29
»Sollen wir das wirklich tun?«, flüstere ich und spähe nervös umher.
»Willst du wieder in einer Scheune schlafen?«, fragt Phoenix, während er die Klinge seines Taschenmessers zwischen Türpfosten und Schloss eines Ferienhauses schiebt, dessen Reklametafel unten an der Auffahrt eine gemütliche Unterkunft mit echtem Kamin verspricht.
Ich schüttle den Kopf. Die Dämmerung hat sich auf die Felder gesenkt, und wir sind über dreißig Kilometer marschiert. Ich bin völlig erschöpft. Die Muskeln in meinen Beinen schmerzen und meine Füße sind wund und haben Blasen, obwohl wir mehrere Pausen eingelegt haben. Und das spärliche Mittagessen hat kaum ausgereicht für so eine lange Wanderung.
Während Phoenix versucht, das Schloss aufzubrechen, halte ich Wache. Das Ferienhaus scheint verlassen zu sein und liegt an einem abgelegenen Ort, umgeben von Feldern und etwas abseits einer schmalen Straße am Ende einer Kiesauffahrt. Auf einer Weide grasen faul ein paar Kühe, eine andere liegt brach, und auf einer dritten steht ein Pferdetrio. Sie traben an den Zaun, um die Neuankömmlinge zu beäugen. Doch abgesehen von diesen drei neugierigen Pferden interessiert sich niemand sonst für uns.
Phoenix dreht das Taschenmesser, öffnet das Schloss und die Tür schwingt auf.
»Warte hier«, flüstert er und verschwindet dann im Haus.
Ich stehe auf der Schwelle und lausche seinen Bewegungen, während er nacheinander jeden Raum kontrolliert und sichert. Ich bin bereit, auf der Stelle wegzulaufen – obwohl die Frage ist, wie weit ich in meinem Zustand kommen würde. Keine Ahnung, wie Phoenix so hellwach bleiben kann. Er muss genauso erledigt sein wie ich, außerdem ist er verletzt und erholt sich noch immer von der Prügel der Seelenjäger. Dennoch stellt er mich und meine Sicherheit immer an erste Stelle. Ich kann nicht anders, als ihn für seine Hingabe zu bewundern.
Phoenix erscheint wieder in der Eingangstür. »Alles klar«, sagt er. »Sieht so aus, als wäre hier seit längerer Zeit niemand mehr gewesen.«
Ich betrete das Ferienhaus und beginne alles zu erkunden. Es ist eher klein, aber wie versprochen mit einem gemütlichen Kamin im Wohnzimmer, einer altmodisch anmutenden Küche und einem Schlafzimmer mit angrenzendem Duschbad. Das Bett ist gemacht, eine rosa geblümte Tagesdecke liegt darauf und es gibt keine Anzeichen dafür, dass in absehbarer Zeit Gäste eintreffen werden. Zum ersten Mal seit Tagen beginne ich mich zu entspannen. Nachdem ich meine Turnschuhe von mir geschleudert habe, breche ich auf dem Sofa zusammen.
Immer noch auf Mission, inspiziert Phoenix die Schränke in der Küche. Er findet etwas Salz, ein Glas Erdbeermarmelade, ein Päckchen getrocknete Nudeln und eine Dose Hühnernudelsuppe. »Was möchtest du zum Abendessen?«, fragt er. »Marmeladennudeln oder Suppe?«
Ich lache über die Vorstellung von Nudeln mit Marmelade und antworte: »Suppe, bitte.«
Phoenix holt einen Topf heraus und schaltet die Herdplatte ein. »Warum duschst du nicht, während ich das aufwärme?«, schlägt er vor.
Ich wälze mich vom Sofa, gehe ins Schlafzimmer, finde ein paar Handtücher in einem Schrank und gehe damit ins Badezimmer. Das dampfend heiße Wasser aus der Dusche ist die reinste Wonne. Ich wasche mir den Schmutz von drei Tagen aus den Haaren, schrubbe Gesicht und Körper und lasse die Wasserstrahlen meine schmerzenden Muskeln massieren. Als die Spannung in meinen Gliedern nachlässt, breche ich plötzlich und unerwartet in Tränen aus. Wie eine Schleuse, die sich öffnet, strömen der ganze Stress, die Anspannung und die Kämpfe der vergangenen Woche aus mir heraus. Ich sinke auf die Knie und schlinge die Arme um meinen Körper. Meine Tränen vermischen sich mit dem Wasser, und mein Schluchzen geht im Rauschen der Dusche unter.
