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Phoenix springt auf und rennt zum Fenster. Als er durch die Vorhänge schaut, flüstert er: »Da ist ein Auto! «
Ein Adrenalinschub lässt meinen Puls rasen. »Jäger?«, frage ich.
»Bin mir nicht sicher«, antwortet er, eilt zurück zum Tisch und greift nach seinem Rucksack. »Wer auch immer das ist, wir müssen verschwinden.«
Ich folge ihm zur Vordertür. »Warum haben wir sie nicht gehört, als sie die Auffahrt hochkamen?«
»Es ist ein Elektroauto, deshalb!«, murmelt er. »Bist du bereit zu fliehen?«
Ich nicke und stähle mich für eine weitere verzweifelte Flucht. Als Phoenix die Tür zentimeterweise öffnet, werden wir von einer elegant gekleideten Frau in cremefarbener Jacke und blauer Bundfaltenhose empfangen.
Sie fragt: »Wer zum Teufel sind Sie?«, und ihre Augen weiten sich alarmiert.
»Hallo, wir wollen gerade gehen«, antwortet Phoenix und versucht, sie mit einem charmanten Lächeln zu entwaffnen. »Vielen Dank für den angenehmen Aufenthalt.«
Die Frau versucht nicht, uns aufzuhalten, als wir uns an ihr vorbeidrängen. »Aber ich hatte gar keine Buchungen diese Woche –« Sie hält abrupt inne und starrt mich an, ihr anfänglich verwirrter, alarmierter Blick verhärtet sich zu einem klaren Wiedererkennen. »W ŏ rènshí nĭ «, platzt sie in fließendem Chinesisch heraus.
Erschrocken nicht nur über diese Wendung, sondern auch über die Tatsache, dass ich die Frau verstehen kann, verfolge ich entsetzt, wie ihre Augen sich wie Gewitterwolken verdunkeln …
»Ich kenne dich«, sagt der mondgesichtige Beamte und versperrt mir den Weg aus dem nördlichen Tor der Stadt Pingyao. In Purpur gekleidet, mit einem schwarzen, flügelförmigen Hut und einem dünnen, herabhängenden Schnurrbart, sieht der Mann aus wie eine hungrige Katze, die sich gerade auf die lang ersehnte Maus stürzt.
Ich versuche, ruhig und gefasst zu wirken, während der von zwei muskelbepackten Torwächtern flankierte Beamte sich zu mir herabbeugt, um mein Gesicht zu inspizieren.
»Wie ist dein Name und dein Geburtsort?«, verlangt der Beamte zu wissen, sein Atem stinkt nach altem Fisch und Knoblauch.
Mit heiserer und tiefer Stimme antworte ich: »Hua Shanbo aus der Provinz Hebei.«
Die Augen des Beamten werden schmal wie die einer Katze, und er grinst, wobei er eine Reihe gelber Zähne entblößt. »Würde dir ein Mädchenname nicht besser stehen?«, fragt er verschlagen.
Mit einem steifen Lächeln antworte ich: »Oh, das glaube ich nicht …«, wobei ich mir würdevoll über meinen Bart streiche. Die beiden Wachen schnauben vor Vergnügen, aber ihre Hände umklammern weiterhin fest ihre mit Eisen gespickten Knüppel.
Der Beamte starrt mich an und wedelt mir mit seinem knochigen Finger vor dem Gesicht herum. »Oh, ich glaube, du hast viele Namen … nicht wahr, Lihua?« Dann zerrt er ohne Vorwarnung hart an meinem Bart und reißt mir die falschen Haare vom Kinn …
Ich keuche vor Schmerz, meine Wange brennt, als wäre ich geohrfeigt worden. Für einen Moment sehe ich, wie der Schnurrbart des Beamten das Gesicht der Hausbesitzerin überlagert, ihr früheres Leben überblendet vorübergehend ihr aktuelles. Dann verblasst die Doppelvision und ich taumle mit Phoenix davon. Als wir den Kiesweg hinuntereilen, höre ich die Frau in ihr Mobiltelefon schreien: »Summerfield Cottage. Xiànzài! Ich meine jetzt !«, wobei sie sich in den Sprachen verheddert.
