18
Ob es ein Wächter war oder nicht, irgendjemand im Restaurant hat einen Anruf getätigt. Das Heulen einer Sirene warnt uns vor einem entgegenkommenden Streifenwagen, gefolgt von einem Krankenwagen, und wir müssen eine mit Müll übersäte Böschung hinunterfahren und uns verstecken, während auf der anderen Seite der Schnellstraße erst ein blauweißer und dann ein neongelber Schatten vorbeiflitzen. Da die Polizei nun unseren Aufenthaltsort kennt und unsere Gesichter in jeder überregionalen Zeitung, in den Fernsehnachrichten und im Internet zu sehen sind, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man uns erneut erkennt. Die Seelenjäger werden keine Wächter brauchen, um uns zu finden – jeder
könnte uns identifizieren und unseren Aufenthaltsort den Behörden melden.
Der Gedanke, auf der Flucht zu sein, macht mir Angst. Wo werden wir unterkommen können? Was werden wir tun, um uns Essen zu beschaffen?
Phoenix scheint Geld zu haben … Aber wie lange wird das reichen? Und wie sollen wir der Polizei und
den Seelenjägern immer einen Schritt voraus bleiben? Selbst wenn wir es nach Havenbury schaffen, wird uns dieser Gabriel, dieser Seelenseher, wirklich Zuflucht und Hilfe bieten können? Auch er wird wohl kaum über dem Gesetz stehen.
Als wir zurück auf der Straße sind, wirbeln all diese Sorgen durch meinen Kopf – was meine Eltern und Freunde denken müssen, und die
Tatsache, dass Phoenix behauptet, ich könne sie nicht kontaktieren, ohne mein Leben zu riskieren. Gleichzeitig kann ich aber auch nicht leugnen, dass es einen gewissen Nervenkitzel darstellt, mit ihm auf der Flucht zu sein. Eine merkwürdige Faszination liegt darin, und ein tiefes Wissen darum, dass wir das zuvor
schon gemacht – und irgendwie überlebt haben.
Ich schmiege mich enger an Phoenix, die Wärme seines Körpers und die spürbare Kraft seiner Muskeln beruhigen mich. Er ist ein Kämpfer. Ein Überlebender. Mein Guardian. Und mit dieser Rolle geht, wie ich jetzt ahne, zwangsläufig ein gewisses Maß von Gewaltanwendung einher … aber auch das Versprechen von Sicherheit.
Aus irgendeinem Grund kommen mir ein paar lateinische Worte in den Sinn: Si vis pacem, para bellum.
Auch wenn ich diese Sprache nie gelernt habe – zumindest nicht in diesem Leben –, weiß ich genau, was die Worte bedeuten. Wenn du den Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor.
Phoenix ist meine Vorbereitung. In all diesen früheren Leben hat er dafür geübt. Und nun ist er meine Rüstung und mein Schild in den kommenden Schlachten.
Wir rasen an einem Straßenschild vorbei, das nach Newbury zeigt, also nach Norden. Ich erinnere mich an die Wegbeschreibung auf der Karte und tippe Phoenix auf die Schulter. »Ich dachte, wir wollten in die Cotswolds?«, rufe ich.
»Wir müssen einen kleinen Umweg machen«, antwortet er.
»Umweg?«,
frage ich, aber er antwortet mir nicht, oder falls doch, geht seine Antwort im Motorenlärm unter. Ich schlucke meine Frustration darüber herunter. In den letzten vierundzwanzig Stunden ist mein Leben außer Kontrolle geraten, und ich musste mich voll und ganz auf Phoenix verlassen. Da könnte er mir doch wohl auch ein bisschen mehr vertrauen, oder?
Etwa einen Kilometer vor der Abzweigung nach Andover verlässt Phoenix die Schnellstraße, und wir schlängeln uns durch ein Gewirr von kurvenreichen, mit hohen Hecken gesäumten Landstraßen und
halten schließlich am Fuß eines niedrigen Hügels. Er parkt das Motorrad in einem Wäldchen, schultert seinen Rucksack und führt uns durch die Bäume, über einen Viehzaun und auf ein Feld.
»Also, wohin gehen wir?«, frage ich und baue mich vor ihm auf.
