38
Schlagartig hört es zu regnen auf, der Wind flaut ab und der Donner verstummt. Am Horizont zucken Blitze durch die Wolken, trügerische Ruhe senkt sich herab.
»Du hast mir sehr wehgetan , Genna«, sagt Damien, als ob ich ihm nicht ein Messer in den Rücken gerammt, sondern irgendwie seine Gefühle verletzt hätte. »Aber nicht so sehr, wie ich jetzt dir wehtun werde!«
Entsetzt starre ich auf den scheinbar unbesiegbaren Inkarnaten. Wenn Obsidian ihn nicht töten kann, was dann?
»Dazu musst du erst an mir vorbeikommen«, stößt Phoenix hervor. Trotz seines verletzten Beins steht er tapfer vor mir als mein Schild, seinen Stock zur Verteidigung erhoben. Mein treuer Guardian.
Doch so stark mein Glaube an ihn ist, so schnell schwindet auch meine Hoffnung, was unsere Überlebenschancen angeht. Die Seelenjäger umrunden langsam und strategisch geschickt die Kreisgrenze und riegeln jeden Fluchtweg ab.
»Wirst du es denn nie müde, sie zu beschützen?«, schnaubt Damien und nähert sich Phoenix mit der erhobenen Klinge. »Wie oft habe ich dich jetzt schon durchbohrt? Dir ein Messer ins Fleisch gestoßen? Dir die Knochen gebrochen? Dir das Leben genommen?«
»Wohl nicht oft genug!«, kontert Phoenix. »Ich stehe immer noch aufrecht und Gennas Seele lebt weiter.«
»Aber nicht mehr lange!«, knurrt Damien und stürzt sich auf uns.
Phoenix schwingt seinen Stock in einem gewaltigen Bogen. Doch Damien duckt sich darunter hinweg, während er gleichzeitig mit der Klinge zusticht. Von seinem verletzten Knie gehandicapt, kann Phoenix nicht schnell genug ausweichen.
»Hier, nimm dein Messer zurück!«, faucht der Inkarnat, indem er den schwarzen Steinsplitter in Phoenix’ Bauch rammt.
Der Obsidiansplitter dringt tief ein. Phoenix sinkt mit einem gequälten Aufstöhnen auf die Knie. Er lässt den Stock fallen und umklammert stattdessen seinen Bauch, während das Blut zwischen seinen Fingern hindurchrinnt. Mit einem verzweifelten, allerletzten Blick zu mir schnappt er nach Luft und keucht: »Denk an Gabriel! Lauf! « Dann verblasst der Glanz in seinen Augen und er kippt nach vorne in den Schlamm.
Damien grinst. »Ich hab’s dir doch gesagt, oder? Und jetzt hast du es selbst erlebt. Er beschützt dich nicht immer
Der Anblick von Phoenix, der zu meinen Füßen liegt, während sein Blut in der Erde versickert, reißt mir das Herz aus dem Leib und meine Seele in zwei Teile. Tiefe Trauer überfällt mich, und ich sinke neben meinem gefallenen Phoenix nieder. Ich neige den Kopf und wimmere, die Tränen rollen wie Regentropfen über meine Wangen.
»Warum heulst du?«, fragt Damien verächtlich. »Seine Seele ist nicht tot. Er wird wiedergeboren – obwohl es, zugegebenermaßen, viel zu spät sein wird, um deine heilige Seele zu retten.«
Er packt meinen Arm und beginnt mich aus dem Kreis zu schleifen, als sich plötzlich meine Nackenhaare sträuben. Die Luft knistert elektrisch, alles wird von einem gleißenden Licht überstrahlt – heller und heißer als die Sonne –, und dann detoniert irgendetwas mit einem ohrenbetäubenden Krachen, so nahe, dass ich rückwärts gegen einen Stein geschleudert werde –
Das sanfte, anhaltende Klatschen des Regens auf mein Gesicht bringt mein Bewusstsein zurück. Mein Kopf pocht und mein ganzer Körper schmerzt. Ein scharfer Geruch von Ozon steigt mir in die Nase, zusammen mit dem beißenden Gestank nach verbranntem Fleisch. Aller Energie beraubt, kann ich mich nur mühsam aufrichten.
Der Steinkreis ist übersät mit den leblosen Körpern Damiens und seiner Seelenjäger. Einer von ihnen liegt neben einem Portalstein, der jetzt in zwei Hälften gespalten ist, und ein unheilvoller Rauchkranz schwebt über den verkohlten Überresten des Jägers. Als der Himmel aufflackert und ein gewaltiger Donner grollt, dämmert es mir, dass ein Blitz in den Steinkreis eingeschlagen sein muss. Er wird uns alle von den Füßen gerissen haben. Der Jäger, der dem gespaltenen Stein am nächsten war, muss von einem Seitenarm des Blitzes getroffen und auf der Stelle getötet worden sein.
