24
»Ratten sollten niemals dasselbe Schlupfloch zweimal benutzen!«, höhnt eine Stimme. »Ihre Fluchtwege werden sonst vorhersehbar.«
Damiens Silhouette zeichnet sich bedrohlich gegen die Sonne ab, als er sich über uns beugt. Mit seinem schmalen, hungrigem Gesicht und den tiefschwarzen Augen starrt er mich an wie ein Raubvogel, der kurz davor ist, sich auf seine Beute zu stürzen.
Ich rappele mich auf, ebenso wie Phoenix, der sich vor mich schiebt. Damien wird von vier Seelenjägern flankiert. Ihre schweigende Präsenz ist so unheimlich und beunruhigend wie in der ersten Nacht im Park. Ihre Gesichter liegen im Schatten ihrer Kapuzen. Dennoch erspähe ich das Spinnen-Tattoo einer Schwarzen Witwe am Hals eines der Mädchen und ein Büschel drahtiger blonder Haare unter der Kapuze eines kleineren Jungen.
Die Jäger schwärmen aus, umzingeln uns in einem Halbkreis, und mit dem Teich im Rücken ist damit jeder Fluchtweg abgeschnitten.
»Woher wusstest du, dass wir in Arundel sind?«, knurrt Phoenix.
Damien schenkt ihm ein rasiermesserscharfes Lächeln. »Unsere Wächter sind überall .« Sein unergründlicher Blick schweift über den Teich und die umliegenden Bäume. »Ziemlich friedlich hier, nicht wahr?«, bemerkt er, bevor er höhnisch lacht. »Während des Bürgerkriegs, als hier noch Blutvergießen und Chaos herrschten, war es mir viel lieber. Ich vermisse das Donnern der Kanonen und den Lärm der Schwerter. Du nicht auch?«
Wir bereiten ihm nicht die Genugtuung einer Antwort, sondern stehen einfach trotzig schweigend da.
Damiens Augen glitzern boshaft. »Es war besser damals, als man noch ungestraft einen Mann töten konnte, besonders wenn er Royalist war! Tatsächlich erinnere ich mich daran, dass ich eine Wache genau an dieser Stelle exekutiert habe. Ich habe ihm seinen mageren Kopf abgehackt, weil er uns verschwiegen hat, wohin ihr beide geflohen wart.« Ärgerlich runzelt er die Stirn. »Wäre er nicht gewesen, hätten wir euch an jenem Tag gefangen genommen und schon vor Jahrhunderten geopfert.«
»Du seelenloses Monster!«, schreie ich, unfähig, meine Zunge länger im Zaum zu halten. Der arme Torwächter war damals mir und William gegenüber also loyal geblieben, trotz der vernichtenden Niederlage unserer Seite. Selbst nach so vielen Jahren trauert mein Herz um den jungen Mann und empört sich über die Brutalität meines Feindes.
Damien fixiert mich mit seinem unbarmherzigen Blick. »Oh, Genna, wie falsch du liegst! Ich habe eine Seele. Eine, die deine überleben wird.«
»Nicht, solange ich ein Wörtchen mitzureden habe«, erklärt Phoenix entschlossen. Sein Körper spannt sich wie eine Sehne.
Damien lächelt über Phoenix’ Tapferkeit. »Du mimst immer den mutigen Beschützer, nicht wahr? Aber genau wie Burg Arundel fiel, so wirst auch du fallen.« Er mustert Phoenix verächtlich von oben bis unten. »Was hast du überhaupt hier am Ort eurer Niederlage zu suchen.«
»Das hier!«, schreit Phoenix und stürzt sich unvermittelt auf ihn. Aus dem Lederbeutel hat Phoenix den gläsernen Splitter eines rabenschwarzen Steins gezogen und geht mit der Spitze direkt auf Damiens Herz los.
Doch die Seelenjäger reagieren mit erschreckender Geschwindigkeit. Einer von ihnen schlägt mit einer Fahrradkette zu, die sich um Phoenix’ Handgelenk wickelt. Ein anderer tritt Phoenix in die Eingeweide, worauf er zusammenklappt. Ein dritter rammt ihm den Fuß in den Rücken, stößt ihn zu Boden und trampelt auf seinem Handgelenk herum, damit er den klingenartigen Stein loslässt.
Während der gesamten Attacke bleibt Damien reglos stehen, er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, Phoenix’ erstem Angriff auszuweichen. Verächtlich blickt er auf meinen Guardian herab und spöttelt: »Ts-ts. Schon wieder eine Niederlage auf diesem Boden. Aber keine Sorge, das ist die letzte Schlacht, die du jemals schlagen wirst!«
Er nickt seinen stummen Handlangern zu, die Sache zu Ende zu bringen. Aber ebenso wie seine frühere Inkarnation William vor dreihundertsiebzig Jahren weigert sich Phoenix, kampflos aufzugeben. Er holt mit dem Fuß aus und verpasst der tätowierten Jägerin einen gezielten Tritt gegen die Kniescheibe. Sie heult auf vor Schmerz und geht zu Boden. Dann zerrt Phoenix an der Fahrradkette, reißt damit den Schlägertyp dicht zu sich heran und rammt ihm den Ellbogen ins Gesicht. Ein scheußliches Knirschen ertönt, als dessen getapte Nase erneut gebrochen wird. Mit einem Aufschrei lässt der Jäger die Kette los, und Phoenix springt auf. Als er auf den blonden Jäger losgehen will, schaltet sich der vierte und letzte Kapuzenkerl in den Kampf ein. Ich erkenne die Gestalt sofort wieder. Es ist das große Mädchen, das Phoenix im Park mit dem Stahlrohr zu Fall brachte. Diesmal allerdings trägt sie Schlagringe, die auf den ersten Blick den Anschein ganz normaler, großer Fingerringe erwecken. Sie stößt so blitzartig zu, dass ihre Faust aus funkelndem Metall zu bestehen scheint. Phoenix versucht, dem Schlag auszuweichen, aber die harte Kante ihres Schlagrings erwischt ihn am Kinn. Der markerschütternde Aufprall lässt ihn fast bewusstlos werden.
