15
»Wiedergeburt …«, flüstere ich vor mich hin. Die Tragweite ist fast zu unglaublich, um sie ganz zu erfassen, geschweige denn zu glauben. Phoenix’ sogenannte Wahrheit
erscheint mir absurder, als es jede Wahnvorstellung sein könnte.
Aber dann denke ich an meine Kindheit zurück und all die seltsamen Déjà-vu-Momente, die ich hatte, an die Zeiten, in denen ich überzeugt war, dass ich einen gänzlich Fremden wiedererkannt hätte oder dass er mich zu kennen schien. Dann vor Kurzem dieser Traum von der Französischen Revolution und diese Vision, einer Opferzeremonie zu entkommen, die Erfahrung in dem Zweiter-Weltkriegs-Bunker und diese Kaskade von Flashbacks, als das Auto verunglückte. Hatten sie alle mit meinen früheren Leben zu tun?
Ich schaue fragend zu Phoenix. »Habe ich also wirklich
schon einmal gelebt?«
Beiläufig reißt er einen weiteren Müsliriegel auf und nickt. »Jepp. Schon viele Male.«
Abwehrend schüttle ich den Kopf. »Nein, nein, das kann nicht sein.«
»Warum nicht?«, fragt er herausfordernd. »Ist es überraschender oder wundersamer, zweimal statt einmal geboren zu werden? Oder dreimal, zehnmal, eine Million Mal? Alles in der Natur ist ein Beispiel für Tod und Wiedergeburt. Das ist der Kreislauf des Lebens – man muss
sich nur die Jahreszeiten betrachten. Der Tod ist nur der Anfang – er ist ebenso wenig das Ende wie die Geburt.«
Ich sitze da, wringe meine Hände, starre in die Ferne und versuche, mich mit der Idee vertraut zu machen. »Wenn ich also wiedergeboren bin«, hake ich nach, »warum erinnere ich mich dann erst jetzt
an meine früheren Leben?«
Phoenix kaut langsam seinen Riegel. »Soweit ich weiß, vergisst die überwiegende Mehrheit der wiedergeborenen Seelen alles bei der Geburt«, erklärt er. »Sie sind ja auf die Welt gekommen, um etwas in ihrem neugeschenkten Leben zu lernen, und das könnten sie nicht mit dem Vorwissen früherer Inkarnationen. Bei dir ist das anders. Du bist eine der Ersten Nachkommen. Du trägst das Licht der Menschheit in dir – und die Inkarnaten wollen es auslöschen. Deshalb ist das Vergessen deiner vergangenen Leben ein Mittel des Selbstschutzes.«
Ich mustere Phoenix, versuche, den Ausdruck auf seinem jungen, aber welterfahrenem Gesicht zu lesen, suche nach Anzeichen dafür, dass er lügen könnte. Aber er wirkt so ernsthaft. »Wie kommt es dann, dass du
dich an deine früheren Leben erinnern kannst?«
Er lächelt sanft. »Ich erinnere mich, damit ich dich beschützen kann.«
Mein Herz schlägt jetzt in einem anderen Takt. Einer, der das Blut in mein Gesicht strömen und meine Wangen erröten lässt.
»Okay«, sage ich und tue mein Bestes, um unbeeindruckt und skeptisch zu wirken. »Wenn wir uns schon einmal begegnet sind, warum habe ich dich
nicht erkannt?«
»Wir werden in anderen Körpern wiedergeboren«, antwortet er sachlich.
Ich runzele die Stirn. »Ich bin also jedes Mal ein anderer Mensch?«
Phoenix nickt – und in diesem Moment glaube ich, einen entscheidenden Fehler in seiner Geschichte entdeckt zu haben. »Wie kannst du mich dann jemals wiederfinden?«, frage ich.
»Unter Schwierigkeiten«, erwidert er lachend. »Es ist eine Kombination aus Glück, Intuition und Schicksal.
