzdem weiter. »Wir werden verfolgt.«
Ich erstarre vor Schreck. Meine Augen huschen umher, während ich den Verkehr ringsum wie ein aufgescheuchtes Kaninchen absuche. Hat Damien mich schon aufgespürt
?
»Welches ist das verdächtige Fahrzeug?«, fragt der Constable.
»Vier Autos zurück. Auf der rechten Seite«, antwortet DI Shaw.
Als der Constable sich nach hinten umdreht, verpasst DI Shaw ihm plötzlich einen brutalen Handkantenschlag auf die Kehle. Es knirscht furchtbar. Die Attacke verläuft so schnell und vernichtend, dass der
Mann trotz seiner kräftigen Statur mit dem Gesicht voran gegen das Armaturenbrett sackt.
»Was zum …!«, keuche ich mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen.
DI Shaw wirft ihre Brille weg und blickt in den Rückspiegel. Ihre Augen – die zuvor durch die getönten Gläser grau erschienen – haben sich in tintenschwarze Seen verwandelt. Die Augen eines Seelenjägers
. Eine Sekunde lang blicke ich in diese Abgründe der Finsternis, dann wird mir der absolute Horror meiner Lage bewusst: Entweder ich bin völlig verrückt … oder Phoenix sagt die Wahrheit.
Ich schreie und zerre am Griff der Autotür. Aber sie ist verriegelt. Ich hämmere mit bloßen Fäusten gegen das Fenster und rufe um Hilfe. Aber niemand in den anderen Fahrzeugen oder auf der Straße scheint Notiz davon zu nehmen – und selbst wenn sie es täten, sähe ich nur aus wie jede andere Kriminelle, die auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens tobt.
»Halt die Klappe!«, schnauzt DI Shaw. »Oder ich zerquetsche dir auch die Luftröhre.«
Ich sacke in meinen Sitz zurück und schaue mich verstohlen nach allem um, womit ich mich verteidigen könnte. Aber der Fond ist spartanisch und funktional eingerichtet. Eine speziell angefertigte mobile Gefängniszelle.
Während ich verzweifelt nach einem Fluchtweg suche, wählt DI Shaw eine Nummer auf ihrem Telefon, wartet, bis jemand abnimmt, und sagt dann einfach: »Seele gefangen.«
Die Nüchternheit ihre Aussage lässt mich frösteln, ihr Anruf beweist eindeutig, dass ein Netzwerk von Inkarnaten auf der Jagd nach mir ist. Oder … habe ich vielleicht gerade eine paranoide Wahnvorstellung?
Während ich über meinen eigenen gefährdeten Geisteszustand nachdenke, taucht ein behelmter Fahrer auf einem blauen Motorrad neben dem Polizeiauto auf. Der Lederjacke tragende Biker schaut in den Wagen und klappt das Visier hoch. Seine saphirblauen Augen schauen
tief in die meinen.
»Phoenix!
«, flüstere ich staunend.
Er macht mir ein Zeichen, den Sicherheitsgurt zu straffen. Plötzlich werde ich zur Seite geschleudert, als der Streifenwagen ausschert und versucht, Phoenix zu rammen. Er weicht aus und gerät in den Gegenverkehr. Mit einem geschickten Schlenker umrundet er einen weißen Lieferwagen, setzt mit der Maschine auf den Bürgersteig und rast vor dem Streifenwagen her. Dann wechselt er wieder auf die Fahrbahn. Ich sehe, wie er aus seiner Lederjacke eine Handvoll Nägel zieht und auf die Straße wirft. In aller Eile straffe ich meinen Sicherheitsgurt, während DI Shaw direkt über die eisernen Spitzen fährt. Es ertönt ein ohrenbetäubendes BÄNG
. Einer unserer Vorderreifen platzt und das Fahrzeug zieht kräftig nach links, aber DI Shaw kämpft mit dem Lenkrad und hält den Wagen auf der Straße. Dann tritt sie das Gaspedal durch, entschlossen, Phoenix von seiner Maschine zu stoßen.
