21
»Bist du sicher , dass es sich um dieselbe Burg handelt?«, frage ich, während wir dem gewundenen breiten Kiesweg durch die unteren Gärten bis zum Haupteingang von Schloss Arundel folgen. »Ich erkenne nichts davon wieder.«
Vor uns erhebt sich auf einem grünen Hügel ein mächtiges Gebäude aus grauem Stein mit Türmchen und hohen Schornsteinen. Reihen von bogenförmigen, bleiverglasten Fenstern zieren die Außenmauer, und die Zinnen scheinen mehr der Dekoration als der Verteidigung zu dienen. An der Südwestecke bildet ein riesiger runder Turm mit schmalen Schießscharten den burgähnlichsten Teil der Befestigungsanlage, aber der Rest des rechteckigen Gebäudes ähnelt eher einem Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Phoenix runzelt verwirrt die Stirn. »Ich vermute, dass nach dem Bürgerkrieg vieles wieder neu aufgebaut wurde.«
Nachdem wir das Motorrad auf dem Besucherparkplatz abgestellt haben, gehen wir weiter bergauf, unsere Schritte knirschen im weichen Kies. Eine alte Mauer aus Flintsteinen am Fuß der Böschung kommt mir vage bekannt vor, ansonsten habe ich keine wirkliche Erinnerung an diesen Ort.
»Kann ein Schimmer falsch sein?«, frage ich.
»Sie sind so verlässlich wie jedes Gedächtnis«, antwortet er und zieht dann eine Augenbraue hoch. »Obwohl unser Gedächtnis natürlich manchmal auch trügen kann.«
Ich fange an zu glauben, dass wir hier unsere Zeit verschwenden und besser direkt zu Gabriel hätten gehen sollen, als wir um eine Ecke biegen und plötzlich ein Paar quadratische Steintürme in Sicht kommen. Sofort überfällt mich ein starkes Déjà-vu-Gefühl. Als ob zwei Fotos übereinandergelegt worden wären, sehe ich sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart. Das Alte und das Neue. Ich kann erkennen, wo die quadratischen Türme renoviert wurden, wo das innere Torhaus mit neuen Flintsteinen repariert wurde und wo hoch auf dem grasbewachsenen Hügel dahinter die Zinnen des mächtigen Bergfrieds wieder rekonstruiert wurden. Nur der Brunnenturm des Bergfrieds ist über die Jahrhunderte hinweg intakt geblieben, seine Konstruktion hat sowohl Sturm als auch Belagerung überstanden.
»Das ist es!«, flüstere ich atemlos. »Mein altes Zuhause.«
Phoenix nickt. »Nur eines von vielen in deinem Leben … Aber vielleicht eines der großartigsten!«
Aufgeregt beschleunigen wir unsere Schritte. Am Tor des Besuchereingangs werden wir von einer mausgrauen Aufseherin mit mausgrauen Haaren empfangen. »Das Schloss schließt in einer halben Stunde«, warnt sie uns.
»Danke«, antwortet Phoenix und zeigt der Frau unsere Tickets. »Das ist mehr als genug Zeit.«
Die Aufseherin wirft einen flüchtigen Blick auf die Eintrittskarten, dann bleiben ihre blassgrünen Augen an mir hängen, ein bisschen zu lang für meinen Geschmack. Ich lächle sie nervös an. Sie lächelt nicht zurück, ihre dünnen Lippen ziehen sich zusammen, als ob sie an einer sauren Zitrone lutschen würde, trotzdem winkt sie uns durch.
Als wir unter dem steinernen Tor hindurch und in einen kleinen Hof gehen, flüstere ich: »Ich glaube, sie hat mich erkannt.«
Phoenix blickt zurück zu der Frau, die uns aus der Ferne beobachtet. »Glaubst du, sie ist eine Wächterin?«, fragt er.
