28
Die Morgensonne scheint uns warm auf den Rücken, als wir Richtung Nordwesten aufbrechen. Wir nehmen den ersten Wanderpfad, auf den wir stoßen, überqueren mehrere Felder und schlagen dann einen schmalen Feldweg ein. Phoenix hofft, dass wir bei Einbruch der Nacht die Grenze zu den Cotswolds erreichen, einige Erholungspausen mit eingerechnet. Da wir uns nur auf Nebenstraßen, Feldwegen und Fußpfaden bewegen wollen, orientiert sich unsere Route nicht an der Luftlinie, sodass wir nur langsam vorankommen.
Auch die Tatsache, dass wir jedes Mal, wenn sich ein Auto oder eine Person nähert, gezwungen sind, in Deckung zu gehen, uns hinter Hecken oder Bäumen zu verstecken, und wir an manchen Stellen sogar umkehren müssen, um jegliches Risiko zu vermeiden, ist nicht gerade hilfreich. Als wir uns wieder einmal in einem Busch verstecken, diesmal vor einem älteren Ehepaar, das mit seinem Hund spazieren geht, frage ich mich, ob Phoenix nicht etwas zu
vorsichtig ist. Es kann doch nicht jeder
ein Wächter oder ein Jäger sein! Wie bedrohlich kann diese kleine alte Dame wohl sein?
, frage ich mich. Und als der Hund gegen den Busch pinkelt, in den wir uns verkrochen haben, scheint sogar Phoenix anzuerkennen, wie absurd unser Verhalten ist, und er schüttelt müde den Kopf, während seine Stiefel angespritzt werden. Aber sobald die Leute weg sind, bemüht er sich, mir – wieder einmal – klarzumachen, dass ich nur sicher bin, solange wir unentdeckt bleiben.
Trotzdem verschafft mir dieses ständige Versteckspielen keineswegs ein Gefühl
der Sicherheit. Tatsächlich erinnert es mich nur daran, wie übel meine Situation ist. Vielleicht sind wir ja Damien und seinen Jägern einen Schritt voraus. Die Spur könnte für sie kalt geworden sein. Aber ich bin mir jetzt sehr wohl bewusst, dass ein einziger Ausrutscher, eine unglückliche Begegnung oder eine falsche Bewegung bewirken könnte, dass sie die Fährte wieder aufnehmen und uns wie eine Hundemeute hetzen.
Während wir wieder über weites, offenes Feld marschieren, bekommen wir bald Durst. Zum Glück haben wir uns in dem Imbiss auf der Raststätte mit Wasser und Snacks eingedeckt, und so machen wir eine Pause im Schatten einer alten Eiche.
Phoenix nippt an seiner Flasche. »Ich wünschte, ich hätte mein Motorrad noch«, seufzt er. »Wir wären in weniger als einer Stunde dort.«
Ich hocke mich auf den Boden, ziehe die Turnschuhe aus und inspiziere meine linke Ferse. Es bildet sich bereits eine kleine Blase, obwohl wir erst ein paar Kilometer weit gelaufen sind. Phoenix bemerkt es, zuckt mit den Schultern, nimmt den Erste-Hilfe-Kasten heraus und reicht mir ein Pflaster.
