36
»Braves Mädchen«, sage ich und klopfe der Palomino-Stute ihren schweißnassen Hals. Sie schnaubt leise, obwohl sie völlig erschöpft ist. Der lange, scharfe Ritt hätte ausgereicht, selbst das trainierteste Rennpferd zu ermüden. »Du musst dich ausruhen, nicht wahr, meine Gute?«
»Wir sind jetzt nicht mehr weit von Havenbury entfernt«, sagt Phoenix. »Es ist gleich hinter dem Hügel.«
In der Ferne erhebt sich ein grasbewachsener Hang, auf dessen Kuppe sich offenbar ein weiterer Steinkreis befindet, ähnlich dem bei Andover. Der Himmel über uns ist bleiern, bedeckt von einer stahlgrauen Schicht Gewitterwolken, die Regen ankündigen. Eine kühle Brise streift durch die Blätter der Bäume um uns herum, und mich überläuft ein Schauer, als in der Nähe ein Motorrad vorbeifährt. Obwohl wir Damien und seinen Seelenjägern knapp entkommen sind, ziehen ihre Bikes immer enger werdende Kreise um uns, das dumpfe Dröhnen ist eine beständige und quälende Erinnerung daran, dass sie immer noch auf der Jagd nach uns sind.
Doch unsere Stute ist am Ende ihrer Kräfte, kaum mehr in der Lage, einen Huf vor den anderen zu setzen.
»Wir sollten sie wenigstens kurz ausruhen und etwas trinken lassen«, schlage ich vor, als wir am Rande des Weges auf einen Bach stoßen.
Widerwillig stimmt Phoenix zu, steigt ab und stürzt dabei fast zu Boden.
»Alles in Ordnung bei dir?«, frage ich und springe hinunter, um ihm zu helfen.
Er verzieht schmerzerfüllt das Gesicht. »Ich glaube, ich habe mir beim Sturz das Bein verletzt«, antwortet er, lässt sich auf ein Stück Gras fallen und schüttelt den Rucksack ab. »Wenn wir erst einmal bei Gabriel sind, ist alles gut. Er sollte in der Lage sein, mich wieder in Ordnung zu bringen.«
Bei der Untersuchung seines verletzten Beins frage ich: »Sind Seelenseher auch Ärzte?«
»Nein«, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen und zuckt kurz, als ich sein geschwollenes Knie abtaste. »Aber sie sind mächtige Heiler.«
Sein Bein ist glücklicherweise nicht gebrochen, dennoch mache ich mir Sorgen um sein Knie. Aber er besteht darauf, dass es keinen Anlass zur Sorge gibt, also setze ich mich neben ihn ins Gras, während wir darauf warten, dass mein Pferd seinen Durst am Bach stillt.
»Ich könnte selbst etwas Heilung gebrauchen«, sage ich, als ich mich ausstrecke und mein Nacken dabei bedrohlich knackt. Meine Muskeln sind steif und die Beine vom Ritt wund gescheuert. Welche Fähigkeiten sich auch immer aus meiner Inkarnation als Cheyenne übertragen haben, mein gegenwärtiger Körper ist einfach noch nicht an die Anforderungen sattellosen Reitens gewöhnt. »Es tut mir leid, dass ich die Jäger alarmiert und sie wieder auf unsere Spur gebracht habe«, bekenne ich.
»Das muss es nicht«, antwortet Phoenix. »Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie uns aufspüren.«
»Und es tut mir wirklich leid, dass ich an deiner Loyalität gezweifelt habe und dachte, du wolltest mich töten.« Spätestens nach dieser Verfolgungsjagd weiß ich, dass er wirklich mein Guardian ist.
