16
Als ich am nächsten Morgen erwache, steht die Sonne verschwommen am dämmrigen Himmel, niedriger Nebel hängt über den Feldern, die Hügel glitzern wie Inseln inmitten des Dunstes. Als ich verschlafen und gähnend aus der Scheune trete, erweist sich mein Vertrauen in Phoenix als gut begründet – zumindest in diesem Fall. Während ich in einer der Pferdeboxen schlief, hat er neben dem Scheunentor Wache geschoben.
Trotz seiner offenbar durchgängigen Nachtwache ist Phoenix hellwach und wartet rittlings auf seinem Motorrad sitzend im Hof auf mich. Die morgendliche Kühle abschüttelnd, klettere ich auf den Rücksitz und umfasse seine Taille. Röhrend springt der Motor an, und wir donnern los.
Nach einer Nacht im Heu bläst uns der Fahrtwind die Spinnweben aus Kleidern und Haaren. Aber die vielen Träume und Alpträume der Nacht sind mir immer noch präsent. Als hätte sich in meinem Kopf eine Schleuse geöffnet, durch die jetzt ein Strom von Erinnerungen fließt. Einige sind beglückend, wie die Zeit vor etwa acht Jahrhunderten, als ich auf dem Land lebte und Reisfelder in Nordthailand bewirtschaftete. Andere sind erschütternd, wie der verzweifelte Treck über die trockenen und zerklüfteten Ebenen Abessiniens, mein Körper ausgemergelt und schwach vom vielen Hungern. Und einige wenige sind erschreckend – grausige Flashbacks von Folterbänken, beengten Zellen und brennenden Scheiterhaufen. Aber es gibt zwei Konstanten in
all meinen vergangenen Leben: die beruhigende Gegenwart Phoenix’, in welchen Körper er auch immer gerade hineingeboren wurde … und der lange, dunkle Schatten Tanas’, eine gnadenlose Bedrohung, die wie eine finstere schwarze Gewitterwolke über jedem meiner Leben hing.
Während wir über die abgelegenen Landstraßen brausen, frage ich mich, was mein jetziges Leben wohl noch so bringen wird. Ist es überhaupt noch relevant, jetzt, da ich weiß, dass ich schon einmal gelebt habe? Was werden meine Eltern über meine Wiedergeburten denken? Darüber, dass ich eine Erste Nachkommin bin? Werden sie mir überhaupt glauben?
Mei wird mich möglicherweise auslachen! Sie wird sagen, ich hätte zu viele historische Romane gelesen. Aber die harte und unleugbare Wahrheit ist: Tanas hat mich gefunden – und ich habe das unheilvolle Gefühl, dass er jedes Mal, wenn er mich aufspürt, seinem bösen Ziel näher kommt. Wird er mich in diesem Leben endgültig vernichten? Wird er den Opferritus vollenden können, um meine Seele für immer auszulöschen? Oder wird Phoenix mich davor bewahren … wieder einmal?
Während ich meine Arme um seine schlanke Taille schlinge, bin ich mir sehr bewusst, dass auch mein Beschützer sterblich ist. Er ist kein Gott oder Superheld. Er ist aus Fleisch und Blut. Ein verletzlicher Mensch.
Und wir beide sind auf uns allein gestellt im Kampf gegen eine ganze Armee von Seelenjägern. Wenn ich wirklich ehrlich zu mir selbst bin, schätze ich unsere Chancen nicht besonders hoch ein.
Ich fürchte, dieses Leben könnte unser letztes sein.
Nachdem wir eine Weile auf einer wenig befahrenen Hauptstraße unterwegs waren, halten wir an einer Raststätte, um zu tanken und zu frühstücken.
»Nimm den Helm nicht ab!«, warnt Phoenix, als er neben einer Zapfsäule absteigt.
»Warum nicht?«, frage ich.
Phoenix nickt nach oben zum Dach der Tankstelle, wo eine Überwachungskamera auf den Vorplatz gerichtet ist. »Wir wollen uns nicht selbst verraten«, sagt er.
Phoenix füllt den Tank, dann schlüpft er in den Laden, um zu bezahlen. Er kommt mit ein paar abgepackten Sandwiches, einem Straßenatlas in Taschenformat und einem zusammenklappbaren Schneespaten wieder heraus.
»Wozu soll der gut sein?«, frage ich, während er den Spaten in seinem Rucksack verstaut.
»Das erkläre ich dir später«, antwortet er. »Zuerst brauchen wir ein richtiges Frühstück.«
Wir stellen das Motorrad auf dem Parkplatz ab und betreten das angrenzende Restaurant. Phoenix erkundet schnell das Lokal, bevor er sich für eine Nische mit roten Plastiksitzen entscheidet, die außerhalb des Blickfeldes der einzigen sichtbaren Überwachungskamera liegt. Endlich können wir unsere Helme abnehmen, ich schüttle meine Haare aus und reibe mein müdes Gesicht mit beiden Händen. Es ist noch früh und das Restaurant leer bis auf den Koch, eine triefäugige Kellnerin und einen glatzköpfigen, schwerfälligen Lkw-Fahrer, der auf einem Hocker am Tresen Platz genommen hat.