»Ich weiß nicht … Sie hat vielleicht nur mein Gesicht in den Nachrichten gesehen.«
»Dann beeilen wir uns besser, falls sie die Polizei ruft«, antwortet Phoenix. »Erinnerst du dich an den Weg zu deinem alten Zimmer?«
»Ich glaube schon«, antworte ich und gehe voran.
Über einige Stufen betreten wir eine Eingangshalle. Außer einer Rüstung ist nur wenig zu sehen, und der Raum löst keine Erinnerungen aus. Der neuere Stein der Wände lässt vermuten, dass der Saal während der Restaurierung der Burg gebaut wurde. Aber ich entdecke ein Schild, das auf den Bergfried hinweist. Wir steigen eine steile Treppe in den ersten Stock hinauf und betreten links durch eine große Tür eine gewölbte Kammer mit Jagdtrophäen an den Wänden. Gegen den Besucherstrom in Richtung Ausgang nehmen wir eine weitere Wendeltreppe, bevor wir durch einen engen Korridor und dann weitere Stufen nach oben gehen.
Als wir neugierig in ein paar der Räume spähen, fragt Phoenix: »Kommt dir etwas davon schon bekannt vor?«
Ich schüttle den Kopf und folge weiter den Schildern zum Bergfried.
Phoenix streift mit der Hand über die glatten, perfekt gesägten Blöcke aus hellem Sandstein. »Hoffen wir nur, dass das innere Torhaus nicht auch völlig saniert wurde«, murmelt er. Ich kann an seinem angespannten Tonfall erkennen, dass er um das Schicksal des Seelengefäßes besorgt ist – und ich bin es auch. Ist dies nur ein weiterer nutzloser Umweg?
Der Korridor zieht sich weiter, bis der Sandstein schließlich älteren Ziegel- und Flintsteinmauern weicht. Ein kühler, muffiger Geruch hängt in der Luft, und wie bei einer Zeitreise erinnere ich mich daran, dass ich in einem leuchtend blauen Mieder und gebauschten Röcken durch eben diesen Korridor lief, mein blondes Haar zu einem Knoten aufgesteckt, in meinen Händen einen Strauß wilden Lavendels haltend. Als ich kurz die Augen schließe, kann ich fast den berauschenden Kräuterduft riechen, und die Geister des Bürgerkriegs kehren zurück. Knapp oberhalb meiner Gehörschwelle vernehme ich den unheilvollen …
Kanonendonner und die gequälten Schreie der verletzten Soldaten. Panische Rufe erfüllen das Treppenhaus, und der süße Geruch von Lavendel wird vom beißenden Gestank verbrannten Schießpulvers überlagert …
Ich öffne meine Augen, halb in der Erwartung, meinen königstreuen Vater zu sehen, der mich anbrüllt, ich solle schleunigst in den Bergfried gehen, dann schnappe ich nach Luft, als ich beinahe gegen einen bärtigen Mann pralle, der ebenso groß und imposant ist wie mein längst verstorbener Vater. Aber er ist nur ein Tourist mit einer Kamera, der mehr an Schnappschüssen vom Schloss interessiert ist als an mir.
»Alles in Ordnung?«, fragt Phoenix.
»Ein Flashback, das ist alles«, erkläre ich und eile weiter. Als ich die Räume des inneren Torhauses betrete, wende ich mich instinktiv nach rechts und steige die Wendeltreppe hinauf zu meinem alten Zimmer. Es ist vertraut und fremd zugleich. Der Ort ist für Touristen aufgemotzt worden. Die Holzbalkendecke wurde sorgfältig restauriert, und die Dielenböden aus dunkler Eiche sind neu verlegt und poliert. Ein rotgoldener Wandteppich hängt von einer Eisenstange an einer Wand aus Flint- und Backstein. Auf der anderen Seite des Raumes steht ein einfaches Holzbett und in der Ecke neben dem Kamin ein Stuhl mit hoher Rückenlehne. Zwei Kerzen flackern in ihren Halterungen, und aus einem Tonkrug auf einem grob gezimmerten Tisch ragt ein Bund getrockneten Lavendels.
