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Das Motorrad dröhnt ohrenbetäubend, während wir über die Autobahn rasen und London verlassen. Autos und Lastwagen sausen vorbei, Phoenix fährt wie ein Besessener. Ich klammere mich an ihn, umschlinge ihn wie einen Rettungsring im Sturm und fürchte, dass ich für immer verloren sein könnte, wenn ich loslasse. Ich bin immer noch geschockt über die Wandlung der Kriminalbeamtin – obwohl mir jetzt klar ist, dass sie wahrscheinlich von Anfang an eine Jägerin war. Das Verhör diente nur dazu, mich von meinen Eltern wegzulocken.
Meine Paranoia wächst … Wenn eine Polizistin eine Inkarnatin sein kann, bedeutet das, dass ich nirgendwo und bei niemandem sicher bin!
Außer bei Phoenix.
Ich möchte verzweifelt mit ihm reden, mich von ihm überzeugen lassen, dass diese sogenannten Inkarnaten real sind und dass ich nicht den Verstand verliere. Aber im Moment kann ich mich nur festhalten und hoffen.
Als wir London hinter uns lassen, wird der Verkehr dünner, und Phoenix gibt Gas. Ich wage nicht, zurückzuschauen, aus Angst davor, herunterzufallen, und vor dem, was ich dort erblicken könnte: ein Konvoi von Polizeifahrzeugen oder ein Rudel Jäger auf Bikes, die uns auf den Fersen sind. Aber selbst über den Lärm unserer Maschine hinweg höre ich, dass da kein Sirenengeheul oder das wütende Summen von Motorrädern auszumachen ist. Vielleicht, nur vielleicht, ist es uns also gelungen, zu entkommen.
Aber für wie lange?
Detective Inspector Shaw hat dafür gesorgt, dass nun sowohl die Polizei als auch die Jäger nach uns suchen. Unsere Chancen, einer so starken vereinten Streitmacht zu entkommen, erscheinen mir äußerst gering. Ich bete, dass Phoenix einen Plan hat, denn ich habe keine andere Wahl, als mein Leben in seine Hände zu legen.
Die Sonne steht bereits tief am Himmel, als Phoenix von der Straße abbiegt und wir einen langen Feldweg hinunterfahren. Wir halten neben einer alten Fachwerkscheune, deren Dach baufällig und deren Wände bemoost und fleckig sind. Vom Hofbereich davor, einem gepflasterten Platz voller Schmutz und Unkraut, überblickt man grüne, saftige Weiden und sanft geschwungene Hügel. Die einzige Nachbarschaft in Sichtweite ist ein Bauernhaus in der Ferne. Zwei Pferde, die auf der nächstgelegenen Weide grasen, heben bei unserer Ankunft die Köpfe, ihr beharrlicher Blick studiert uns mit wachsamer Neugier.
Phoenix klappt den Seitenständer herunter und schaltet den Motor aus. Nach einer gefühlt stundenlangen Fahrt auf einem röhrenden Motorrad ist die Stille geradezu eine Wohltat. Als ich meinen Helm abnehme, werde ich von Vogelgezwitscher und dem Rauschen der Brise in den nahen Bäumen begrüßt. Die Ruhe hier – in deutlichem Kontrast zum Trubel der Stadt und dem Chaos unserer Flucht – beruhigt mein Herz und tröstet meine Seele. Der Ort fühlt sich sofort wie ein sicherer Hafen an … fast so , als wäre ich schon einmal hier gewesen.
Beim Absteigen strecke ich meine müden, schmerzenden Glieder. »Wo sind wir hier?«, frage ich.
»In der Nähe von Winchester«, antwortet Phoenix, nimmt seinen eigenen Helm ab und scannt den Hof. »Dieser Ort sieht immer noch sicher genug aus. Wir bleiben heute Nacht hier.«
Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu. »Wo werden wir schlafen?«
»In der Scheune«, erwidert er sachlich.
Als ich durch die Ritzen im klapprigen Scheunentor spähe, sehe ich ein paar Pferdeboxen und einen Haufen muffiges altes Heu. Bei dem Anblick ziehe ich eine Grimasse. Die Aussicht, hier zu übernachten, ist nicht reizvoll – und vermutlich wäre es auch nicht klug, angesichts der Tatsache, dass Phoenix praktisch ein Fremder ist.
»Hast du ein Handy?«, frage ich. »Ich muss meine Eltern anrufen. Sie wissen lassen, dass es mir gut geht.«
Phoenix schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, ich habe keins«, sagt er und schiebt das Motorrad in die Scheune.
Ich stehe allein auf dem Hof und frage mich, wie ich Mum und Dad erreichen soll. Sie müssen außer sich vor Sorge sein. Sie werden denken, dass ich wieder entführt worden bin. »Wie wär’s dann, wenn wir ein öffentliches Telefon suchen?«, schlage ich vor.
»Es wird bald dunkel«, ruft Phoenix aus der Scheune, »und da die Jäger umherstreifen, sollten wir dieses Risiko vermeiden.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe, nur widerwillig akzeptiere ich seine Gründe. Aber ich bin mir nicht sicher, was ich stattdessen tun soll … zumindest im Moment. »Ich denke, du hast recht«, antworte ich, als er mit einem kleinen Rucksack in der Hand wieder herauskommt.