Ein bisschen wie beim Wünschelrutengehen. Ich habe kein GPS und keinen Tracker. Vielmehr ist es eher ein Gefühl, eine Sinnesempfindung. Wie zwei Magnete werden wir voneinander angezogen. Je näher wir uns kommen, desto stärker ist die Anziehung.«
Er dreht sich auf dem Heuballen zu mir um. Es liegt ein Kribbeln in der Luft, und ich spüre eine unbestreitbare Anziehungskraft. Das weiche, goldene Licht der Abendsonne legt sich wie eine Aura um ihn, und ich fühle mich noch mehr zu ihm hingezogen.
»Aber dieser Magnetismus gilt auch für die Inkarnaten, besonders nach deinem Morgenschimmer«, erklärt Phoenix.
»Meinem Morgenschimmer?
«
Phoenix nickt. »Ja, dein erster echter Schimmer.«
»Der Jadedolch«, murmele ich. Ich denke daran zurück, wie er auf mich gewirkt hatte, wie ich Trommelschläge, Schreie, Donner gehört und beißenden Rauch gerochen hatte, wie Damien plötzlich an meiner Seite erschienen war, seine Augen tintenfarben und düster, und wie er sich zum Jäger gewandelt hatte, sobald er mich im Museum gesehen hatte. »Das
muss mein Morgenschimmer gewesen sein.«
»Danach läuft es immer auf einen Wettlauf hinaus«, fährt Phoenix fort. »Zwischen mir und den Seelenjägern.«
»Aber …«, sage ich lächelnd, »du hast mich rechtzeitig gefunden.«
Er schüttelt den Kopf, offensichtlich wütend auf sich selbst. »Dieses Mal war ich fast zu spät«, erklärt er bitter. Dann nimmt er meine Hände in seine, als wolle er mich um Verzeihung bitten, und flüstert: »Aber eines sollst du wissen, Genna, egal wer ich bin, egal wie mein Name lautet, egal wie ich dir in jedem Leben erscheine, ich werde immer
für dich da sein. Alles, was du tun musst, ist, in meine Augen zu schauen, und dann wirst du mich erkennen … meine Seele erkennen.«
Ich wende mich Phoenix zu, der dicht neben mir sitzt. Seine Augen schauen tief in meine, und plötzlich dehnen sie sich zu einer Galaxie von Sternen. Sein Gesicht erscheint wie in einem Spiegelkabinett, die scheinbar unendlichen Reflexionen einer anderen Person aus einer anderen Zeit sind zu sehen …
Krieger … Seemann … Soldat … Sklave … Mönch … Samurai … Heiler … Gladiator … und doch ist jeder einzelne von ihnen auf irgendeine Weise Phoenix, mein Guardian, mein Seelenwächter.
Das Kaleidoskop der Erinnerungen macht mich schwindlig und ich zucke zusammen. Ich erhebe mich unsicher, taumle über den Hof, die Welt schwankt und schaukelt wie das Deck eines Schiffs. Es ist alles zu viel für mich. Ich greife nach dem Holzzaun, der die Weide umgibt, und für einen Moment habe ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen …
Doch allmählich lässt die Desorientiertheit nach und die Übelkeit verschwindet.
Immer noch überwältigt von der berauschenden Bilderflut, blicke ich benommen auf die rosarote Sonne, die jetzt hinter den Hügeln versinkt. Und so wie ihre Strahlen verlöschen, werden in mir alle Zweifel, die ich noch hatte, ausgelöscht, und ich nehme endlich die Wahrheit an, so wie sie ist.
Und diese Wahrheit erschreckt mich.
Während ich versuche, wieder zur Ruhe zu kommen, spazieren die beiden Pferde zu mir herüber. Das eine ist ein gepflegter, muskulöser Fuchswallach, das andere eine schöne, fleckiggraue Stute.
Geistesabwesend füttere ich den Wallach mit meinem Apfelstrunk und streichle das seidenweiche Fell an seinem Hals. Er schnaubt leise.