Ich möchte einfach nur zu Hause sein, sicher in meinem eigenen Zimmer, geborgen in den Armen von Mum und Dad. Aber das ist unmöglich. Meine ganze Welt ist auf den Kopf gestellt worden. Ich bin nicht mehr Genna, das Mädchen, das sich um nichts anderes sorgen muss als Prüfungen in der Schule, was sie anziehen soll und ob Soundso sie mag oder nicht. Ich bin eine Erste Nachkommin mit unzähligen früheren Leben. Eine heilige Seele, die angeblich das Licht der Menschheit in sich trägt und von einem finsteren Clan von Inkarnaten gejagt wird. Und als ob das noch nicht genug wäre, bin ich auch noch eine Terrorverdächtige auf der Flucht vor der Polizei. Wie soll ich jemals in die Schule und in mein früheres Leben zurückkehren können, wenn Wächter und Jäger hinter mir her sind? Wo Tanas, der Herr und Meister der Inkarnaten, mir auf Schritt und Tritt folgt? Werde ich für den Rest meines Lebens auf der Flucht sein? Meine Tränen lassen ein wenig nach, während ich versuche, mich mit der Situation abzufinden. Eine Verfolgte, die sowohl vor dem Gesetz als auch vor einem übernatürlichen Kult flieht? Wenn wir diesen Seelenseher in Havenbury erreichen, was dann? Verstecken wir uns dort? Kämpfen wir? Verschwinden wir? Dann werden Mum und Dad nie erfahren, was mit mir passiert ist! Bei der Vorstellung, dass sie mit gebrochenem Herzen und für den Rest ihres Lebens um mich trauernd zurückbleiben, muss ich erneut weinen.
Ich kann nur beten, dass dieser Gabriel ein paar Antworten hat.
Allmählich lässt mein Schluchzen nach. Von meinen aufgestauten Emotionen befreit, fühle ich mich ganz leer. Langsam richte ich mich wieder auf. Durch das Wasser aufgewärmt und gereinigt, kehrt meine Kraft zurück. Meine Situation ist verzweifelt, aber nicht hoffnungslos. Nicht solange ich Phoenix an meiner Seite habe. Ich erinnere mich daran, dass wir Tanas und seine Jäger gemeinsam schon einmal abgehängt und überlistet haben. Und das können wir mit Sicherheit erneut tun.
Als ich aus der Dusche steige, fühle ich mich fast wie neugeboren.
Wieder in meinen alten Kleidern verlasse ich das Schlafzimmer, trockne mir die Haare und entdecke, dass Phoenix den Küchentisch gedeckt hat. Zwei Schüsseln Hühnernudelsuppe warten auf uns, und er scheint eine Packung Kekse zum Nachtisch gefunden zu haben. Der Raum ist nun dunkel, die Vorhänge sind geschlossen, und eine einzige Kerze erleuchtet den Tisch, ihr weicher, flackernder Schein liegt wie ein Strahlenkranz über unserem Essen.
Ich hebe eine Augenbraue. »Sehr romantisch«, bemerke ich.
Für einen Moment schaut Phoenix verwirrt, dann zwinkert er mir zu. »Ah, die Kerze! Damit niemand weiß, dass wir hier sind. Ich wollte das Hauptlicht nicht einschalten, auch nicht bei geschlossenen Vorhängen.«
»Du bist ein wahrer Romeo!«, lache ich, als er mich auffordert, ihm gegenüber am Tisch Platz zu nehmen.
Beide ausgehungert von unserer langen Wanderung, stürzen wir uns auf das Essen.
»Fühlst du dich besser nach der Dusche?«, fragt Phoenix und schlürft dabei etwas Suppe.
Ich nicke und setze ein Lächeln auf. »Viel besser, danke …« Dann, nach kurzem Zögern, sage ich: »Ich möchte dich etwas fragen. Wann ist dir klar geworden, dass du mein Guardian bist? In diesem Leben, meine ich.«
Phoenix blickt von seinem Essen auf. »Ich habe es schon immer gewusst.«
»Also von Geburt an?«
»Ich denke schon.« Er zuckt mit den Achseln. »Meine ersten Erinnerungen waren solche an frühere Leben. Tatsächlich haben sie sich für mich manchmal realer angefühlt als mein aktuelles Leben. Unzählige Schimmer von meinen Suchen nach dir … Wie ich gegen Tanas und seine Jäger gekämpft hatte … Wie ich dich beschützt hatte … Es war eine Menge, was ich als Kind verarbeiten musste.« Phoenix hält inne, blickt nachdenklich in die flackernde Kerzenflamme und fährt dann fort.