»Wir haben Glück – nur eine Wächterin«, bemerkt Phoenix und beschleunigt das Tempo, während ich einen Blick zurück werfe.
Die Frau beobachtet, wie wir die Auffahrt hinunter flüchten. Dann schlendert sie auf ihr Auto zu und ihre Gemächlichkeit ist verstörender, als wenn sie rennen würde. Sie ist offensichtlich überzeugt, dass wir geschnappt werden – und sie könnte damit recht behalten. Noch bevor wir die Hälfte der Strecke hinter uns haben, hören wir Motorräder herandröhnen. Sekunden später tauchen fünf Biker mit schwarzen Helmen oben auf der Landstraße auf und schneiden uns den Weg ab. Der Fahrer an der Spitze klappt sein Visier hoch und fixiert uns mit seinen ölschwarzen Augen.
Damien!
Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Mein Peiniger hat uns aufgespürt und es ist alles meine Schuld! Wenn ich nur Mei nicht angerufen hätte. Wir wären untergetaucht. Hätten eine Chance gehabt, Gabriel zu erreichen. Aber jetzt sind wir wieder im Visier der Jäger.
»Zurück zur Hütte«, befiehlt Phoenix.
Während wir auf dem Absatz kehrtmachen und wegrennen, geben die Biker Vollgas. Wie ein Rudel Wölfe rasen sie in tödlicher Hetzjagd den Feldweg hinunter. Mein Herz hämmert wie verrückt, wir rennen verzweifelt um unser Leben, aber die Jäger nähern sich schnell.
»Wir werden ihnen niemals entkommen!«, rufe ich.
Phoenix bleibt abrupt stehen. Die Frau, jetzt in ihrem Auto, rast aus der anderen Richtung auf uns zu. Wir sitzen in der Klemme, gefangen zwischen dem Auto und den Motorrädern. Als letzter Ausweg bleibt uns nur ein verzweifelter Sprung über den Zaun auf die Koppel.
»Die Pferde«, ruft Phoenix und rappelt sich auf. »Sie sind unsere einzige Chance.«
Wir rennen über die grasbewachsene Koppel. Die drei Pferde sind nervös, aber sie tolerieren unsere Annäherung. Ich wähle eine schlanke Palomino-Stute, Phoenix einen dunkelbraunen Wallach. Ohne meinen Lauf zu bremsen, greife ich nach oben, packe die Mähne meines Pferdes und schwinge mich in einer einzigen fließenden Bewegung auf seinen Rücken. Ich registriere die erstaunliche akrobatische Leistung kaum noch, seit meinem Schimmer von Cheyenne scheinen meine Reitkünste so intuitiv zu funktionieren wie das Atmen.
Phoenix besteigt sein Pferd mit der gleichen Leichtigkeit. »Zum Wald«, ruft er.
Jenseits der eingezäunten Koppel öffnet sich ein von Steinmauern begrenztes Feld und dahinter in der Ferne erhebt sich ein kleines Wäldchen. In dessen Schutz sollte sich uns zumindest eine kleine Chance zur Flucht bieten.
Ich grabe meine Fersen in die Flanken der Stute, galoppiere neben Phoenix über die Koppel und auf den Zaun zu. Die Motorräder, die parallel zu uns auf der schmalen Straße fahren, schwirren wie wütende Wespen. Als wir uns dem hohen Zaun nähern, schüttelt meine Stute den Kopf und schnaubt. Ich spüre, dass sie Angst hat, lege meine Hand auf ihren Hals und flüstere ihr einige Worte auf Cheyenne ins Ohr. Sofort beruhigt sie sich und senkt ihren Kopf, um die Herausforderung einzuschätzen, dann nehmen wir in einem einzigen anmutigen Satz das Hindernis und landen sanft auf der anderen Seite. Auch Phoenix’ Wallach schafft den Sprung und hält mit meiner Stute Schritt, während wir wie die Hölle auf das Wäldchen zureiten.
Doch nachdem Damien und seine Biker durch ein offenes Gatter gerast sind, schwärmen sie aus wie eine Truppe Kopfgeldjäger. Sie donnern über das offene Feld hinter uns her.
»Reite wie der Wind«, ruft Phoenix, in Anspielung auf seine frühere Inkarnation als Hiamovi.