Phoenix taucht hinter mir auf und füttert die Stute mit den Resten seines Apfels. »Du solltest einen Ausritt machen«, schlägt er vor. »Danach geht es dir immer besser.«
Ich schaue ihn von der Seite an. »Ich kann nicht reiten! Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen.«
Sein einer Mundwinkel kräuselt sich zu einem wissenden Grinsen. »Natürlich bist du schon geritten. Unzählige Male, in unzähligen Leben.«
Er öffnet das Gatter und führt mich auf die Weide. Die beiden Pferde bleiben ruhig und gefügig, als wir näher kommen. Phoenix streichelt die Flanke der Stute. Während ich ängstlich danebenstehe,
dreht der Wallach seinen Kopf und schmiegt sich mit einem sanften Nicken an mich.
»Er mag dich«, sagt Phoenix und verschränkt seine Hände, damit ich meinen Fuß hineinsetzen und mein Bein nach oben schwingen kann.
»Aber da ist kein Sattel«, protestiere ich.
»Du brauchst keinen Sattel«, antwortet er. »Du musst dich nur erinnern.«
Meine Einwände ignorierend hilft er mir, auf den Rücken des Pferdes zu steigen. Ich klammere mich an der Mähne fest, meine Schenkel spannen sich, während ich versuche, nicht von seinen glatten Flanken zu rutschen. Im Gegensatz zu mir besteigt Phoenix die Stute mit beeindruckender Leichtigkeit und nutzt den Zaun, um sich selbst hochzustemmen. Der Wallach scheint meine Nervosität zu spüren. Er schnaubt und schüttelt den Kopf, als wolle er sagen: Chill mal!
Aber ich schwebe jetzt so hoch über dem Boden und habe so wenig Halt, dass ich schreckliche Angst habe herunterzufallen.
»Sitz gerader und ein wenig weiter vorn auf dem Rücken«, rät Phoenix.
Während ich meine Position anpasse, beginnt mein Pferd plötzlich loszulaufen. »Wie lenke ich ohne Zügel?«, frage ich in Panik.
»Mit den Beinen«, antwortet Phoenix und trabt nebenher. »Keine Sorge, es wird dir alles wieder einfallen. Es ist wie Fahrrad fahren.«
»Aber ich hab nicht mal ein Fahrrad!
«, schreie ich, als der Wallach losprescht. Während ich furchtsam die Beine zusammenpresse, beschleunigt er auf wenigen Metern und fällt in einen gestreckten Galopp. Ich klammere mich in Todesangst an ihm fest. Wir galoppieren über die Weide, seine Hufe dröhnen auf der weichen Erde. Jede Sekunde erwarte ich, dass ich zu Boden stürze und mir das Genick breche. Der Schrecken hält mich ebenso fest im Griff wie ich die Mähne, aber der Wallach jagt weiter, geradewegs auf den gegenüberliegenden Zaun zu. In meinem hämmernden, panischen Herzen weiß ich, dass das Pferd springen will – und ich weiß, dass ich ohne Sattel von seinem Rücken geschleudert werde.
In meiner Verzweiflung rät mir mein Instinkt, mich nach vorne zu beugen, mit dem linken Bein Druck auszuüben und das rechte zu entspannen. Sofort beginnt der Wallach, sich nach links zu wenden, dreht sich vom Zaun weg und kehrt ins offene Gelände zurück. Erstaunt schalte ich um und drücke nun mit dem rechten Bein. Mein Pferd nimmt den Impuls auf und rennt zurück zum Zaun.
Trotz meiner nervenzerfetzenden Angst lächle ich vor mich hin. Mit meinen beiden Oberschenkeln drücke ich gegen die Flanken des Pferdes, und es wird auf mein Kommando hin langsamer. Dann entspanne ich mich, tippe die Flanken sanft mit den Fersen an, und schon legt er wieder los. Wir galoppieren mit vollem Tempo! Aber ich habe keine Angst mehr, die Kontrolle zu verlieren … Es ist das pure Glück!
Mein ganzer Körper wird lockerer und ich beginne, mich dem anmutigen Schritt des Wallachs anzupassen.
»Wuh! Wuh! Wuh!
«, rufe ich, fühle die kühle Luft gegen mein Gesicht peitschen, meine braunen Locken flattern hinter mir her.