Phoenix wendet sich mir zu, in seinem Blick liegt eine Mischung aus Reue und Nachsicht. »Nein, du hattest recht, an mir zu zweifeln«, gibt er zu. »Ich zweifle manchmal selbst an mir.« Er seufzt schwer. »An den Entscheidungen, die ich getroffen habe. Wegen der harten Opfer, zu denen ich dich manchmal gezwungen habe. Wegen der Menschen, die ich verletzt habe – oder töten musste –, um dich zu schützen. Um ehrlich zu sein, frage ich mich manchmal, ob es das alles wirklich wert ist.«
Er hebt einen Kieselstein vom Weg auf und wirft ihn in den Bach, wobei das Platschen unsere Stute zusammenzucken lässt. Während die kreisförmigen Wellen im Wasser langsam abebben, studiert Phoenix mit intensiver Hingabe mein Gesicht. »Aber dann schaue ich in deine Augen, und ich erkenne deine Seele, dein Licht«, murmelt er. »Und mir wird klar, dass ich alles tun muss, was nötig ist, um dich zu beschützen. Denn ohne dich würde diese Welt ein finsterer Ort werden.«
Genau in diesem Moment verschwindet das Sonnenlicht, die Temperatur sinkt um ein oder zwei Grad, und frischer Duft nach Regen erfüllt die Luft.
»Was ist das eigentlich für ein Licht, das ich in mir trage?«, frage ich, ein Frösteln abschüttelnd. »Was passiert, wenn es ausgelöscht wird?«
Phoenix atmet tief durch. »Gabriel wird es dir viel besser erklären können als ich. Er ist derjenige, der es dir sagen sollte. Das Licht ist jedenfalls überaus kostbar und muss geschützt werden.« Er hält meinem Blick stand. »Ich bin sogar irgendwie froh, dass du nach diesem römischen Schimmer weggelaufen bist. Du musst immer auf der Hut sein. Du darfst niemandem vertrauen – zumindest so lange nicht, bis du seine Seele gesehen hast.«
»Ich habe deine gesehen und ich vertraue dir«, antworte ich leise und fühle erneut, wie mich dieser unwiderstehliche Magnetismus zu ihm hinzieht.
Die ersten Regentropfen fallen und prasseln auf die Blätter und den Weg. Ihre kühle Berührung auf meiner nackten Haut bemerke ich kaum, so verzaubert bin ich von dem Sternenfunkeln im Blick meines Guardians.
»Wir … wir sollten uns besser auf den Weg machen«, sagt Phoenix und löst den Bann. Unbeholfen stemmt er sich hoch, wobei er das meiste Gewicht auf sein rechtes Bein verlagert.
Als auch ich wieder zu Sinnen komme, erhebe ich mich rasch und stütze ihn. Plötzlich zuckt ein Blitzstrahl über den Himmel und ein Donnerschlag zerreißt die Stille. Erschreckt prescht unsere Stute den Weg hinunter.
»Verdammt«, knurrt Phoenix, als sie im Wald verschwindet.
Ich bin traurig, dass sie uns verlässt, aber insgeheim auch froh, weil sie so außer Gefahr ist. Nach allem, was sie für uns getan hat, möchte ich nicht, dass Damien sie bei einer Verfolgungsjagd erschießt.
Jetzt regnet es in Strömen, und wir sind gezwungen, zu Fuß weiterzuwandern. Phoenix kämpft mit jedem Schritt, also suche ich einen kräftigen Ast, auf den er sich stützen kann, und schultere selbst den Rucksack. Das beschleunigt unser Vorankommen, und bald erreichen wir eine schmale Landstraße mit einem Hinweisschild, das Havenbury in eineinhalb Kilometern ankündigt.
»Wir sind fast da!«, sage ich und will auf die Straße abbiegen.
Aber Phoenix bremst mich. »Der schnellste Weg führt über den Hügel«, sagt er und deutet auf einen Wanderweg, der einem Schild zufolge in einem dreiviertel Kilometer zum Dorf führt.
»Aber was ist mit deinem Knie?«, frage ich, im Regen fröstelnd. »Wäre es nicht leichter, der Straße zu folgen?«
Phoenix nickt. »Sicher wäre es das. Aber wir dürfen nicht riskieren, auf Jäger zu stoßen.«
Also klettern wir über den Zaun und steigen langsam, aber stetig den Hügel hinauf. Das Gras ist glitschig und nass, und wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Halt verlieren. Dem Wetter schutzlos ausgesetzt, sind wir bald völlig durchnässt – aber wenigstens vertreibt die Anstrengung des Aufstiegs die bittere Kälte des Winds.