Während Phoenix sich von dem Treffer zu erholen versucht, blickt er benommen in meine Richtung. »Genna, LAUF!«, schreit er und Blut rinnt aus seiner aufgeplatzen Lippe. Alle vier Jäger stürzen sich auf ihn, und er verschwindet unter einer Welle von Tritten und Schlägen.
Da Damien abgelenkt ist und sich an der brutalen Prügelei erfreut, ist mein erster Instinkt, um mein Leben zu rennen. Das zu tun, was mein Guardian befiehlt, wie zuvor im Park.
Aber diesmal bleibe ich. So verängstigt und unvorbereitet ich auch bin, weigere ich mich, ihn noch einmal allein weiterkämpfen zu lassen.
Ich schnappe mir einen großen Ast vom Boden, stürze nach vorne und donnere ihn einem Seelenjäger auf den Hinterkopf. Mit einem dumpfen Schlag fällt er bäuchlings ins Gras. Ich schwinge den Stock erneut, diesmal gegen das Mädchen, das Phoenix gnadenlos mit ihren Schlagringen traktiert. Aber sie blockt meinen Angriff mit dem Unterarm ab und der Ast zerbricht. Ich lasse die nutzlose Waffe fallen und stürze mich mit wilden Schlägen und Tritten auf sie. Aber genauso gut könnte ich gegen einen gepanzerten Tiger kämpfen. Sie wehrt meinen Angriff mühelos ab, packt mich an der Kehle und hebt mich von den Füßen. Erschrocken über ihre Stärke hänge ich hilflos und japsend in der Luft, während die anderen drei Jäger Phoenix niederringen. Dann lässt mich das Mädchen zu Boden fallen, wo ich keuchend neben ihm liegen bleibe.
Lässig und entspannt hebt Damien den schwarzen Steinsplitter auf und wiegt ihn in seiner Hand. »Das ist es also, was du gesucht hast. Hm … Obsidianstein. Wie bist du im England des siebzehnten Jahrhunderts nur auf so etwas gestoßen?«
Phoenix schweigt und windet sich im Griff der Jäger. Damien stellt sich breitbeinig über ihn und hält die Obsidianklinge in der Hand. »Ich schätze, es wäre nur ausgleichende Gerechtigkeit, dich damit zu töten, nicht wahr?«
Er kniet sich nieder, die Unterschenkel rechts und links von Phoenix’ Brust, und beginnt, eine Beschwörungsformel zu murmeln. »Rura, rkumaa, raar ard ruhrd … «
Sofort erkenne ich den alten rituellen Gesang wieder. »NEIN!«, schrei ich. »Bitte nicht!«
Aber Damien lässt sich nicht beirren und hebt den klingenartigen Splitter mit beiden Händen über seinem Kopf. Unfähig, ihn aufzuhalten, schaut Phoenix zu mir hinüber, und in diesem Augenblick, da sich unsere Blicke treffen, weiß ich, dass er von diesem Opfertod nicht mehr zurückkehren wird. Nie wieder. Weder in diesem Leben noch im nächsten.
»Es tut mir leid«, stammelt Phoenix durch blutverschmierte Lippen. »Ich habe dich enttäuscht.«
Sein Blick verschwimmt, ich stoße ein verzweifeltes Schluchzen aus und will zu ihm. Aber das Mädchen mit dem Schlagring packt mich an den Haaren und zerrt mich weg.
»Nein! Du hast mich nicht enttäuscht!«, rufe ich, während ich mich gegen das Zerren der Jägerin wehre. »Du hast mich noch niemals enttäuscht.«
»Qard ur rou ra ra datsrq, Ra-Ka!«
Damiens Stimme erhebt sich über meine, und die Seelenjäger brechen schließlich ihr Schweigen, um einen hypnotischen Gesang aufzunehmen.
»RA-KA! RA-KA! RA-KA!«
Eine schwarze Wolke verdeckt die Sonne und wirft ihren Schatten über uns. Während die Temperatur um einige Grad sinkt, scheint das Plätschern des Teichs zu verstummen, die Gänse hören auf zu schnattern und die Grillen auf zu zirpen. Es ist, als hätte die Welt selbst aufgehört zu atmen. Nur der eindringliche rhythmische Gesang und Damiens inbrünstige Stimme sind noch zu hören.
»Uur ra uhrdar bourkad!«
»RA-KA! RA-KA! RA-KA!«
Phoenix’ Körper erschlafft in einer Art Trance. Damien hebt die Klinge höher und bereitet sich darauf vor, den Splitter in Phoenix’ Herz zu treiben.
»LASSEN SIE DIE WAFFE FALLEN«, befiehlt eine strenge Stimme, während uns plötzlich bewaffnete Polizisten umringen.
Aber Damien packt die Obsidianklinge nur noch fester, eindeutig entschlossen, den Befehl zu ignorieren.