Ich treibe mein Pferd an, reite mit dem Mut und der Schnelligkeit einer echten Cheyenne, während sich die Horde Motorräder mit erschreckender Geschwindigkeit nähert.
Hufe dröhnen über die Erde, meine Stute galoppiert auf die Steinmauer zu und bewältigt sie mühelos, als ob sie die Grand Nationals anführen würde. Hinter uns jedoch müssen Damien und seine Jäger abdrehen, bis sie weiter oben einen eingestürzten Abschnitt der Mauer finden und hindurchbrausen können.
Phoenix und ich versuchen, unseren Vorsprung auszubauen, wohl wissend, dass für die Jäger jede steinerne Grenze eine unüberwindliche Barriere darstellt, während uns jeder Sprung näher an die Zuflucht des Waldes bringt. Dieses Feld ist jedoch viel weitläufiger, und die Motorräder machen schnell Boden gut.
Ein Jäger, der seiner Meute voraus ist, taucht neben mir auf. Phoenix erkennt die Bedrohung und verpasst ihm einen Fußtritt. Sein Stiefel trifft den Helm, das Visier zerbricht und der Fahrer stürzt von seinem Motorrad.
Schnell ersetzt eine zweite Jägerin den ersten. Sie greift nach meinem Bein und erwischt meine Jeans. Ohne Sattel oder Zügel kann ich mich nur noch fester an die Mähne meines Pferdes klammern, während sie versucht, mich herunterzureißen.
»Phoenix! «, schreie ich, während ich mit jedem scharfen Ruck weiter vom Rücken des Pferds rutsche.
Aber Phoenix’ Pferd wird von einem weiteren Motorradfahrer abgedrängt.
Verzweifelt versuche ich, die Jägerin abzuschütteln, aber sie lässt nicht locker. Sie ist so wild entschlossen, dass sie sogar die nächste, rasch näher kommende Steinmauer übersieht. Erst in letzter Sekunde erkennt sie die Gefahr und lässt mein Bein los, um zu bremsen … aber zu spät! Ihr Motorrad kracht frontal gegen das Hindernis. Die Jägerin segelt hinüber auf das nächste Feld, ihr Bike landet als Schrotthaufen neben ihr.
Meine treue Stute überwindet die Mauer problemlos. Während sie weitergaloppiert, halte ich ihren Hals umklammert, nur mein eines Bein liegt über ihrem Rücken und hält mich fest. Der steinige Boden fliegt wenige Zentimeter an meinem Gesicht vorbei. Zitternd vor Anstrengung ziehe ich mich wieder hoch auf mein Pferd.
»Alles in Ordnung?«, ruft Phoenix, der neben mir reitet. Auch er hat es geschafft, seinen Verfolger abzuschütteln.
Ich nicke, dann blicke ich über meine Schulter zurück. Damien und die beiden verbliebenen Jäger müssen erneut einen langen Umweg machen, um ein Gatter zu finden. Mit wütendem Motorengebrüll nehmen sie die Verfolgung wieder auf.
Aber jetzt liegen nur noch zwei Mauern vor uns, das Wäldchen ist in greifbarer Nähe.
Ich reite vor Phoenix und übernehme die Führung. »Wir werden sie schlagen!«, rufe ich. Sicherlich verschafft uns jetzt die Sprungkraft unserer Pferde einen Vorteil gegenüber der Geschwindigkeit ihrer Motorräder.
Da zischt eine Kugel dicht an meinem Ohr vorbei. Schüsse hallen über die Felder, und ich ducke mich, während weitere Kugeln vorbeisirren. Damien hält eine Pistole, während er einhändig fährt und erneut feuert. Genau wie der Marschall mit dem weißen Hut auf der Prärie will er uns von unseren Pferden schießen. Aber der unebene Boden und die Geschwindigkeit der Verfolgungsjagd erschweren ihm das Zielen, und seine Schüsse gehen ins Leere … bis auf einen.
Als wir über die nächste Steinmauer springen, wird Phoenix’ Wallach in der Flanke getroffen. Das Pferd wiehert vor Schmerz, landet unbeholfen und stürzt.
»NEIN!«, schreie ich, während Phoenix vom Rücken des Wallachs geschleudert wird. Er kracht auf den harten Boden und überschlägt sich mehrfach.