Ich kann nicht anders, als laut zu lachen. »Mein Zimmer war niemals so wie dieses!«
Ein älteres Ehepaar starrt mich an, erstaunt über meinen bizarren Ausruf. Sie schlurfen zur Tür, während ich weiter das Zimmer inspiziere, abfällige Bemerkungen über den knalligen Wandteppich mache und darauf hinweise, wo meine Sachen tatsächlich standen.
Als das Paar verschwunden ist und wir alleine sind, fragt mich Phoenix: »Erinnerst du dich noch, hinter welchem Stein sich das Gefäß befindet?«
Ich grinse ihn an. »Aber natürlich! Du hast mich schwören lassen, dass ich es mir einpräge.« Und ich deute auf den dritten Stein auf der rechten Seite des Kamins.
Nachdem er die rote Absperrkordel überstiegen hat, legt Phoenix seinen Rucksack ab und zieht das Schweizer Armeemesser heraus. »Jemand hat diese Mauern neu verfugt«, kommentiert er. Er wählt den kleinen Meißel und beginnt, den Mörtel rund um den Stein wegzukratzen. »Beten wir, dass sie nicht noch mehr verändert haben.«
Während Phoenix den Mörtel entfernt, wandere ich durch mein altes Schlafzimmer und versuche, weitere Erinnerungen einzufangen. Mein früheres Leben war nicht immer vom Krieg geprägt. Es gab auch glücklichere Zeiten – mit meiner Tante am Kamin nähen, Laute spielen lernen und Lieder singen. Manchmal las ich bei Kerzenlicht die Gedichtfragmente, die William für mich schrieb. Mich durchströmt ein warmes Gefühl bei dieser Erinnerung, und ich blicke zu Phoenix hinüber, der den Stein herauszuziehen versucht.
Eine Informationstafel am Fenster versucht zu beschreiben, wie das Leben damals war, aber ich weiß, wie es wirklich war, und keine Worte könnten jemals das Himmlische und zugleich die Härten, die Einfachheit und Entbehrungen dieser Zeit erklären. Neben dem Text befindet sich die Reproduktion eines Familienporträts aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Bei näherem Hinsehen unterdrücke ich ein lautes Aufstöhnen. Meine Aufmerksamkeit wird von einem jungen Mädchen mit hellem Teint und strohblondem Haar gefesselt. Sie trägt ein leuchtend blaues Mieder und sich bauschende Röcke.
»Das bin ich !«, flüstere ich verwundert.
Der Schock, mich selbst zu erkennen – so ganz anders und doch so unbestreitbar ich selbst –, jagt mir einen Schauer über die Haut. Für einen kurzen Moment erlebe ich das bizarre Gefühl, in zwei Körpern gleichzeitig zu sein. Dann verschwindet das Gefühl, und ich kehre in die Gegenwart zurück.
»Hey! Was zum Teufel machst du da?«, ruft eine empörte Stimme.
Erschrocken drehe ich mich um und sehe einen grauhaarigen Aufseher in der Tür stehen.
Er starrt Phoenix wütend an, dem es gelungen ist, den Stein zu entfernen, und der nun ein staubiges Tongefäß aus dem dahinter liegenden Hohlraum holt.
»Stell das zurück, du Dieb!«, knurrt der Aufseher.
»Was mir gehört, kann ich nicht stehlen«, erklärt Phoenix und stopft das Gefäß in seinen Rucksack.
»Dir? «, schreit der Aufseher, während Phoenix sich aufrichtet.
»Ja, ich habe es vor dreihundertsiebzig Jahren hier deponiert«, erklärt er sachlich.
Die wütende Verblüffung zerknittert das faltige Gesicht des Aufsehers noch mehr. Dann verhärtet sich sein Ausdruck. »Gib das sofort zurück … Oder ich rufe die Polizei!«
Durch das Fenster bemerke ich eine Schar dunkelblauer Uniformen, die den unteren Burghof durchqueren.
»Zu spät«, sage ich alarmiert zu Phoenix. »Sie sind schon da!«