»Dort hinauf«, antwortet Phoenix, deutet zu einem Steinkreis auf der Spitze eines Hügels und geht weiter.
Mit der Sonne im Rücken steigen wir den Hang hinauf, bis wir die Hügelkuppe erreichen, die ein flaches Plateau bildet. Als wir oben angekommen sind, bleibe ich beeindruckt stehen. Vor uns erhebt sich ein Kreis aus brusthohen, quaderförmigen Sandsteinen, die auf dem Hügel thronen wie eine gigantische Krone. Ein flacher, eingestürzter Erdwall und ein Graben umgeben diesen Kreis, von dem aus man in alle Richtungen uneingeschränkte Sicht auf die hügelige Landschaft hat.
Sobald wir über den Graben gestiegen sind und den Kreis betreten haben, spüre ich ein merkwürdiges Beben in mir.
»Was ist das für ein Ort?«, murmle ich und strecke meine Hand nach einem der mit Flechten bewachsenen Steine aus. Während meine Fingerspitzen über seine raue Oberfläche streichen, wird der Himmel …
… dunkel. Sterne explodieren zu Millionen am Firmament. Der Halbmond schimmert auf eine Gruppe verhüllter Gestalten herab, die ihre Arme zum Himmel recken, ein leiser, tiefer Gesang ertönt. Ein junges Mädchen mit langem, wallendem Haar steht im Zentrum dieser kleinen Versammlung, ihr weißes Kleid schimmert und flattert in der warmen Brise. Ein Licht scheint aus ihrem Inneren zu dringen, als ob ihr Herz eine Miniatursonne wäre. Dann dreht sie plötzlich ihren Kopf. Sie schaut mich direkt an, und ihre Ausstrahlung wird gleißend, blendend …
Phoenix fängt mich auf, als ich zusammensacke. »Die Schimmer werden im Lauf der Zeit leichter zu ertragen«, beruhigt er mich und bettet meinen zitternden Körper auf das grüne Gras.
»Warum war diese
Vision so stark?«, frage ich und fühle immer noch das Beben in meinen Knochen.
Phoenix nickt in Richtung der Steine. »Ich vermute, weil das ein Zeitenstein
ist! Genauso wie es auf seine Art der Erste-Hilfe-Kasten ist. Die Berührung damit führt dich in ein früheres Leben zurück.«
»Aber dieser Schimmer war viel stärker«, beharre ich. »Er fühlte sich hyperreal an. Ich habe mich nicht nur an ein früheres Leben erinnert, sondern es erlebt!«
Ich schildere ihm meine Vision und wie das Mädchen mich anblickte, als wäre es sich meiner Gegenwart bewusst. Phoenix kaut nachdenklich auf seiner Unterlippe.
»Das ist nicht möglich«, sagt er schließlich. Er streckt die Hand aus und berührt denselben Stein, aber sein Stirnrunzeln zeigt mir, dass er enttäuscht ist. »Dieser Schimmer liegt vielleicht vor meiner Zeit«, gibt er zu. »Ein Leben vor unseren gemeinsamen Leben.«
Er erhebt sich und wirft seinen Rucksack ab. »Vermutlich hängt die Intensität deines Schimmers damit zusammen, dass dies ein alter Tempel der Ersten Nachkommen ist. Zeremonielle Steinkreise, wie die Pyramiden in Ägypten und Mittelamerika, dienen dazu, die Energie der Erde zu konzentrieren und die Kraft des Universums zu bündeln. Dieser heilige und sichere Kreis ist ein Ort, an dem man mit dem Licht in Kontakt treten und seine Reserven erneuern kann.«
Während ich so dasitze und mich von meinem Schimmer erhole, wird mir eine prickelnde Energie bewusst, die meinen Körper durchdringt, fast so wie warmer Honig, der durch meine Knochen und Muskeln strömt. Eine tiefe Ruhe überkommt mich, ich lege mich zurück ins Gras und genieße das Gefühl.
