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»Dann hatte meine Kollegin also recht, was euch beide betrifft!« Selbstgefällig verschränkt der Aufseher die Arme und wartet an der Tür auf die Polizei.
Als sich die Einheit bewaffneter Beamter am Fuße des Torhauses versammelt, wird mir klar, dass wir nicht viel Zeit haben. »Was immer Sie in den Zeitungen gelesen haben, Phoenix ist kein Terrorist und ich bin nicht entführt worden«, erkläre ich eilig. »Die Wahrheit ist, dass wir gejagt werden. Wir brauchen dieses Gefäß, um zu überleben!«
Der versteinerte Gesichtsausdruck des Aufsehers zeigt, dass er von meinen Bitten unbeeindruckt ist. »Erzähl das der Polizei, nicht mir«, sagt er unwirsch. »In meinen Augen seid ihr gewöhnliche Diebe.«
»Von mir aus können Sie das Ding zurückhaben«, sagt Phoenix mit einem resignierten Seufzer. Dann, zu meiner Überraschung und Bestürzung, zieht er das Seelengefäß aus seinem Rucksack und wirft es dem Aufseher zu. »Hier, fang!«
Völlig überrumpelt will der Aufseher den alten Tonkrug packen … ohne Erfolg. »Nein!«, schreit er, als der Krug am Boden in ein Dutzend Scherben zerbricht.
Phoenix nutzt die Gelegenheit, packt meine Hand, und gemeinsam stürmen wir zur Tür. Wir drängen uns an dem abgelenkten Aufseher vorbei und rennen die Wendeltreppe hinunter. Aber von unten schallt uns bereits das Dröhnen schwerer Stiefel entgegen.
»Nicht schon wieder!«, murmelt Phoenix, als ein Polizeibeamter in kugelsicherer Weste und Helm uns den Fluchtweg versperrt.
Das Ganze fühlt sich nicht mehr an wie ein Déjà-vu, sondern wie eine exakte Wiederholung der Geschichte. Diesmal ohne Degen zur Verteidigung tritt Phoenix gegen die Brust des gepanzerten Polizisten. Von der engen Wendeltreppe eingeschlossen, kann der Mann nicht ausweichen, stürzt rückwärts die Treppe hinab und löst einen Dominoeffekt aus, der seine Kollegen hinter ihm zu Fall bringt. Doch nun rückt eine zweite Einheit schwer bewaffneter Einsatzkräfte auf dem schmalen Korridor vom Hauptschloss aus an.
»Stehen bleiben!«, befiehlt der Einsatzleiter mit einer Taserpistole in der Hand.
Seinen Befehl ignorierend, drehen wir uns um und sprinten in die entgegengesetzte Richtung, auf eine vertraute Eichentür zu, von der wir beide wissen, dass sie zu den Wehrgängen führt. Wie im 17. Jahrhundert suchen wir verzweifelt Zuflucht im Bergfried des Schlosses.
Die Polizei ist uns dicht auf den Fersen. Aber diesmal hält Phoenix nicht inne, um sich ihnen entgegenzustellen, wie er es bei den Seelenjägern getan hat. Stattdessen springen wir die steile Steintreppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Von ihrer Schutzausrüstung behindert, können die Beamten kaum Schritt halten, wir erreichen das Treppenende lange vor ihnen und betreten den Bergfried durch das Fallgittertor. Leider ist der Mechanismus zum Absenken des Gitters außer Kraft gesetzt. Daher schlage ich die Innentür hinter uns zu und lege den Riegel vor, doch das verrostete Metall wird die Polizei nicht lange aufhalten.
»Wohin jetzt?«, keuche ich, während ich mich im runden Innenhof umschaue und um einen weiteren Ausgang bete. Die hölzernen Wohngebäude aus der Zeit des Bürgerkriegs sind längst verschwunden, die quadratischen Löcher und Steinstützen in den Mauern sind die einzigen Anzeichen für ihre frühere Existenz. Zu unserer Rechten befindet sich ein großer, zugemauerter Eingang, aber ich erinnere mich, dass dieser schon damals blockiert war. Ein kleines, bogenförmiges Tor zu unserer Linken führt in den Turm des Bergfrieds, und über unseren Köpfen gibt es einen Laufgang unterhalb der Zinnen, der zwar schöne Ausblicke auf die umliegende Landschaft bietet, aber keine Möglichkeit zur Flucht. Die einzige Option scheint die Treppe in der Mitte des leeren Hofes zu sein – aber ich bin sicher, dass diese nur in den Keller und zum Kerker des Bergfrieds führt. Nicht unbedingt der vielversprechendste Fluchtweg aus einer befestigten Burganlage.
