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»Aufwachen! Wach auf, kleines Mädchen!«, zischt eine leise, aber eindringliche Stimme.
Unsanft an der Schulter gerüttelt, öffne ich meine Augen und blicke in das sonnengegerbte Gesicht des Sklaven. Seine Wangen sind hohl, seine Augen liegen tief in den Höhlen, sein dünner Körper ist jetzt noch abgemagerter. Custos hat seit unserer Flucht aus der Villa drei Tage zuvor nur von einer Handvoll Beeren gelebt und sehr wenig Schlaf bekommen. Mein Beschützer hat mir den Löwenanteil dessen gegeben, was er im Wald an Essbarem finden konnte, und er hat immer über mich gewacht, während ich schlief, doch die Entbehrungen fordern langsam ihren Preis.
»Guten Morgen«, gähne ich. »Was –«
Er legt seine Hand auf meinen Mund und hält einen Finger an seine Lippen. Sofort bin ich hellwach und lausche den Geräuschen des Waldes. Die Vögel zwitschern. Eine sanfte Brise rauscht durch die Blätter. In der Nähe plätschert ein Bach sanft über die Felsen. Es gibt nichts Ungewöhnliches …
Dann höre ich das scharfe Knacken eines Zweigs.
Jemand ist ganz in der Nähe.
Durch eine Lücke im Gebüsch erspähe ich die rotgefärbte Tunika eines römischen Soldaten. Er ist sehnig, kampferprobt und schwingt einen langen, spitzen Speer. Alle paar Schritte sticht er willkürlich ins
Gestrüpp. Während er sich unserem Versteck nähert, verharren wir reglos und schweigend. Ich traue mich kaum zu atmen. Ein Stich des Speers durchbohrt die Blätter direkt neben meinem Kopf, aber Custos schirmt mich ab, und die Eisenspitze schlitzt seinen bloßen Arm auf. Er beißt die Zähne zusammen und wischt eilig mit einem großen Blatt sein Blut von der Speerspitze ab, während der Soldat die Waffe zurückzieht. Seine schnelle Reaktion rettet uns – der Soldat läuft weiter, ohne zu ahnen, dass er uns um ein Haar entdeckt hätte.
Sobald er außer Sichtweite ist, hebt mich mein Beschützer hoch und trägt mich in die entgegengesetzte Richtung. Ich klammere mich an ihn, wachsam und ängstlich. Er tritt leicht auf, aber es dauert nicht lange, bis seine Spuren entdeckt werden, die Blutstropfen aus seinem verletzten Arm verraten uns.
Bald höre ich in der Ferne das Bellen von Jagdhunden. Weitere rote Tuniken erscheinen, die in einer Linie den Wald durchkämmen. Die Soldaten nähern sich uns. Aber Custos ist schnell und stark. Er huscht geschmeidig zwischen den Bäumen hindurch. Sein Atem klingt hart und abgerissen, als wir aus dem Wald hervorbrechen … und abrupt zum Stehen kommen.
Wir befinden uns am Rande einer schmalen Schlucht. Weit unten liegen die zerklüfteten Felsen eines ausgetrockneten Flussbettes. Mein Beschützer sucht verzweifelt nach einem sicheren Abstieg, aber die Felswand ist überall steil und tückisch. Mich in seinen Armen bergend, dreht er sich wieder zurück zum Waldrand, nur um sich dem onyxäugigen Zenturio gegenüber zu sehen. In feinziselierter bronzener Rüstung, mit einem blutroten Mantel, der von seinen breiten Schultern herabhängt, und einer geraden, zweischneidigen Klinge in der Hand, erscheint der Feldherr so gewaltig und Furcht einflößend wie die Statue des Kriegsgottes im Mars-Tempel in Rom.
Während seine Soldaten uns in einem lückenlosen Halbkreis aus Schilden und Speeren umzingeln, fordert der Zenturio:
»Übergib mir das entführte Kind, Sklave!«
Ich schaue zu meinem Beschützer. Ich bin nicht entführt
worden – ich wurde gerettet … nicht wahr?
Die Reihen der bewaffneten Soldaten beäugend, scheint Custos einzusehen, dass Widerstand zwecklos wäre, und lässt mich vorsichtig auf den steinigen Boden sinken.
»Komm zu mir, Aurelia«, fordert mich der Zenturio auf.