Phoenix reitet jetzt auf seiner grauen Stute neben mir her. »Ich hab’s dir gesagt!«, ruft er. »Du reitest wie der Wind!«
Das Lächeln auf meinem Gesicht weitet sich zu einem Grinsen. Die Weide scheint sich endlos zu erstrecken, das Gras geht in rote Erde über, die grünen Hügel werden zu schroffen Bergkämmen, die Sonne steht jetzt blutrot und rund am schimmernden Horizont …
»Reite wie der Wind«, ruft Phoenix. Aber er trägt nicht mehr seine lederne Bikerjacke – er trägt eine mit Fransen und Perlen besetzte Tunika aus Büffelleder, und seine honigfarbene Haut ist mit roter Farbe verziert. Ein dicht gewebtes Perlenband umschließt seinen Oberarm, und aus seinem schulterlangen dunklen Haar sprießt eine Adlerfeder. Und sein Cheyenne-Name ist nicht Phoenix, sondern … Hiamovi.
Der Knall eines Schusses hallt über die Prärie. Ich blicke zurück über meine Schulter. Ein US-Marschall mit breitkrempigem, weißem Hut und einem Revolver donnert auf seinem Pferd hinter uns her. Seine
kohlschwarzen Augen starren mich unverwandt an. Ein Aufgebot von Kopfgeldjägern begleitet ihn, bewaffnet mit Gewehren und Revolvern.
Ich treibe mein Pferd an, mein langes schwarzes, geflochtenes Haar weht hinter mir her, der Wind peitscht die Perlen, die an meinem Hirschlederkleid hängen. Während wir über die weite Prärie fliehen, legt Hiamovi einen Pfeil an, spannt seinen Bogen, dreht sich um und schießt. Der Pfeil durchbohrt einen Jäger, der aus seinem Sattel kippt. Der Marschall und seine Männer antworten mit einem Kugelhagel, die tödlichen Geschosse schwirren wie wütende Hornissen an uns vorbei. Doch eines trifft Hiamovi in die Seite. Aus seiner Tunika sickert Blut. Er sackt vornüber und lässt den Bogen fallen.
»NEIN!«, schreie ich, während ich sein Pferd ausbrechen sehe. Ich presche hinterher, bis ich dicht an seiner Seite bin.
Hiamovi droht von seinem Pferd zu rutschen und doch winkt er mich weg.
»Nein, Waynoka, reite weiter!«
Aber ich werde ihn nicht einfach dem Tod ausliefern. Als ich nach ihm greife, überrascht uns eine weitere Salve Schüsse und …
Ich lande hart auf dem Boden und überschlage mich mehrfach. Aber die rote Erde der Großen Prärie ist verschwunden, ersetzt durch üppiges, grünes Gras, das meinen Sturz abfedert. Schließlich rolle ich aus und bleibe liegen, durchgeschüttelt und außer Atem.
Während mein Wallach zum anderen Ende der Weide trabt, galoppiert Phoenix heran und steigt eilig ab. »Alles in Ordnung?«, fragt er.
Ich stöhne: »Du … wurdest … erschossen
!«
Phoenix hilft mir, mich aufzurichten, und untersucht mich auf gebrochene Knochen hin.
»Was war das?«, frage ich und schiebe ihn weg. »Ich hatte einen Schimmer – wir waren Indianer, Cheyenne, und ein US-Marschall hat uns durch die Prärie gejagt.«
»Ich …« Phoenix blickt in die untergehende Sonne, als würde er nach einer längst vergessenen Erinnerung suchen. »Ich erinnere mich nicht im Detail an all unsere früheren Leben«, gibt er mit bekümmerter
Miene zu. Dann setzt er ein fröhliches Lächeln auf und zieht mich auf die Beine. »Aber jetzt, wo du diesen Schimmer vom Reiten über die Prärie hattest, wirst du in diesem Leben immer reiten können.«
Mit einem sanften Klaps verabschiedet er sich von seiner Stute und macht sich zu Fuß auf den Weg zurück zur Scheune.
Da ich spüre, dass Phoenix sich an mehr erinnert, als er zugeben will, rufe ich ihm nach: »Wer war der Marschall?«
Phoenix bleibt abrupt stehen und dreht sich um, ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Er hat viele Namen, aber sein Seelenname ist … Tanas
.«