Der Kotflügel des Streifenwagens streift fast sein Hinterrad, als er ausschert und einen Ziegelstein durch die Frontscheibe schleudert. DI Shaw bedeckt ihr Gesicht, als das Glas zersplittert, und verliert die Kontrolle über das Fahrzeug. Wir prallen hart gegen den Bordstein und der Streifenwagen überschlägt sich. Ich werde herumgeschleudert, der Sicherheitsgurt schneidet in mein Fleisch, meine Arme und Beine rudern wie wild – dann ein schrilles Kreischen von Metall, und noch mehr Glas splittert, als wir auf den Asphalt krachen und auf dem Dach weiterrutschen. Beim Zusammenstoß mit einem Betonpfeiler dreht sich das Fahrzeug um die eigene Achse, mein Kopf schlägt gegen das Fenster und …
Mein Leben läuft vor meinem inneren Auge ab. Aber nicht nur ein Leben. Sondern viele.
Ich als Kind, das mit meinem Vater auf einer Wiese Gänseblümchenketten bastelt … ich als Dienstmädchen, das durch einen stark duftenden Garten in Babylon geht … als Fischerin, die an Bord einer chinesischen Dschunke gegen die Wellen ankämpft, als
Köchin, die in der dampfenden, stickigen Küche eines Schlosses Brot backt, als Berberfrau, die eine sengend heiße Wüste durchquert … als deutsche Gräfin in einer klapprigen Postkutsche, die außer Kontrolle gerät, umkippt, während die Pferde vor Schmerz und Schrecken wiehern, bis die kaputte Kutsche am Rande einer Klippe zum Stehen kommt, dann das grausame Lachen meiner Nemesis, die mich verspottet, während sich ein Paar schwarze Lederstiefel dem zerbrochenen Kutschenfenster nähern …
»Genna? Alles in Ordnung?«, fragt Phoenix mit panischer Stimme.
Desorientiert und benommen brauche ich einen Moment, um herauszufinden, wo ich bin … welche Zeit
es ist … und sogar wer
ich bin. Der Streifenwagen ist schließlich zum Stillstand gekommen, sein Motor zischt. Ich hänge kopfüber, mit schlaffen Armen, die Haare im Gesicht, das Blut schießt mir in den Kopf. Phoenix kickt die verbliebenen Glassplitter aus dem Rahmen des Fensters, greift dann hinein und durchtrennt vorsichtig den Sicherheitsgurt mit seinem Taschenmesser. Ich sacke unbeholfen auf das Autodach. Dann zerrt er die Tür auf und hilft mir, aus dem Wrack zu klettern.
»Bist du verletzt?«, fragt er und untersucht mich eilig am ganzen Körper.
Abgesehen von ein paar Schnittwunden und blauen Flecken scheine ich unversehrt zu sein. »Ich glaube nicht …«, keuche ich. »Ich bin nur etwas zerbeult.«
Vom Vordersitz ertönt ein schmerzerfülltes Stöhnen. DI Shaw ist in dem verbogenen Wrack eingeklemmt. Das Blut strömt aus einer Wunde an ihrer Stirn, aber sie lebt. Neben ihr, zu einem Haufen zusammengesackt, liegt der Körper des Polizisten, der jetzt eher wie das tragische Opfer eines Autounfalls aussieht als wie das Mordopfer, das er in Wahrheit ist.
In der Ferne sind Polizeisirenen zu hören, die sich schnell nähern.
»Komm schon!«, drängt Phoenix, nimmt meinen Arm und führt mich zu seinem Motorrad. Ich humple neben ihm her. Er reicht mir einen Ersatzhelm, und wir besteigen eilig die Maschine, während DI
Shaw nach dem Sprechfunkgerät am Armaturenbrett greift.
»Officer verletzt …«, keucht sie. »Zeuge entführt … Verdächtiger bewaffnet und gefährlich … blaues Honda-Motorrad …«
Sie lässt das Funkgerät fallen und tastet zwischen den Glassplittern der Windschutzscheibe nach ihrem Handy. Ihre schwarzen Augen fixieren mich, als sie die Kurzwahltaste drückt. »Alarmiert alle Jäger … Seele verloren!
«