25
Der Polizeitransporter fährt sanft schaukelnd von Arundel nordwärts in Richtung London. Ich hocke mit Handschellen gefesselt auf einer Bank im hinteren Teil des Wagens zusammen mit den anderen Gefangenen. Der Wagen ist ein Minigefängnis auf Rädern, das Innere besteht nur aus grauem Metall und Plastik, das Sicherheitsglas der Fenster ist von einem Drahtgeflecht durchzogen. An der Hecktür, durch ein Metallgitter von uns getrennt, sitzt ein Polizist mit steinerner Miene und einem Taser in der Hand. Draußen dämmert es, und der Himmel verfärbt sich in ein blutunterlaufenes Violett.
Ich kann nicht fassen, dass ich trotz allem, was sich in den letzten Stunden abgespielt hat, verhaftet wurde. Ich bin in dieser Situation ganz zweifellos das Opfer, dennoch behandelt mich die Polizei wie eine Kriminelle und hält mich wegen versuchten Diebstahls und Widerstandes gegen die Staatsgewalt fest. Obwohl ich unschuldig bin, habe ich ein schlechtes Gewissen. Vor allem, weil ich meine Eltern enttäuscht habe. Mir graut vor dem Ausdruck in ihren Gesichtern, wenn sie mich in Handschellen und in Polizeigewahrsam sehen werden.
Außerdem fürchte ich mich.
Damien und seine Seelenjäger sitzen auf der Bank mir gegenüber, alle in Handschellen und die Gesichter von Kapuzen verhüllt. Doch während die Köpfe der Bande gebeugt sind, sitzt Damien weiterhin kerzengerade und starrt mich unverwandt an. Die Atmosphäre um ihn
herum scheint so kalt und tot zu sein wie seine unergründlichen Augen, und mir wird übel, als würde ich in seiner Nähe langsam einer Strahlenvergiftung erliegen.
»Du bist ziemlich schön«, sagt er aus heiterem Himmel, nachdem er zuvor eine halbe Stunde totenstill dagesessen hat.
Ich rutsche unbehaglich auf der Bank hin und her und weiche seinem wölfischen Blick aus.
Er beugt sich näher, bis ich den seltsam süßlichen Geruch seiner Haut wahrnehmen kann. »Das ist eine Eigenschaft, die du von einem Leben zum nächsten beizubehalten scheinst«, bemerkt er mit gespielter Aufrichtigkeit. Er lächelt charmant, und für eine kurze Sekunde erhasche ich einen Blick auf den hübschen Jungen, der er sein könnte, wenn nicht das reine Böse seiner Seele entspringen würde.
»Wie schön, dass dir das aufgefallen ist«, erwidere ich ironisch.
Damien neigt seinen Kopf zur Seite. »Ich frage mich, ob das etwas mit dem Licht zu tun hat, das du in dir trägst? Dann wäre es fast eine Schande, es auszulöschen –«
»Halt die Klappe«, faucht Phoenix durch zusammengebissene Zähne. »Oder ich bringe den Beamten dazu, dich noch mal zu tasern.«
Phoenix, der in Handschellen neben mir sitzt, ist plötzlich so alarmiert wie ein Wachhund. Bis eben dachte ich, er wäre immer noch ohnmächtig, entweder durch die Auswirkungen der Trance des Rituals oder durch die Schläge. Eines seiner Augen ist fast so violett wie der Himmel, seine Unterlippe ist aufgeplatzt, und er sitzt gekrümmt, da sich die Schusswunden auf seinem Rücken während des Kampfes geöffnet haben. – Aber er lebt! Das ist mehr, als ich vor ein paar Stunden zu hoffen gewagt hätte. Ohne den schnellen Abzugsfinger des Polizeibeamten wäre Phoenix verloren gewesen, der tödliche Obsidiansplitter wäre in sein Herz gedrungen, seine Seele dauerhaft zerstört worden. Glücklicherweise trafen die Taserpfeile Damien kurz bevor er zustoßen konnte, und die elektrische Ladung überwältigte sein System, lähmte seinen Körper und setzte seine Arme und Beine außer Gefecht. Leider hat der Taser keine dauerhafte Wirkung.