»War das schon immer so?«, frage ich, während ich die Blase mit dem Klebestreifen abdecke. »Ständig auf der Flucht und sich verstecken, meine ich?«
»Nein«, antwortet Phoenix, der neben mir in der Sonne sitzt. »Es hat einige Leben gegeben, in denen wir Glück hatten. In denen Tanas entweder nicht wiedergeboren wurde oder dich nicht gefunden hat.« Er blickt in die Ferne und lächelt wehmütig. »Ich erinnere mich an ein Leben, ich weiß nicht, welches Jahrhundert es war, aber wir wurden beide auf derselben Insel im Pazifik geboren. Irgendwo bei den Fidschi-Inseln. Das Wasser war kristallklar, der Sand so weich und golden wie der Sonnenaufgang und die Palmen so schwer von Kokosnüssen, dass sich die Wipfel unter ihrem Gewicht bogen.« Er blickt mich seitlich an und sein Lächeln wird ganz versunken. »Du warst das schönste
Mädchen auf der Insel. Die Tochter des Häuptlings. Wir haben viele Abende auf dem Sonnenuntergangsfelsen verbracht. Ich erinnere mich, dass wir hinauswaten mussten, aber von dort aus hatte man den herrlichsten Blick auf den Sonnenuntergang über dem Ozean, und die Sterne erwachten am samtschwarzen Himmel zum Leben wie eine Million Engel.«
Eine längst vergessene Erinnerung rührt sich in mir. Wie bei einem Kieselstein, der in einen Teich fällt, breiten sich in mir wellenförmig Gedanken, Gefühle und Bilder einer anderen Zeit aus …
Die warme Brise auf meiner Haut, der würzige Duft von Meersalz in meiner Nase, das leise Rauschen der Wellen, die sanfte Berührung unserer Hände …
Scheu frage ich: »Waren wir … zusammen?«
Phoenix lacht verlegen. »Ich bin dein Guardian, Genna.« Damit scheint er meine Frage zu verneinen, obwohl sein zärtlicher Blick eine andere Geschichte erzählt. »Außerdem hatte dein Vater Pläne für dich, du solltest den Häuptlingssohn des Nachbardorfes heiraten. Aber ich erinnere mich, dass wir während unserer gemeinsamen Zeit ein sehr glückliches und friedliches Leben führten.«
Dann verblasst sein Lächeln. »Aber um ehrlich zu sein, die meisten Leben waren ein fortwährender Kampf, ein Katz-und-Maus-Spiel. Es kam immer darauf an, wann man gefunden wurde und von wem. Manchmal konnte ich dich verstecken. Andere Male waren wir den Seelenjägern überlegen. Gelegentlich haben wir sie sogar besiegt.«
»Haben wir jemals … verloren
?«, frage ich zögernd.
Phoenix stopft den Erste-Hilfe-Kasten zurück in seinen Rucksack. »Dann wärst du nicht hier«, antwortet er ernst.
Ich beiße mir nachdenklich auf die Unterlippe, unsicher, ob ich die nächste Frage stellen soll. »Was meinte Damien dann damit, als er behauptete, du hättest mich nicht immer
beschützt?«
Phoenix’ Kiefermuskeln verhärten sich. »Nichts. Vergiss es.« Plötzlich springt er auf und macht sich bereit aufzubrechen. Seine knappe Antwort überrascht mich.
»Aber ich verstehe nicht, warum er behauptet hat, du wärst nicht mein bester Verbündeter. Dass ich nicht allem glauben soll, was du sagst. Was meint er damit?«
Mit einem angestrengten Seufzer schultert Phoenix seinen Rucksack. »Er wollte dich manipulieren. Dich gegen mich aufbringen.« Dann fügt er lebhafter hinzu: »Vergiss es einfach. Jetzt komm schon, wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
Er marschiert davon, und bin mir nicht sicher, ob er wütend ist oder einfach nur rasch weiterwill. Während ich seine Reaktion auf meine Fragen überdenke, wird mir klar, dass Damiens Trick, mein Vertrauen in Phoenix zu untergraben, funktioniert hat. Er hat in mir einen Samen des Zweifels gesät, und ich habe ihm erlaubt, Wurzeln zu schlagen. Ich habe keinen Grund, meinem Guardian nicht
zu vertrauen. Es wäre in der Tat eine Beleidigung für ihn – Phoenix hätte jedes Recht, stinkig zu sein. Er hat mich trotz der mehrfachen Attacken Damiens und seiner Jäger immer beschützt und mein Leben gerettet. Es wäre dumm von mir, meinem Peiniger mehr zu glauben als meinem Beschützer!
Eilig schlüpfe ich in meine Turnschuhe und folge ihm über die Felder, wobei ich alle meine Zweifel unter der Eiche zurücklasse.