Wir sind etwa auf halber Höhe, als sich ein Motorgrollen nähert, und als ich mich umdrehe, sehe ich einen Biker mit schwarzem Helm, der vor dem Zaun aus dem Sattel steigt. Er späht durch den Regen in unsere Richtung.
»Sie haben uns entdeckt!«, rufe ich, als weitere Motorräder herandonnern, um sich ihm anzuschließen.
Die Seelenjäger lassen ihre Bikes am Straßenrand stehen, springen über den Zaun und stürmen hinter uns den Hügel hinauf.
»Los! Los! LOS!«, drängt Phoenix, beißt die Zähne zusammen und humpelt so schnell, wie sein verletztes Bein es erlaubt.
Der Regen peitscht uns ins Gesicht, während wir den schlammigen Wanderweg erklimmen. Gegen den Sturm ankämpfend ergreife ich Phoenix’ Hand und helfe ihm über den unebenen Boden. Hinter uns folgen die Jäger mit erschreckender Geschwindigkeit. Wir haben fast schon die Kuppe des Hügels erreicht, als Phoenix’ Fuß unter ihm wegrutscht und wir beide auf die schlammige Erde stürzen. Er stößt einen gequälten Schrei aus, während ein weiterer Blitz den Himmel erhellt. Ich blicke alarmiert zurück. Damien rennt den Pfad hinauf, seine kohlschwarzen Augen glitzern im kurzen Aufflackern des Lichts.
»Lauf alleine weiter«, stöhnt Phoenix, der sich auf den behelfsmäßigen Gehstock stützt und sich zu erheben versucht. »Lauf zu Gabriel!«
»Nein«, antworte ich, lege den Rucksack ab und hebe seinen Arm über meine Schultern. »Wir können es schaffen. Gemeinsam
Ich ziehe ihn hoch und keuchend taumeln wir weiter. Halb trage ich ihn, halb schleife ich ihn den restlichen Hang hinauf. Oben kommen die Kalksteinblöcke des magischen Kreises in Sicht. Dahinter liegt Havenbury, eingebettet in ein flaches Tal, der Kirchturm erhebt sich als Silhouette gegen den gewittrigen Horizont. Die sichere Zuflucht ist so nah … und doch ein ganzes Feld zu weit entfernt.
Inzwischen können wir Damiens Atem förmlich im Nacken spüren. Schneller, fitter und kampfstärker nähern er und seine Jäger sich ihrer Beute, und es ist völlig ausgeschlossen, dass wir das Dorf rechtzeitig erreichen. Während Phoenix vor Schmerz halb ohnmächtig ist, schwindet mit jedem taumelnden Schritt unsere Hoffnung auf Überleben. Ich stolpere unter seinem Gewicht und stehe selbst kurz vor dem Zusammenbruch.
Erneut zuckt ein grelles Licht über den Himmel und beleuchtet den Steinkreis, und in diesem Moment erinnere ich mich daran, was Phoenix mir in Andover gesagt hat: Inkarnaten können einen heiligen Steinkreis nicht betreten, der durch das Licht geschützt ist. Ich bete, dass er recht hat, und schleppe uns beide über die Begrenzung und in die Mitte des Kreises.
Nur wenige Schritte hinter uns bleibt Damien am Rand abrupt stehen. Seine Jäger scharen sich um ihn, dann beginnen sie frustriert an dem niedrigen Wall entlangzulaufen. Blutrünstig starren sie uns unter ihren Kapuzen durch den Regen an.
Ich spüre ein vertrautes Kribbeln in meinen Knochen und erlaube mir ein leichtes Lächeln des Triumphes. »Ihr könnt uns hier drinnen nichts anhaben!«, rufe ich Damien zu. »Dieser Kreis ist durch das Licht geschützt.«
Seine Kiefermuskeln verhärten sich, wodurch er noch mehr wie ein gefräßiger Wolf aussieht – einer, dem das Töten seiner Beute verwehrt wurde. Wutentbrannt blickt er auf den Ring aus heiligen Steinen. Dann huscht ein verschlagenes, bösartiges Grinsen über sein Gesicht.
»Oh, ich fürchte, da liegst du falsch, Genna«, sagt er, bevor er einen kühnen Schritt in den Kreis macht.