»Oh, werden wir jetzt eifersüchtig?«, provoziert Damien Phoenix mit singender Stimme. Er lehnt sich auf seinem Sitz zurück und grinst. »In dem Punkt warst du immer schon recht empfindlich. Ich verstehe, dass du auf sie stehst. Wer würde das nicht? Weißt du noch, als ich –«
Phoenix reißt die Hände hoch in Richtung Damiens Kehle, wird aber von seinen Handschellen und seinem Sitzgurt gestoppt.
Der Polizist brüllt: »Setz dich hin!«
Widerstrebend lässt Phoenix die Hände sinken, starrt aber weiterhin Damien an, der ihn arrogant anlächelt.
»Keine Ahnung, warum du so grinst«, sage ich zu ihm. »Du bist auch verhaftet worden.«
»Und?«, spottet Damien. »Ich bin immer noch bei dir, und nur das zählt.«
»Nicht mehr lange«, antworte ich. »Als verurteilter Terrorist kommst du für den Rest deines Lebens in ein Hochsicherheitsgefängnis. Ob ich selbst inhaftiert bin oder nicht, du wirst nicht in meine Nähe kommen können.«
Damien hebt eine Augenbraue. »Wirklich?
Oh, Genna, du hast zu viel Vertrauen in das Justizsystem dieses Landes. Kein Gefängnis wird mich zurückhalten können. Und keine Zelle wird dich schützen. Die Inkarnaten haben alle Schichten der Gesellschaft unterwandert. Du hast DI Katherine Shaw kennengelernt, oder? Sie ist Teil des kriminalpolizeilichen Ermittlungsteams und neigt, wenn ich mich nicht irre, dazu, die Dinge auf meine Weise zu sehen, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ich schlucke nervös. Die Handschellen fühlen sich plötzlich enger an, als mir dämmert, dass der Polizeitransporter Phoenix und mich nicht in Sicherheit bringt, sondern in den Tod.
»Glaub ihm nicht«, sagt Phoenix. »Nicht jeder ist ein Inkarnat. Tanas übt nicht so viel Einfluss aus, wie er gerne glauben möchte. Das Licht ist immer noch stark genug, um die Dunkelheit in Schach zu halten.«
Damien schnaubt. »Meinst du? Aber wie lange noch?« Er grinst
Phoenix verächtlich an, dann wendet er seine Aufmerksamkeit wieder mir zu. »Ich wette, dieser Scharlatan hat behauptet, er wäre dein Guardian, der Einzige
, der dich retten kann, der Einzige
, dem du vertrauen kannst.«
Ich kneife die Augen zusammen und frage mich, worauf Damien hinauswill.
»Aber du solltest nicht alles glauben, was er dir erzählt«, warnt er mich.
»Was meinst du damit?«, frage ich.
Damien beugt sich verschwörerisch zu mir herüber. »Sagen wir einfach, in manchen Leben war er nicht dein bester Verbündeter –«
»Höre nicht auf ihn!«, unterbricht ihn Phoenix.
»Warum eigentlich nicht?«, sagt Damien mit einem Grinsen. »Angst, sie könnte vielleicht eine unbequeme Wahrheit über dich erfahren?«
Ich blicke unsicher zwischen ihm und Phoenix hin und her. »Welche unbequeme Wahrheit?«
Damien wirft mir einen mitleidigen Blick zu. »Genna«, sagt er, die Stimme voll gespielter Sorge, »es ist nur fair, dass du weißt, dass der junge Phoenix hier dich nicht immer beschützt. Manchmal –«
Plötzlich hallt ein ohrenbetäubendes BANG!
