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Zitternd stehe ich im Schatten hinter der Tankstelle. Von meinem Versteck aus habe ich freie Sicht auf den Vorplatz. Ich will nicht riskieren, entdeckt zu werden: weder von Phoenix noch von der Polizei noch von zufälligen Passanten. Und vor allem nicht von irgendwelchen Seelenjägern. Meine Nerven liegen blank, meine Paranoia gipfelt in dem Gedanken, dass ich vielleicht das Stockholm-Syndrom erlebe.
Die Umgebung bleibt jedoch ruhig, nur gelegentlich rauscht ein Auto auf der Hauptstraße vorbei. Meine Hoffnung auf Rettung wächst mit jedem herannahenden Scheinwerferpaar … und verblasst dann mit dem roten Glühen der Rücklichter.
Eine Stunde vergeht. Dann zwei. Ich frage mich, wie lange Lee wohl für die Fahrt von Clapham nach Notchcutt braucht. Muss ich mir schon Sorgen machen? Kommt er überhaupt noch? Oder hat er sich nur verspätet? Vielleicht haben es seine Eltern herausgefunden und ihn aufgehalten.
Bevor mein Geld im Internettelefon ausgegangen ist, habe ich Mei versprechen lassen, dass sie niemandem sonst meinen Aufenthaltsort verraten darf oder dass ich überhaupt Kontakt mit ihr gehabt habe. Tief im Inneren weiß ich, dass ich ihr vertrauen kann, aber ob auch ihr Bruder sich daran halten wird? Mei hat mir erzählt, welchen Ärger Lee wegen des verschwundenen Jadedolchs hat, denn ihre Eltern verdächtigen seine Freunde. Von mir weiß Mei nun, dass Damien ihn gestohlen hat. Was, wenn Lee mit dieser Information direkt zu seinen Eltern gegangen ist, um seine Freunde reinzuwaschen?
Dann kommt mir ein dunklerer, beunruhigender Gedanke: Was, wenn Lee von den Jägern abgefangen worden ist? Und was, wenn mein Videoanruf nicht verschlüsselt war?
Ich schaudere angesichts dieser Möglichkeit, schlinge die Arme um mich und kauere mich näher an die Wand, um dem Wind zu entgehen. Der Sonnenaufgang kann jetzt nicht mehr lange auf sich warten lassen, aber der Himmel bleibt bedrohlich dunkel, kein einziger Stern leuchtet, der Mond ist in einen Schleier aus schwarzen Wolken gehüllt. Das Wetter scheint schlechter zu werden. Ich hoffe nur, dass ich abgeholt werde, bevor es anfängt zu regnen.
Ich schaue nach der Zeit: bald 4 Uhr 30. Phoenix wird sicher demnächst aufwachen. Wie er wohl reagieren wird, wenn er merkt, dass ich weg bin? Wird er sich Sorgen machen? Wird er wütend sein? Gewalttätig? Ich würde ihm inzwischen alles zutrauen. Ich hatte gewusst, dass ich von einem Killer verfolgt werde – aber nicht geahnt, dass ich mit einem unterwegs sein könnte.
Aus der Ferne höre ich das leise Dröhnen eines herannahenden Automotors. Ein Paar Scheinwerfer mit Fernlicht bahnt sich seinen Weg durch die Dunkelheit, wird heller und kommt immer näher. Diesmal fährt der Wagen nicht vorbei. Er wird langsamer und biegt auf den Vorplatz ein, seine Lichter fegen die Schatten beiseite, während der Fahrer an der Zapfsäule am anderen Ende hält.
Ich ziehe mich noch weiter hinter die Ecke der Tankstelle zurück und spähe vorsichtig zu dem Wagen hinüber.
Der Motor läuft immer noch, das Fernlicht ist immer noch an. Nachdem sich meine Augen an die Nacht gewöhnt hatten, muss ich nun gegen das grelle Licht anblinzeln. Es ist definitiv ein weißer Ford Fiesta. Aber ich kann den Fahrer nicht erkennen, der hinter dem Lenkrad sitzen bleibt.
Aus der Entfernung scheint es Lee zu sein. Wer sonst würde mitten in der Nacht an dieser geschlossenen Tankstelle halten? Trotzdem gehe ich lieber auf Nummer sicher. Warum steigt er nicht aus und sucht nach mir?