Wir werfen einen kurzen Blick auf die Speisekarte, und schon bald kommt die junge Kellnerin zu uns herübergeschlendert. Phoenix bestellt ein reichhaltiges englisches Frühstück und Orangensaft. Obwohl ich in den letzten vierundzwanzig Stunden wenig gegessen habe, habe ich keinen großen Appetit, also bestelle ich einfach nur etwas Toast und eine Tasse Tee.
Während wir auf unser Essen warten, sage ich: »Erzähl mir mehr über Tanas.«
Phoenix greift sich das Messer seines Gedecks und untersucht die Klinge, als würde er über ihren Nutzen in einem Kampf nachdenken. »Tanas ist die schwärzeste
aller Seelen«, murmelt er. »Der fleischgewordene Tod.«
Bei dieser verstörenden Erklärung bildet sich ein Kloß in meiner
Kehle und ich schlucke hart. Bei der Erinnerung an Damiens unergründliche Augen wird mir klar, dass ich jetzt weiß, wie der Tod wirklich aussieht: kalt, gefühllos und grausam. »Wird er ebenso wiedergeboren wie wir?«
Phoenix nickt. »Tanas ist schon mindestens so lange auf dieser Erde wie die Ersten Nachkommen. Vielleicht auch länger. Vielleicht war er sogar bereits vor dem Licht da. Er ist der Herr und Gebieter der Inkarnaten –«
Er unterbricht sich, als die Kellnerin mit unseren Getränken zurückkommt. Mit einem flirtenden Lächeln in Phoenix’ Richtung stellt sie nachlässig das Glas Saft und den Becher Tee auf den Tisch und stapft dann wieder davon.
Ich beuge mich vor und flüstere: »Wer genau
sind diese Inkarnaten?«
Phoenix nimmt einen Schluck von seinem Orangensaft. »Diener und Sklaven Tanas’«, erklärt er. »Schwarze Seelen, gequälte Seelen … oder Seelen, die sich vom Licht abgewandt haben. Es gibt eine Hierarchie von Priestern, Seelenjägern, Wächtern und den Anhängern. Dabei sind die Seelenjäger unsere größte Sorge«. Er deutet mit der Messerspitze auf mich, sein Gesichtsausdruck wirkt grimmig. »Wie ein Rudel wilder Hunde werden sie dich verfolgen, sich an dich heranpirschen und niemals aufhören, dich zu jagen … bis du tot bist. Sie haben eine Mission, nur eine einzige Mission – Tanas dabei zu helfen, jeden Ersten Nachkommen und seine Seele für immer zu vernichten und damit das Licht der Menschheit auszulöschen.«
Ein Schauder überläuft mich. Ich erinnere mich an den Schimmer des Opferrituals auf der Spitze der alten Pyramide, als der Vulkan ausbrach und die Erde bebte. Das Messer in Phoenix’ Hand scheint sich in die gebogene, grüne Klinge des Jadedolchs zu verwandeln, und ich sehe vor meinem geistigen Auge Tanas’ rot bemaltes Gesicht und seinen schwarzäugigen, rachsüchtigen Blick, als er sich anschickte, die Klinge in mein Herz zu stoßen …
Ich schüttle die schreckliche Vision ab. »Aber warum will Tanas
dieses Licht auslöschen, das die Ersten Nachkommen angeblich in sich tragen?«
»Warum will das Böse überhaupt zerstören?«, erwidert Phoenix und sticht mit der Messerspitze in die Tischplatte aus Resopal. »Nur so kann es auf seine eigene dunkle Weise herrschen. Mit jeder Seele eines Ersten Nachkommen, die ausgelöscht wird, wächst Tanas’ Kraft und Stärke.«
Genau in diesem Moment schiebt sich eine Wolke vor die Sonne und taucht unsere Nische in den Schatten. Ich möchte Phoenix noch mehr fragen, aber ich fürchte mich zu sehr vor den Antworten.
Dann unterbricht uns die Kellnerin erneut und bringt uns das Essen – heiß, dampfend und fettig. Als sie weg ist, schneidet Phoenix eine Wurst in zwei Hälften und stopft sie hungrig in seinen Mund. Er verschlingt sein Frühstück, als wäre es vielleicht die letzte Mahlzeit seines Lebens.
