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Ein verschwommenes Neonlicht in der Ferne weist mir den Weg zur Hauptstraße und einer Tankstelle. Aber es ist immer noch früher Morgen und als ich dort ankomme, ist alles geschlossen. Die Gebäude sind dunkel und menschenleer, nur das leise Brummen der Außenbeleuchtung und der grüne Glanz der Straßenbeschilderung leisten mir Gesellschaft.
In einer Ecke des Vorplatzes entdecke ich ein öffentliches Internettelefon, das niemand je zu benutzen scheint, mit einer Metalltastatur, einer Rollball-Maus und einem klobigen, quadratischen Display. Ich fummle in meiner Tasche nach meiner verbliebenen Ein-Pfund-Münze und will meine Eltern anrufen – dann entscheide ich mich dagegen. Falls unser Telefon zu Hause wirklich
abgehört wird, wie Phoenix behauptet, möchte ich nicht riskieren, irgendwelche Jäger zu alarmieren. Also werfe ich die Münze ein und gehe stattdessen online. Ich habe irgendwo gelesen, dass bei bestimmten Messenger-Diensten die Nachrichten komplett verschlüsselt sind. Also logge ich mich in mein soziales Netzwerk ein, finde Meis Profil und starte einen Video-Anruf, in der Hoffnung, dass ihr Handy um diese Zeit eingeschaltet ist.
Es läutet eine gefühlte Ewigkeit. Dann, kurz bevor die Verbindung automatisch getrennt wird, meldet sich Mei verschlafen.
»Genna?«, murmelt sie und starrt auf ihr Display. »Bist du
das?«
Ich bewege mich näher an die Webcam, damit sie mich in der
Dunkelheit sehen kann. »Ja. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen soll.«
Nachdem sie ihr Nachttischlämpchen eingeschaltet hat, setzt sich Mei rasch auf und reibt sich den Schlaf aus den Augen. »Nein, ich bin froh, dass du dich meldest. Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Seit deinem Verschwinden drehen alle hier komplett am Rad
! Geht es dir gut?«
»Mir geht’s … mir geht es gut«, antworte ich und setze ein Lächeln auf, bevor ich hinzufüge: »Zumindest nicht verletzt oder so.«
Meine Freundin stößt einen erleichterten Seufzer aus. »Gott sei Dank! Deine Eltern werden ja so erleichtert sein, das zu hören. Hast du schon mit ihnen gesprochen?«
Ich schüttle den Kopf. »Du bist die Erste, die ich anrufe. Wie geht es Mum und Dad?«
Mei zieht eine Grimasse. »Nicht gut, wenn du die Wahrheit wissen willst. Die Presse belagert rund um die Uhr euer Haus. Die Polizei geht bei ihnen ein und aus. Deine Mutter sieht sehr blass und dünn aus, während dein Vater … na ja, er läuft rum wie ein Schlafwandler. Sie wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Um ehrlich zu sein, ich auch nicht.« Sie fixiert mich mit einem fragenden Blick. »Du hast wahrscheinlich die Nachrichten über dich gesehen, oder?«
Ich nicke wie betäubt, während ich von brennenden Schuldgefühlen überwältigt werde, wegen all dem, was meine Eltern durchmachen müssen. »Zumindest genug, um zu wissen, dass es keine guten Nachrichten sind«, antworte ich.
»Nein«, stimmt Mei zu. »Zuerst wirst du von einem mutmaßlichen Terroristen aus einem Polizeifahrzeug entführt. Dann nimmt man dich auf Schloss Arundel wegen Diebstahls fest, aber du brichst aus und fliehst mit deinem Phoenix! Anfangs war die Presse noch auf deiner Seite, aber jetzt beschuldigen sie dich, an diesem Terroranschlag in Clapham Market beteiligt gewesen zu sein. Oh, Genna, ist irgendetwas davon wahr?«
»Glaubst du das echt?«, antworte ich scharf, weil meine beste
Freundin so an mir zweifelt.
Für eine kurze Sekunde erscheint Mei hin- und hergerissen, dann antwortet sie leise. »Nein, ich glaube nichts davon, aber ein paar aus der Schule – du weißt ja, wie die sind – sagen, Phoenix wäre ein Irrer und du hättest dich wohl in ihn verknallt und –«
»Verknallt?«
, protestiere ich.
»Ja, aber nicht, weil du es selbst willst. Ich glaube, man nennt so was ein Stockholm-Syndrom
.«
Ich runzele die Stirn. »Was soll das denn sein?«
»Das ist, wenn eine Geisel ihrem Entführer gegenüber Gefühle entwickelt, weil er der einzige Mensch in einer traumatischen Situation ist, an den sie sich wenden kann … oder so ähnlich.«
Ich denke über meine wachsende Zuneigung zu Phoenix nach und frage mich, ob Mei vielleicht recht hat. Vielleicht habe
ich mein gesundes Urteilsvermögen verloren. Vielleicht hat
Phoenix mich mit der Bedrohung durch diese Seelenjäger manipuliert. Vielleicht ist meine Freundschaft mit ihm nur meine Art, mit all dem fertigzuwerden. Mein Weg, zu überleben?
Mei senkt ihre Stimme und kommt näher an ihr Display. »Ist er
jetzt bei dir?«
»Nein, ich bin weggelaufen«, antworte ich. »Ich hatte einen Schimmer, dass Phoenix mich in einem früheren Leben getötet hat.«
»Oh nein«, stöhnt Mei, wobei sie die Hand vor den Mund schlägt. Für einen Moment denke ich, dass meine Freundin über die Enthüllung meiner früheren Ermordung schockiert ist, aber dann bringt meine beste Freundin mich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Genna, du glaubst doch nicht immer noch an diesen Wiedergeburts-Kram, oder? Hör zu, ich sage dir das als Freundin: Du brauchst Hilfe
. Du solltest die Polizei rufen. Stell dich.«
Ich denke an meine beunruhigende Begegnung mit DI Shaw und schüttle entschlossen den Kopf. Was auch immer mit mir passiert, ich weiß, dass das
echt war. Die Jäger sind eine echte Bedrohung.
»Ich kann der Polizei nicht trauen«, erkläre ich ihr. »Ich kann
wohl niemandem mehr trauen.« Ich werfe ihr einen anklagenden Blick zu.
»Du kannst
mir vertrauen, Genna«, betont Mei, einen Hauch von Verzweiflung in ihrer Stimme. »Ich bin deine beste Freundin. Sag mir wenigstens, wo du bist.«
Ich zögere, bin mir bei nichts mehr sicher. Aber ich weiß, dass ich Hilfe brauche. »Keine Ahnung, wo ich genau bin«, sage ich und schaue über den Vorplatz, aber dann sehe ich den Namen der Tankstelle auf dem Schild: »Oh, warte mal … Ich bin bei Notchcutt Services
, in Gloucestershire.«
»Gloucestershire?
«, ruft Mei aus. »Was machst du denn dort
?«
Ich seufze. »Wir waren auf dem Weg in ein Dorf namens Havenbury, um einen spirituellen Führer namens Gabriel zu treffen. Aber all das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich will einfach nur zurück nach London, nach Hause. An einen sicheren Ort.«
»Natürlich«, sagt Mei und nickt. »Hör zu, ich schicke meinen Bruder, um dich abzuholen. Er hat ein Auto. Einen weißen Ford Fiesta. Was auch immer du tust, bleib dort
!«