durch den Lieferwagen. Wir schleudern wild über die Straße, und bevor sich der Wagen fangen kann, werden wir ein zweites Mal hart gerammt. Der Lieferwagen kippt auf die Seite. Ich werde in meinem Sitz nach hinten geschleudert und mein Schädel knallt gegen das Drahtgitterfenster. Mein Kopf dröhnt und meine Sicht verschwimmt. Ein durchdringendes metallisches Kreischen übertönt unsere Schreie, während wir über den Asphalt rutschen. Phoenix beugt sich instinktiv über mich, bereitet sich auf einen weiteren Aufprall vor …
Doch glücklicherweise erfolgt keiner. Der Transporter kommt zu einem zitternden Halt. Der Dieselmotor stottert, dann stirbt er ab, und zurück bleiben nur das Zischen eines geplatzten Kühlers und der unheilvolle Gestank von auslaufendem Kraftstoff. Sobald sich der Lärm
legt, erfüllt das Stöhnen der Verletzten die Luft. Die Bande von Seelenjägern hängt nun schlaff von der Decke des Wagens herab, ihre Sicherheitsgurte sind zu straff gezogen, als dass sie die Schnallen lösen könnten. Damien ist bewusstlos und baumelt von seinem Sitz wie eine auf dem Kopf stehende Marionette. Der Polizeibeamte ist ebenfalls bewusstlos. Das Metallgitter zwischen dem gesicherten Abteil und der Hecktür ist verbogen und bietet uns so eine Fluchtmöglichkeit.
»Alles in Ordnung?«, fragt Phoenix, streicht mir die Haare aus dem Gesicht und inspiziert einen Schnitt an meiner Stirn.
Immer noch betäubt von dem Aufprall, gelingt mir ein Nicken. Er löst den Sicherheitsgurt, kriecht zum Gitter, greift hindurch und löst die Schlüssel vom Gurt des Officers. Nachdem er seine eigenen Handschellen abgenommen hat, reibt er schnell seine geprellten Gelenke, dann befreit er mich. Auf Händen und Knien quetschen wir uns durch den Spalt im verbogenen Gitter. Unsere beschlagnahmten Habseligkeiten liegen in einem Fach, das jetzt den Boden des Wagens bildet. Phoenix durchwühlt es nach dem Lederbeutel und dem Obsidiansplitter, die er dann in seinen Rucksack stopft. Inmitten der Trümmer fällt mir der Schimmer einer grünen Klinge ins Auge.
Doch bevor ich den Jadedolch ergreifen kann, ertönt vor dem Wagen das Trampeln schwerer Stiefel, gefolgt von einem metallischen Kreischen, als jemand den Griff dreht und die Tür aufreißt. Ein schwergewichtiger Mann in Jeans und einer Baseballmütze erscheint in der Türöffnung, ein Brecheisen in der Hand. Phoenix zieht dem Polizeibeamten geschickt den Taser aus dem Holster und feuert ihn auf die Brust des Mannes ab. Der Kerl zuckt heftig und stürzt zu Boden.
Hinter mir höre ich das verräterische Klick
eines Sicherheitsgurtes, gefolgt vom schweren WHUMP
eines Körpers. Als ich über meine Schulter blicke, sehe ich Damien auf allen vieren, der versucht, seine Benommenheit abzuschütteln.
»Was zum …?«, stöhnt er, während er langsam zu sich kommt. »Die Idioten sollten uns befreien, nicht töten!«
»Gehen wir!«, drängt Phoenix, der den entladenen Taser wegwirft.
Er greift nach meinem Arm, bevor ich den Jadedolch an mich nehmen kann.
Blitzschnell stürzt Damien sich darauf, während wir aus dem Heck des Wagens auf die Straße klettern. Der Asphalt ist glitschig von Dieselkraftstoff und die Luft ist mit giftigen Dämpfen verpestet. Ein großer Truck mit Überrollbügel aus Stahl hat sich in die Seite des Polizeitransporters gebohrt und blockiert die Straße, sein Warnblinker flackert in der Dämmerung. Zwei weitere Jäger warten neben zwei Fluchtwagen. Als sie bemerken, wie wir aus dem Wagen steigen, stürzen sie auf uns zu. Im Inneren des Polizeitransporters ertönen weitere dumpfe Schläge von Körpern, die auf den Boden fallen.
Wir hetzen über die Straße, springen in das nächstgelegene Feld und tauchen in mannshohem Mais unter.