Phoenix lässt mich ausruhen, greift in seinen Rucksack und zieht den zusammenklappbaren Spaten heraus. Dann geht er hinüber zum Kopfstein des Kreises, einem Felsen, der höher und breiter ist als die übrigen, bevor er von dort aus genau sieben Schritte macht. Nachdem er seinen Platz gewählt hat, stößt er den Spaten in den Boden.
Ich schaue ihm neugierig zu. »Wonach gräbst du?«, frage ich ihn.
»Nach einem Seelengefäß«, antwortet Phoenix und wirft einen Erdklumpen beiseite. Er bemerkt meinen verwirrten Blick. »Eine Art Zeitkapsel«, erklärt er. »Ich deponiere sie in einem Leben, um sie in
einem anderen wiederzufinden.«
»Was ist darin?«, frage ich.
Er lächelt verschmitzt. »Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht immer erinnern. Aber der Inhalt ist immer nützlich. Ein Talisman, eine Waffe, manchmal Gold oder andere wertvolle Gegenstände. Gelegentlich gibt es Informationen, die wir über Tanas gesammelt haben, etwas, das uns helfen könnte, ihn aufzuhalten.«
Ich setze mich auf. »Kann
er aufgehalten werden?«
Phoenix wischt sich mit seiner schmutzigen Hand den Schweiß von der Stirn. »Er kann sicherlich getötet werden, aber ob ihn das daran hindern kann, jemals wiedergeboren zu werden«, er zuckt mit den Achseln, »das ist eine andere Frage.« Er gräbt weiter, und nachdem er eine kleine Grube ausgehoben hat, stößt sein Spaten auf etwas Hartes.
Neugierig geselle ich mich zu ihm. »Was ist das? Hast du dein Seelen-Gefäß gefunden?«
Phoenix schüttelt den Kopf. »Ich glaube, es ist nur ein Stein.« Auf den Knien kratzt er die Erde weg, nur um noch mehr Steine und Erde herauszubefördern. Er seufzt. »Das ist das Problem mit Seelengefäßen. Viele gehen verloren oder werden zerstört, besonders in dieser Zeit, in der Straßen gebaut werden, Städte sich ausdehnen, Archäologen und Schatzsucher herumstöbern!« Er durchpflügt die Erde. »Aber es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass dieses Seelengefäß beschädigt oder gar gefunden wurde. Ich weiß also nicht, warum es nicht hier ist …« Unvermittelt schlägt er sich mit der Handfläche gegen die Stirn. »Mann, bin ich blöd! Ist doch klar! Damals war ich kleiner.«
Nachdem er den Weg vom Kopfstein aus erneut mit kleineren Schritten zurückgelegt hat, bleibt Phoenix an einer anderen Stelle stehen und beginnt wieder zu graben. Während er schaufelt, höre ich das Brummen eines herannahenden Motors. Einen Augenblick später erklimmt ein ramponierter Land Rover die Kuppe des Hügels, und ein alter Farmer in olivgrüner Wachsjacke und flacher Kappe klettert heraus.
»Ey!«, ruft er. »Was zum Teufel treibst du da?«
Phoenix blickt auf, hört aber nicht auf zu graben. »Wir haben … äh … Wir haben ihren Ring verloren«, antwortet er.
Der Farmer humpelt auf uns zu. »Pfff
. Unsinn. Man braucht keine Schaufel, um einen Ring zu finden. Jetzt verschwindet von meinem Land!«
»Wir brauchen nicht mehr lange«, versichert Phoenix und häuft weiter Erde auf.
»Ich sagte«, der Bauer hält abrupt am Rand des Kreises an, »runter von meinem Land! Na los – hopp, hopp!«
Er blinzelt mich bösartig an, während er an der Steingrenze verharrt und nicht näher kommt. Es ist fast so, als wäre er auf eine unsichtbare Mauer gestoßen. Beunruhigt von dem seltsamen Verhalten des Mannes drehe ich mich zu Phoenix um und flüstere ihm zu: »Warum steht er einfach nur da?«
»Er muss ein Wächter sein«, antwortet Phoenix, und ich erstarre vor Angst. »Keine Sorge«, fügt er hinzu. »Er kann den Kreis nicht betreten.«
Ich schaue nervös zu dem alten Bauern, der stocksteif dasteht und mich anstarrt. So als würde sich ein Schleier herabsenken, verwandeln sich seine rot geäderten Augen langsam zu dunklen Tümpeln. »Phoenix?«, sage ich. »Bist du dir da sicher
?«
Er nickt, beginnt aber trotzdem, schneller zu graben. »Inkarnaten wie er wachen oft unbewusst über Orte wie diesen, in der Hoffnung, Erste Nachkommen zu entdecken. Aber Inkarnaten können niemals einen heiligen Steinkreis betreten, der durch das Licht geschützt ist.«
Der Bauer scheint die Geduld mit uns zu verlieren und humpelt zurück zu seinem Land Rover. Er nimmt ein Funkgerät vom Armaturenbrett und plappert etwas hinein.