»Also, was ist unser Plan?«, frage ich schließlich, den Becher Tee zwischen meinen Händen haltend und den Toast ignorierend. Das ganze Gerede von Tanas hat mich ganz von meinem Frühstück abgebracht. »Wegrennen … verstecken … kämpfen
?«
Die letzte Option erfüllt mich mit Schrecken. Ich habe Streit oder jede Art von Konfrontation schon immer gehasst, und ich war noch nie eine gute Kämpferin. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie
man kämpft.
»Alles drei«, antwortet Phoenix und lässt der Wurst eine Gabel voll Rührei folgen. »Außerdem müssen wir Gabriel finden.«
»Wer ist Gabriel?«
»Ein Seelenseher.«
Stirnrunzelnd nehme ich einen Schluck Tee. »Okay
… Und was ist ein Seelenseher?«
»Jemand, der die vergangenen Leben anderer sehen kann und wie sie miteinander verbunden sind«, erklärt Phoenix. »Ein Seelenseher ist eine Art spiritueller Führer, eine Verbindung zwischen hier und der Sphäre. Er kann uns vorübergehenden Schutz bieten und uns beraten,
was wir als Nächstes tun sollten und worin möglicherweise unsere beste Überlebenschance besteht. Aber es gibt nur wenige Seelenseher, vielleicht eine Handvoll in jeder Generation, die über die ganze Welt verstreut sind.«
Da ich endlich Appetit bekomme, nehme ich einen Bissen von meinem gebutterten Toast. »Und wo steckt dieser Gabriel?«, frage ich.
»Zu unserem großen Glück lebt er in diesem Land.« Phoenix zieht die Straßenkarte aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. »Meinen Quellen zufolge arbeitet er als Priester in einem Dorf namens Havenbury.«
Wir beugen uns über die Karte. Das Dorf ist nicht im Index verzeichnet, also beginnen wir, die Ortsnamen Seite für Seite durchzugehen.
Nach ein paar Minuten vergeblicher Suche beschwere ich mich: »Ich wünschte, ich hätte mein Handy. Dann könnten wir es googeln.«
»Ich vertraue der Technik nicht«, murmelt Phoenix und wendet sich dem nächsten Kartenabschnitt zu. »Außerdem ist man mit einem Mobiltelefon zu leicht zu orten.«
Ich rutsche unbehaglich auf meinem Sitz hin und her, als sich meine Paranoia wieder einschleicht, und das Gefühl, beobachtet zu werden, mit Macht zurückkehrt. Doch ein kurzer Blick auf das Restaurant beweist, dass meine Angst unbegründet ist. Der Koch lehnt sich aus dem Notausgang der Küche und raucht eine Zigarette, während die Kellnerin mit ihrem Handy beschäftigt ist und der Lastwagenfahrer seinen Kopf tief in eine Boulevardzeitung steckt. Niemand schenkt uns auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Und so soll es bleiben. Trotzdem gibt mir meine Handylosigkeit das Gefühl, von der Welt abgeschnitten zu sein und mich zu sehr auf Phoenix verlassen zu müssen. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich mit Mei sprechen könnte, um ihre Meinung zu alldem zu erfahren. In einer Situation wie dieser wird mir erst so richtig klar, wie sehr ich mich immer auf ihren Rat und ihre Freundschaft verlasse.
Schweigend esse ich den Toast auf und trinke meinen Tee,
während wir weiter die Karte studieren.
»Es ist wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen!«, sage ich nach weiteren zehn Minuten seufzend. »Irgendeine Idee, wo dieses Dorf sein könnte?«
Phoenix runzelt die Stirn. »Sorry, leider waren die Informationen, die ich von meinem Kontaktmann erhalten habe, etwas vage … Glockester
oder Glou-irgendwas …
«
»Gloucestershire?«, schlage ich vor.
Phoenix schnippt mit den Fingern. »Hey, das war’s!«
Er blättert in der Karte nach der Grafschaft Gloucestershire und wir setzen die Suche fort. Nach vier weiteren Seiten, die keine Ergebnisse bringen, bin ich kurz davor, aufzugeben, da entdecke ich in winziger Schrift das Wort Havenbury
.
»Da!«, rufe ich erleichtert und deute auf ein Dorf, das mitten im Herzen der Cotswolds-Hügel liegt.
Phoenix schielt auf die Karte. »Wir sind etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt«, rechnet er aus. »Zwei Stunden … vielleicht weniger. Wir sollten uns auf den Weg machen.«
Während Phoenix eilig sein restliches Frühstück in sich hineinschaufelt, erhebe ich mich von meinem Sitz.
»Wohin gehst du?«, fragt er mit vollem Mund.
»Äh … auf die Toilette?«, antworte ich und fühle mich wie ein Hund an einer sehr kurzen Leine.
Er nippt an seinem Orangensaft und nickt. »Mach nicht zu lange – und pass auf die Kameras auf.«