»Dein Vater wartet.«
Ich zögere, unsicher, was ich tun soll. Custos sagt, der Zenturio will mir schaden, doch mein Vater hat anscheinend diesem angesehenen Armeekommandanten sein Vertrauen geschenkt. Wem soll ich glauben?
Custos kniet neben mir nieder.
»Vertraut Ihr mir?«, fragt er.
Ich nicke mit dem Kopf und dann tut er etwas völlig Unerwartetes. Er stößt mich fest vor die Brust. Rückwärts taumele ich vor Angst kreischend von der Felskante und stürze hinunter in den Abgrund …
Ich erwache mit einem Ruck, schwitze, mein Herz hämmert. Ein stechender Kopfschmerz quält mich, als hätte man mir den Schädel gesprengt. Mein Körper pocht, als ob jeder Knochen gebrochen wäre.
Als die quälenden Empfindungen allmählich nachlassen, frage ich mich: War das ein Alptraum oder ein Schimmer?
Ich setze mich im Bett auf und versuche, die verstörenden Bilder abzuschütteln. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. Vielleicht ist das Misstrauen, das Damien in mir gesät hat, in meine Träume gesickert, hat meine Gedanken vergiftet … Doch tief im Inneren weiß
ich, dass es ein Schimmer war.
Der Sklave Custos – oder besser gesagt, Phoenix, wie er sich jetzt nennt – hat mich von einer Klippe gestoßen. Er hat mich eigenhändig getötet.
Ermordet
!
Allein der Gedanke daran lässt mich erschauern. Was für ein Beschützer tötet ausgerechnet die Person, die er behüten soll?
Schweigend schlüpfe ich aus dem Bett und werfe einen Blick in den Wohnraum. Die Kerze ist von selbst erloschen. Aber in der Dunkelheit kann ich gerade noch erkennen, dass Phoenix in einem Sessel am Fenster in
sich zusammengesunken ist, die Erschöpfung hat ihn schließlich übermannt. Ist es richtig, dass ich diesem Jungen mein Leben anvertraue?,
frage ich mich. Einem Fremden, den ich seit kaum mehr als einer Woche kenne?
Meine Gedanken kreisen noch immer um den Schimmer. Hat Phoenix, anstatt mich zu beschützen, mich vielleicht tatsächlich entführt
? So wie damals, als ich ein kleines Mädchen in Rom war? Vielleicht hat er auch diesmal vor, mich zu töten. Hat er durch meinen Tod etwas zu gewinnen, genau wie Tanas?
Nur durch Phoenix selbst weiß ich, dass er mein Guardian ist. Klar, er hat mich in diesem Leben vor Damien und seinen Jägern gerettet. Und frühere Schimmer haben mir gezeigt, dass auch seine früheren Inkarnationen mich beschützt haben. Aber was ist mit all den unzähligen Schimmern, die ich noch nicht gesehen habe? Die, bei denen ich vielleicht durch seine Hand sterbe.
Wenn er mich damals von einer Klippe gestürzt hat, könnte mich Phoenix nun ebenso jederzeit töten.
Plötzlich habe ich Angst davor, in seiner Nähe zu sein. Bin misstrauisch gegenüber seinen Absichten, misstrauisch gegenüber seinen Taten.
Angesichts dieses jüngsten Schimmers finde ich, dass ich bei meiner Familie und meinen Freunden sicherer bin als hier bei diesem Mörder.
Ich sammle meine Turnschuhe ein, schleiche durch das Wohnzimmer zur Vordertür. Meine Hände zittern, ich drücke leise den Türgriff herunter und trete barfuß in die Nacht hinaus.
Mein Atem bildet eine Nebelfahne in der kalten Luft. Ich bete, dass Phoenix tief und fest schläft, schließe leise die Tür hinter mir, husche die Auffahrt hinunter und beiße die Zähne zusammen, während meine Füße über den spitzen Kies knirschen.
Unten an der Auffahrt schlüpfe ich in meine Turnschuhe und renne los. Die Pferde auf der Koppel schnauben erschrocken, als ich vorbeipresche. Der Halbmond beleuchtet den Weg mit schwachem Glanz und ich laufe in fast völliger Dunkelheit über die schmale Straße.
Ich habe keine Ahnung, wo ich hinwill – nur, dass es so weit wie möglich von Phoenix entfernt sein muss.