»Hey, tut mir leid wegen des unsanften Crashs bei der Rettungsaktion«, sagt er mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck. »Ich hatte keine andere Wahl, als dich während der Fahrt herauszuholen. Da du mich freundlicherweise in meinem Bunker eingesperrt hattest, bin ich zu spät zu deinem Haus gekommen!«
Ich zucke schuldbewusst zusammen und erinnere mich an mein überstürztes Handeln, als ich aus dem Eingangsbereich der U-Bahnstation geflohen war. In dem Moment hielt ich mich für clever. Jetzt wird mir klar, dass ich mein Leben damit nur noch mehr gefährdet habe.
»Ich hab gerade noch gesehen, wie die Polizei dich abführte«, fährt er fort. »Ich wusste nicht, was passiert war – ob deine Eltern sie verständigt hatten oder ob du verhaftet worden warst – also folgte ich dem Streifenwagen … bis ich sah, wie dieser Beamte getötet wurde. Da wurde mir klar, dass eine Jägerin dich in ihrer Gewalt hatte. Es tut mir leid, dass ich ein solches Risiko eingegangen bin, aber ich konnte nicht warten, bis –«
»Nein, hör auf. Ich bin es, die sich bei dir entschuldigen sollte«, sage ich. »Es tut mir leid, dass ich dich eingesperrt habe und«, ich werfe ihm einen reumütigen Blick zu, »dass ich dich mit dieser Dose mit Bohnen geschlagen habe.«
Seine Hand berührt vorsichtig den Rand eines lilafarbenen Blutergusses an seiner linken Schläfe. »Du hast schon viel Schlimmeres angerichtet.«
Ich hebe eine Augenbraue. »In einem früheren Leben meinst du?«
Phoenix nickt und lächelt verschmitzt. »Du hast mich einmal in Pompeji ausgepeitscht, nicht lange vor dem Ausbruch des Vesuvs. Ein anderes Mal, in einem Palast in Rajasthan, hast du mich von deinen Dienern schlagen lassen. Und als Zulu-Kriegerin hast du deinen Löwen auf mich gehetzt!«
Ich kann nicht anders als lachen. »Ernsthaft? Und das soll ich dir glauben?«
Phoenix zuckt mit den Achseln. »Ich kann nur die Tür für dich öffnen; hindurchgehen musst du alleine.«
Er schlendert zu einem Heuballen neben der Scheune und hockt sich hin. Er öffnet seinen Rucksack und holt einen Energy-Drink, einige Müsliriegel und ein paar Äpfel heraus. »Ich fürchte, es ist kein sonderlich tolles Abendessen, aber mir blieb keine Zeit, einkaufen zu gehen«, witzelt er.
Er öffnet einen der Riegel, beißt hinein und betrachtet die idyllische Aussicht: golden schimmerndes Sonnenlicht fällt auf die Wiesen und umgibt die Hügel mit einem glänzenden Schein.
Mein Hunger besiegt meine Zweifel, ich setze mich neben ihn, nehme einen Apfel und knabbere schweigend daran. So viele Gedanken, Fragen und Bedenken wirbeln durch meinen Kopf, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll … Kann ich diesem Jungen wirklich vertrauen? Soll ich seinen irren Geschichten Glauben schenken? Bin ich diejenige, die Wahnvorstellungen hat, oder ist er es? Und falls das alles real ist, was soll ich dann tun? Wie werden wir überleben? Fragen über Fragen, und sie nehmen meinen Verstand völlig in Beschlag …
»Ich habe diesen Ort immer geliebt«, murmelt Phoenix mit einem zufriedenen Seufzer. »Er ist so friedlich.«
Nachdem er den Müsliriegel verschlungen hat, öffnet er den Deckel des Energy-Drinks und nimmt einen langen Schluck, bevor er mir den Rest anbietet. »Oft ändert sich im Laufe der Jahre so vieles. Aber dieser Ort hat sich kaum verändert, seit ich das letzte Mal hier war.«
»Und wann war das?«, frage ich und nippe vorsichtig an der Flasche.
Nachdenklich spitzt er die Lippen. »So etwa vor 370 Jahren, zur Zeit des englischen Bürgerkriegs. Du warst auch hier … weißt du noch?«
Sobald er es erwähnt, blitzt in mir eine Erinnerung auf. Ein Schimmer
Ein junger Mann mit langen, wallenden Ringellocken, der ein burgunderrotes Lederwams und einen breitkrempigen, gefiederten Hut trägt. An seiner Seite trägt er ein schlankes Schwert, einen Degen aus Stahl. Ein zartes Lächeln ziert sein schönes Gesicht, obwohl ich den Schmerz in seinen blauen Augen sehen kann. Er ist verletzt …
Die Vision verblasst so schnell, wie sie erschienen ist.
Ich starre in Phoenix’ kristallblaue Augen. Ich habe Angst davor, ihm diese Frage zu stellen, aber ich muss die Antwort wissen. »Ganz ehrlich, sag mir: Werde ich verrückt?«
Phoenix schüttelt sanft den Kopf. »Nein, Genna, das wirst du nicht. Du siehst einfach nur zum ersten Mal die Wahrheit.«