»Auch meiner Mutter ist es wohl schwergefallen, das zu verstehen, nach allem, was man mir erzählt hat. Sobald ich sprechen konnte, habe ich ihr von meinen früheren Leben erzählt … Ich habe ihr gesagt, sie sei nicht meine wahre Mutter … Ich hätte vor ihr eine andere Mutter gehabt.« Seine saphirblauen Augen beginnen vor Tränen zu glitzern. »Dabei war sie in diesem Leben meine Mutter.« Er seufzt und rührt bedrückt in seiner Suppe. »Ich wünschte nur, ich hätte ihr das vor ihrem Tod sagen können.«
»Es tut mir leid, es tut mir so, so leid«, flüstere ich leise. »Die Polizistin hat gesagt, sie sei bei einem Autounfall gestorben.«
»Das ist richtig. Sie behaupten, es wäre ein betrunkener Fahrer gewesen.« Er starrt mich an, seine feuchten Augen werden hart wie Diamanten. »Aber ich glaube ihnen nicht. Ich denke, es war ein Inkarnat.«
»Ein Inkarnat? «, stöhne ich.
Phoenix nickt. »Ja. Ich war nämlich dabei. Ich war noch ein kleiner Junge, aber ich könnte schwören, der Fahrer hatte schwarze Augen. Er muss versucht haben, mich zu töten, bevor ich alt genug werde, um dich zu finden und zu beschützen. Aber ich habe den Unfall überlebt.« Seine Faust ballt sich um den Löffel. »Was bedeutet, dass ich der Grund für den Tod meiner Mutter bin.«
»Sag das nicht!«, protestiere ich. »Du warst drei Jahre alt! Es kann unmöglich deine Schuld sein.«
»Wenn ich kein Guardian wäre, würde sie heute noch leben«, antwortet er bitter. »Doch ihr Tod ist nur ein Grund mehr, diese dämonischen Inkarnaten aufzuhalten.«
Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu. »Aber wenn es die Inkarnaten waren, warum sind sie nicht zurückgekommen, um den Job zu beenden, als du jung und hilflos warst?«
»Sie konnten mich nicht mehr aufspüren«, erklärt er. »Nach dem Unfall kam ich in eine Pflegefamilie, diese Daten werden vertraulich behandelt. Dann wurde ich wegen meiner vermeintlichen Probleme ständig von Pflegeheim zu Pflegeheim weitergereicht.«
Ich strecke meine Hand aus und umschließe zärtlich seine Hand. »Das muss hart gewesen sein.«
Phoenix stößt ein trockenes Lachen aus. »Sagen wir einfach, ich hatte keine leichte Kindheit«, gibt er zu. Dann lächelt er mich plötzlich warm an, sein Gesicht schimmert golden im Schein des Kerzenlichts. »Aber ich wusste immer, dass mein Leben einen höheren Sinn hatte. Und jetzt hier bei dir zu sein, dich mit meinen eigenen Augen zu sehen, zu wissen, dass ich die ganze Zeit recht hatte, macht all das der Mühe wert.«
Ich denke an meine persönlichen Kämpfe der letzten Tage, den Versuch, mich damit zu versöhnen, eine Erste Nachkommin zu sein, und ich frage: »Wie bist du damit klargekommen, ein Guardian zu sein?«
»Ich habe es einfach akzeptiert«, antwortet Phoenix sachlich. »Dafür wurde ich geboren. So einfach ist das. Es waren eher all die Therapeuten und Pflegeeltern, die Schwierigkeiten hatten, es hinzunehmen. Sie haben versucht, mich davon zu überzeugen, dass alles nur ein Hirngespinst wäre, eine Illusion«, antwortet Phoenix nüchtern. Er beugt sich zu mir herüber, sein Gesicht wirkt konzentriert im Kerzenschein. »Aber das erklärte nicht, warum ich Fähigkeiten und Kenntnisse besaß, die kein anderes Kind meines Alters hatte. Und je älter ich wurde, desto mehr Schimmer hatte ich und mit jedem kamen mehr Fähigkeiten dazu. Alles nur zu einem Zweck: um dich zu finden und zu beschützen.«
Er drückt meine Hand fester. »Und jetzt, wo du Bescheid weißt und immer mehr Schimmer heraufbeschwörst, wirst du dich an genauso viel Wissen und Fähigkeiten erinnern, die dir helfen, zu überleben und Tanas zu entgehen.«
Seine Worte trösten mich. Lächelnd nehme ich einen weiteren Löffel dampfender Suppe, die, obwohl sie aus einer Dose kommt, möglicherweise die beste ist, die ich je gekostet habe. »Es stimmt wohl, was man über Hühnernudelsuppe sagt«, sage ich.
»Was denn?«, fragt Phoenix.
»Sie ist gut für die Seele.«