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»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragt Phoenix, nachdem er mich geduckt schleichend von der Tankstelle zurück in das Ferienhaus gebracht hat. Wir schwiegen den gesamten Weg über, Phoenix war zu wütend, um zu reden, ich hatte zu viel Angst. »Wieso hast du deine Freundin angerufen? Ich hab dir doch eingeschärft, dass die Jäger die Telefonverbindungen überwachen!«
Er donnert seine Faust auf den Küchentisch und ich zucke zusammen.
»Ich habe Mei nicht auf dem Handy angerufen«, antworte ich, froh, dass der Tisch zwischen mir und ihm steht. »Ich habe sie online mit einem Messenger-Dienst kontaktiert. Diese Verbindungen sollen doch verschlüsselt sein!«
»Ja, aber es gibt Wege, die Verschlüsselung zu umgehen«, erwidert Phoenix heftig. Er schüttelt genervt den Kopf. »Aber vermutlich haben die Inkarnaten ohnehin einen Wächter postiert, der das Haus deiner Freundin überwachte. Und als Lee dann mitten in der Nacht weggefahren ist, sind sie ihm einfach gefolgt. Jetzt sind uns die Jäger wieder auf den Fersen!«
Schäumend geht er zum Fenster hinüber. Während er in das schwache Licht der Morgendämmerung hinausstarrt, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen. Kühl sage ich: »Du hast mich getötet.«
Phoenix erstarrt. Dann dreht er sich mit gerunzelter Stirn langsam zu mir um und tut verwirrt. »Wovon redest du?«
Mit anklagendem Blick richte ich einen Finger auf ihn. »Als du ein Sklave im alten Rom warst und ich nur ein kleines Mädchen, hast du behauptet, du wärst mein Beschützer. Ich habe dir mein Leben anvertraut … und du hast mich von einer Klippe gestoßen!«
Phoenix’ Gesicht wird bleich und er schluckt hart. Kraftlos bewegt er sich zum Küchentisch, sinkt auf einen Stuhl und vergräbt den Kopf in seinen Händen. Für einige Sekunden schweigt er, bevor er murmelt: »Ich hatte gehofft, du würdest diesen Schimmer nie wieder erleben müssen«.
»Es ist also wahr«, sage ich mit brennendem Zorn. »Du hast mich ermordet .« In mir zerbricht etwas – mein Vertrauen in ihn oder die tiefe Verbindung unserer Seelen – oder mein Herz.
Phoenix schaut auf, seine Augen sind rot gerändert und tränenüberströmt. »Glaube mir, Genna«, fleht er, »dieser Moment verfolgt mich seither in jedem Leben.«
»Und jetzt verfolgt er auch mich«, erwidere ich heftig.
»Dich zu töten widerspricht meinem Innersten«, sagt er mit zitternder Stimme und streckt seine Hand über den Tisch nach mir aus.
Ich zucke zurück, und sein verletzter Blick macht deutlich, dass ihn meine Zurückweisung bis ins Mark getroffen hat.
»Genna, ich bin hier, um deine Seele zu beschützen«, versichert er. »Um dein innerstes Wesen zu verteidigen, in dem das Licht der Menschheit aufbewahrt ist.«
»Warum tötest du mich dann?«, frage ich.
Phoenix lässt beschämt seinen Kopf hängen und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Ich hatte keine andere Wahl«, sagt er schließlich. »Die einzige Möglichkeit, dich in jenem Leben zu retten, war, zu verhindern, dass Tanas das Opferritual durchführt und deine Seele für immer auslöscht. Und das konnte ich nur, indem ich dich selbst töte, bevor er dich in die Hände bekommt.«
»Warum tötest du mich dann nicht jetzt auch?«, frage ich, unfähig, den Schmerz in meiner Stimme zu unterdrücken. »Tu es noch einmal. Rette mich durch den Tod.«
»Du verstehst nicht«, sagt er gequält. »Ein gewaltsamer Tod hinterlässt nicht nur physische Narben von einem Leben zum nächsten, er schadet der Seele, schwächt das Licht – und auch das Band zwischen uns. Du musst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass es das allerletzte Mittel ist, dich zu töten. Es spielt nicht nur Tanas in die Hände, sondern erzeugt auch in meiner eigenen Seele unermesslich große Schuld und Schmerzen.«
Phoenix hebt seinen Kopf und wirft mir einen so aufrichtigen und herzzerreißenden Blick zu, dass meine Wut plötzlich schwindet.
Ich erinnere mich an die hundert römischen Soldaten, die uns am Rand der Schlucht umzingelten, an unsere aussichtslose Lage angesichts eines undurchdringlichen Walls aus Schilden und Speeren.
Ich sehe wieder das triumphierende Grinsen des Hauptmanns, als Tanas erkannte, dass er uns endlich in der Falle hatte – und den Ausdruck der Angst in Custos’ Augen, als er sich gezwungen sah, diese schmerzliche Entscheidung zu treffen.
Phoenix erwidert meinen weicher werdenden Blick, das blaue Sternenlicht schimmert in seinen Augen, durch ein Tränenprisma gebrochen.
»Genna, ich werde alles tun, um deine Seele zu retten. Ich habe mein Leben immer und immer wieder für dich hingegeben, und ich werde es bis in alle Ewigkeit tun, solange ich so nur sicherstellen kann, dass du weiterleben wirst.«
Erneut streckt er seine Hand über den Küchentisch aus. Dieses Mal zucke ich nicht zurück. Aber ich zögere immer noch, sie zu ergreifen.
Mein unbedingtes Vertrauen in seine guten Absichten ist gebrochen, und es braucht mehr als nur Worte, um das Band zwischen uns zu erneuern. Doch seine offensichtliche Entschlossenheit, mich mit seinem Leben zu schützen, ist überzeugend.
Und wenn die Augen wirklich Fenster zur Seele sind, dann kann ich sehen, wie verzweifelt Phoenix wünscht, diese Verbindung wieder herzustellen.
Trotz meiner Zweifel spüre ich, wie mein Widerstand schwankt, als plötzlich draußen auf dem Kies ein lautes Knirschen zu hören ist.