Dann wird mir klar, dass Lee vielleicht auch vorsichtig ist. Wenn Mei ihm von den Seelenjägern erzählt hat, dann will er wohl nicht mehr riskieren, als er es ohnehin schon mit dieser Abholaktion tut.
Eine Minute verstreicht.
Dann noch eine. Wenn ich mich nicht bald zeige, wird Lee vermutlich annehmen, dass ich nicht mehr da bin oder dass der Anruf bei Mei ein Schwindel war, und er wird einfach wegfahren. Ich atme tief durch und bereite ich mich darauf vor, aus dem Schatten zu treten. Aber genau in dem Moment packt mich eine Hand von hinten, eine andere hält mir den Mund zu, und ich werde wieder hinter die Ecke des Tankstellengebäudes gezerrt. Mit Tritten und Schlägen versuche ich, meinem Angreifer zu entkommen. Lees Auto ist keine fünfzehn Meter von mir entfernt. Wenn ich mich nur befreien und den Vorplatz erreichen könnte.
»Ich bin’s! Phoenix! «, zischt mein Entführer.
Panisch wehre ich mich noch mehr. Irgendwie hat mein Kidnapper mich aufgespürt!
»Stopp! «, knurrt Phoenix, während er meine Schultern und meinen Mund umklammert hält.
Ich beiße fest in seine Hand, schmecke Blut, trotzdem lässt er mich nicht los. Ich ringe nach Atem und bin schließlich zum Aufgeben gezwungen. Schlaff und resigniert falle ich in seine Arme.
»Nicht schreien. Nicht bewegen. Nicht weglaufen«, befiehlt Phoenix barsch. »Dein Leben hängt davon ab. Hast du das verstanden?«
Zu Tode erschrocken nicke ich stumm. Er lockert seinen Griff ein wenig.
»Mit wem triffst du dich hier?«, fragt er, wobei sein Gesicht im Schatten bleibt.
»L-Lee«, flüstere ich mit zitternder Stimme. »Der Bruder meiner besten Freundin.«
»Du hast ihn angerufen?«
Erneut nickend, antworte ich: »Ich habe mit Mei gesprochen. Sie hat ihn geschickt.«
»Wen hast du noch angerufen?«, fragt Phoenix.
»Niemanden«, sage ich, während der Fahrer des Ford Fiesta den Motor abstellt und die Scheinwerfer ausschaltet. Er steigt aus dem Fahrzeug und blickt sich um.
»GENNA? «, schreit er.
Phoenix hält mich fest umklammert, seine Hand ist bereit, meinen Mund beim ersten Anzeichen eines Lauts zu verschließen. »Ist das Lee?«, fragt er leise, als der Fahrer erneut meinen Namen ruft.
Ich starre die Gestalt auf dem Vorplatz an. Mein Herz zieht sich zusammen. Schwarzer Adidas-Kapuzenpulli, zerrissene Jeans und ein Designer-Haarschnitt, der Fahrer könnte ein Jäger sein …
Dann dreht er sich in meine Richtung, und ich erkenne sein Gesicht: schmal mit ausgeprägten Wangenknochen und den gleichen durchdringenden braunen Augen wie seine Schwester.
»Ja, das ist er! «, keuche ich, während ein Funken Hoffnung in mir erwacht.
Ich straffe mich, will mich losreißen, um in die Freiheit zu rennen – aber Phoenix’ stählerner Griff hält mich gefangen.
»Warte noch! «, befiehlt er.
Ein Auto rast an der Tankstelle vorbei, seine Scheinwerfer beleuchten kurz den gegenüberliegenden Fahrbahnrand. Mehrere dunkle Kapuzengestalten heben sich als Silhouetten gegen den Horizont ab, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwinden.
Obwohl ich sie nicht mehr sehe, spüre ich ihre Anwesenheit und eine eisige Furcht überfällt mich. Seelenjäger!
Mein Widerstand gegen Phoenix bricht zusammen, ebenso wie alle Hoffnung auf Rettung. Verzweifelt verfolge ich, wie ein wütender Lee zurück in sein Auto klettert und davonfährt.