»Denk nach, Genna. Wie sind wir letztes Mal entkommen?«, fragt Phoenix, der ebenfalls völlig ratlos wirkt.
»Mein Schimmer reichte nicht so weit«, antworte ich. »Sind wir denn überhaupt entkommen? Vielleicht haben wir uns ergeben? Oder sind wir möglicherweise sogar … gestorben
Phoenix schüttelt den Kopf. »Ich erinnere mich auch nicht mehr. Wir brauchen etwas, um unserer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen –« Das Getrappel von Stiefeln nähert sich, und schnell ergreift er meine Hand und drückt sie gegen die kühle Mauer des Bergfrieds …
»Wir müssen uns ergeben, Hauptmann«, krächzt der Torwächter, während im Hintergrund das Dröhnen eines Rammbocks ertönt wie eine dumpfe Totenglocke.
Ich knie neben William, meine Hand presst einen Kräuterwickel gegen seine Seite. Während ich mich um seine Wunde kümmere, lausche ich auf den nächsten bedrohlichen Schlag und bete, dass ihm nicht das Krachen von splitterndem Holz folgt. Tanas, ungeduldig wie eh und je, ist entschlossen, das Fallgitter aufzubrechen, und rennt gegen das Tor an. Bis jetzt hat die massive Eiche dem Ansturm standgehalten, aber wie lange noch?
William blickt streng auf die Wache. »Nein!«, erklärt er. »Das ist keine Option.«
»Aber, Sir! Warum bestehen Sie darauf, durchzuhalten?«, fragt der junge Mann, seine Stimme heiser vor Verzweiflung. »Unsere Sache ist verloren. Alle unsere royalistischen Mitstreiter sind entweder tot oder gefangen.«
William fixiert die Wache entschlossen, aber dennoch mit einem gewissen Mitleid; die hohlen Augen und eingefallenen Wangen des Mannes sind Beweis genug für das unermessliche Leid und den Hunger, den er seit Beginn der Belagerung erdulden musste. »Weil, mein guter Mann, mehr auf dem Spiel steht als einfach nur das Schicksal unseres Königs.«
Die Wache starrt William völlig ungläubig an, offensichtlich unfähig zu begreifen, dass etwas wichtiger sein könnte als sein verehrter König. »Aber wir haben nur wenige Waffen, Sir … begrenzte Vorräte … und kein Wasser«, wendet er ein. »Wir können nicht hoffen …«
»Kein Wasser!«, wiederholt William und richtet sich plötzlich auf. »Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht!«
Der Lärm von splitterndem Holz mahnt uns, dass unsere Abwehr nicht mehr lange hält. Ich beeile mich, Williams Wunde zu verbinden, aber er stößt mich von sich und greift nach seinem Degen.
»Dafür ist keine Zeit, Anne«, sagt er, als ein dumpfer Aufprall des Rammbocks ein weiteres Mal das Holz wie einen trockenen Knochen knacken lässt. Das Fallgitter wird sie nicht mehr lange aufhalten. »Wir müssen los!«, ruft William.
»Aber wohin?«, frage ich. Ich überlege verzweifelt, wie wir aus dem Schloss fliehen können.
Ich weiß, dass es hinter dem Nordturm des Haupttores einen kleinen versteckten Ausgang gibt, aber der nützt niemandem, der im Bergfried gefangen ist. Wenn es zu einer Belagerung kommt, ist die uneinnehmbare Stärke des Bergfrieds auch seine größte Schwäche. Ich fürchte, es gibt keinen anderen Ausweg … oder doch?
William lässt die verwirrte Wache zurück, nimmt meine Hand und führt mich in den Brunnenturm des Bergfrieds.
»Der Brunnen!«, rufe ich, indem ich aus dem Schimmer erwache. Trotz der Länge der gefühlten Vision verging die Zeit wie bei einem Traum fließend: Im Hier und Jetzt sind nicht mehr als ein paar Minuten verstrichen, und die Polizei hat den Bergfried noch nicht gestürmt. Aber ihre Stimmen sind jetzt beunruhigend nah. Ich höre einen geflüsterten Befehl: »Halt! Wir haben sie. Sie sitzen in der Falle
Aber ich weiß, dass es nicht so ist.