Mein Pferd reitet weiter, und ich muss meine Oberschenkel fest zusammendrücken, um seinen Galopp zu bremsen. Als ich mich umdrehe, hat sich der Wallach trotz des schweren Sturzes und seiner verletzten Flanke wieder hochgekämpft und humpelt davon. Doch Phoenix bleibt am Boden liegen. Eine Sekunde vergeht, und noch eine, und aus der Entfernung ist schwer einzuschätzen, ob er tot oder nur ohnmächtig ist. Dann, zu meiner großen Erleichterung, zuckt er und erwacht wieder zum Leben. Benommen den Kopf schüttelnd schaut Phoenix auf und sieht mich.
»Nein, Genna! Reite weiter! «, ruft er.
Ich zögere. Wenn ich jetzt lospresche, kann ich die Bäume erreichen, bevor die Jäger durch das nächste Gatter gelangen. Aber genau wie meine frühere Inkarnation Waynoka werde ich meinen Guardian nicht dem sicheren Tod überlassen. Meine Stute anspornend, reite ich zu ihm zurück. Während er sich auf die Beine kämpft, zerfetzen erneut Schüsse die Luft. Diese Kugeln gelten jedoch weder Phoenix noch mir. Damien sprengt das Vorhängeschloss eines alten Gatters, bevor er hindurchröhrt und dann auf Phoenix zurast.
Ich treibe mein Pferd an, in einem Wettlauf auf Leben und Tod zwischen Damien und mir. Wenn ich Phoenix retten will, benötige ich alle meine Reitkünste – und vielleicht sogar noch mehr.
»Phoenix! Gib mir deine Hand!«, rufe ich und beuge mich nach vorne, während ich auf ihn zupresche.
Aber auch Damien ist jetzt fast bei ihm, sein Bike schleudert Dreck und das Vorderrad schnappt nach Phoenix’ Fersen, während mein Beschützer auf mich zuhumpelt. In allerletzter Sekunde ergreife ich Phoenix’ ausgestreckte Hand und ziehe ihn auf den Rücken meines Pferdes. Damien rast wütend und frustriert an mir vorbei.
»Alle Achtung«, keucht Phoenix, »das war ein echt cooler Reitertrick. Danke!«
Seine Arme schlingen sich um meine Taille, ich wende scharf und galoppiere auf den Wald zu. Die letzte Steinmauer ist in Sicht, aber diesmal gibt es kein Gatter für die Motorräder. Wenn wir die Mauer erreichen, sind wir in Sicherheit!
Aber auch Damien muss das erkannt haben. Er dreht das Gas bis zum Anschlag auf und riskiert in einem wilden Sprint alles, um das Hindernis vor uns zu erreichen. Mit zwei Reitern hat meine Stute keine Chance, ihn zu überholen. Ihre Nüstern flattern bereits, sie ist erschöpft von den Strapazen.
Damien ist vor uns an der Mauer und kommt schleudernd zum Stehen, wodurch er eine Barriere zwischen uns und dem Wald bildet. Eine letzte tödliche Hürde. Aber weder bremse ich meine Stute ab, noch wechsle ich die Richtung. Nicht mit den verbliebenen Jägern im Rücken.
»Sie wird den Sprung niemals schaffen«, schreit Phoenix und umklammert meine Taille noch fester.
»Doch, das wird sie«, rufe ich zurück.
Ich spüre, dass sie ein Pferd mit großer Seele ist, ein edles Ross und einer Cheyenne würdig – und ich flüstere ihr erneut ins Ohr.
Sofort hebt sie den Kopf und scheint von irgendwoher einen Quell verborgener Kraft zu mobilisieren, denn sie beschleunigt erneut und fliegt nun in gestrecktem Galopp auf die letzte Mauer zu. Damien zieht hastig seine Waffe. Doch meine Stute bleibt unerschrocken, zögert nicht und springt …
Trotz des Gewichts von zwei Reitern schafft sie es, sowohl die Mauer als auch den Motorradfahrer zu überwinden.
Nun, fast … denn mit ihrem Hinterhuf trifft sie Damiens Helm und schleudert ihn und seine Pistole gegen die Mauer.