»Ich glaube, er ruft die Jäger«, warne ich Phoenix. »Wir sollten von hier verschwinden …«
»Noch nicht«, schreit Phoenix, seine Schaufel klappert gegen etwas, das wie ein Tontopf aussieht. Er geht auf alle viere und beginnt,
die Erde wegzukratzen.
Der Bauer legt das Funkgerät beiseite, greift in den hinteren Teil seiner Fahrerkabine und zieht etwas daraus hervor: eine Schrotflinte. Aus dem Handschuhfach schnappt er sich eine Handvoll roter Patronen, klappt das Gewehr auf und beginnt, die beiden Läufe zu laden.
»Phoenix!
«, flehe ich, indem ich mich auf die andere Seite des Kreises zurückziehe.
Aber er ist immer noch zu sehr damit beschäftigt, das Gefäß zu bergen. »Ich habe es dir doch gesagt«, brummt er, »ein Wächter kann uns hier drinnen nichts anhaben.«
»Er hat ein Gewehr!«
Phoenix blickt erschrocken auf. Während der Bauer auf uns zuläuft, reißt Phoenix das Seelengefäß aus der Erde und schüttelt es heftig. Schmutz, Steine und ein paar Münzen fallen heraus.
»Verdammt!«, flucht Phoenix. »Es ist leer!«
Der Bauer stößt ein schnaubendes Gelächter aus. »Den Ärger hätte ich dir ersparen können, Junge«, erklärt er. »Deine kleinen Schmuckstücke wurden bereits von Schatzsuchern erbeutet.«
Frustriert umklammert Phoenix etwas ausgehobene Erde mit bloßen Fäusten.
»Und jetzt sitzt ihr in der Falle«, höhnt der Bauer. Er bleibt an der Grenze des Steinkreises stehen, klappt die Schrotflinte zu und richtet sie auf meine Brust.
Die doppelläufige Mündung starrt mich ebenso schwarz und unheilvoll an wie die Augen des Bauern.
Der Bauer grinst. »Das wird so leicht, als würde man Fische in einem Fass angeln …«
Rasch springt Phoenix auf und marschiert auf den Bauern zu. »Halt!
Sie dürfen sie nicht erschießen. Tanas würde das nicht dulden!«
Ein verschlagenes Grinsen huscht über das stoppelige Gesicht des Farmers. »Nein, das darf ich nicht, zumindest solange sie nicht wegrennt … Aber dich kann ich abknallen.«
Er schwingt den Lauf in Phoenix’ Richtung. Im gleichen Moment schleudert Phoenix eine Handvoll Erde in das Gesicht des Bauern. Als das Gewehr losgeht, wirft sich Phoenix zur Seite, und der Schuss trifft einen der Steinquader.
»LAUF, GENNA«,
ruft Phoenix, greift sich seinen Rucksack und sprintet auf mich zu.
Wie ein aufgeschreckter Hase hetze ich den Hang hinunter. Auf der Hügelkuppe schimpft und tobt der Bauer, während er sich den Dreck aus den Augen reibt. Phoenix rennt dicht hinter mir her, den Rucksack geschultert. Ein zweiter Schuss hallt über das Feld. Ich springe flink über den Zaun. Die Ladung Schrotkugeln zischt vorbei wie tödlicher Hagel … aber keine davon trifft mich. Wir tauchen in die Deckung des Waldes, als ein dritter Schuss lediglich die Blätter über unseren Köpfen durchlöchert.