Ich kämpfe gegen meine Müdigkeit an, krieche zu Phoenix hinüber und rüttle ihn sanft an der Schulter. »Phoenix? «, flüstere ich, ohne eine Reaktion zu erhalten. Ich klammere mich an ihn, immer noch überwältigt von Trauer. Obwohl er wiedergeboren wird, ist sein Verlust in diesem Leben unendlich bitter. Ohne ihn fühle ich mich völlig alleine.
In meiner Nähe zuckt Damien und stößt ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. Langsam kommen auch die anderen Jäger zu sich.
Denk an Gabriel! Lauf!
Phoenix’ Worte hallen in meinem Kopf wider, sein letzter sorgender Rat weckt den Überlebensinstinkt in mir. Zärtlich küsse ich seine kalte, feuchte Wange und raune ihm einen verzweifelten Abschiedsgruß ins Ohr, dann taumle ich an den Rand des Kreises, verlasse den Ring aus heiligen Steinen und springe über den matschigen Wall.
Dann renne ich. Ich renne um mein Leben … und um alle meine zukünftigen Leben.
Ich rutsche und gleite den Abhang hinunter nach Havenbury. Meine Beine sind wie aus Gummi, ich stürze mehrfach, und es ist mehr die Schwerkraft, die mich nach unten zu tragen scheint, als meine eigenen Kräfte. Schlamm und Gras verschmieren meine Kleider und Hände. Ich erreiche den Fuß des Hangs und stolpere weiter über das Feld, bis ich auf eine Landstraße gelange, die ins Dorf führt.
Havenbury besteht aus kaum mehr als einer Handvoll blassgelber Kalksteinhäuser, die sich um einen Ententeich herum drängen. Die Hauptstraße ist schmal und menschenleer, der Sturm hat alle hineingetrieben. Hinter den zugezogenen Vorhängen eines Häuschens bemerke ich den schwachen Schein von Kerzenlicht und eile darauf zu. Ich klopfe an die niedrige Holztür und quetsche mich tropfend und zitternd unter das hölzerne Vordach.
Zunächst antwortet niemand, daher klopfe ich erneut. Kurz darauf öffnet sich knarrend die Tür und eine alte Frau lugt heraus. Durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen erspähe ich ein winziges Wohnzimmer mit einem Sofa, das mit einer weißen, gehäkelten Decke bezogen ist, und einen alten Fernseher. Eine rothaarige Katze liegt zusammengerollt auf dem Teppich vor einem Kamin, dessen flackernde Wärme einladend wirkt.
Doch der Empfang der alten Frau ist kalt. »Ja?«, schnappt sie.
»Ich suche Gabriel«, erkläre ich. »Wissen Sie, wo er wohnt?«
Sie mustert mich aus kleinen, grauen Augen. Mehrere Sekunden lang schweigt sie. Vermutlich reicht allein mein schlammverschmiertes Äußeres, um jeden sofort misstrauisch zu machen. Dann huscht ein Ausdruck des Wiedererkennens über ihr runzliges Gesicht. Für einen Moment befürchte ich, sie könnte vielleicht eine Wächterin sein, dann regt sich kurz die Hoffnung, sie könnte eine Seelenschwester sein – doch weder wandelt sie sich, noch zeigt sie ein Lächeln.
Stattdessen knallt sie mir die Tür vor der Nase zu.
»Bitte!«, rufe ich und poche an die Tür. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Gehen Sie weg oder ich hole die Polizei!«, schreit sie. Das Schloss klickt und ein Riegel wird von innen vorgeschoben. Höchstwahrscheinlich hat sie mein Gesicht in den Nachrichten gesehen. Nach Phoenix’ Tod im Steinkreis frage ich mich, ob es nicht tatsächlich das Beste wäre, wenn ich oder irgendjemand anderes die Polizei verständigen würde. Doch dann erinnere ich mich an DI Shaw, was mich den Gedanken sofort wieder verwerfen lässt.
Meine einzige echte Chance besteht darin, Gabriel, den Seelenseher, zu finden.
Phoenix meinte, er sei der Pfarrer des Ortes, also werde ich mein Glück bei der Kirche versuchen.
Als ich wieder in den Regen hinaustrete und die Straße hinuntergehe, bewegen sich die Vorhänge des Häuschens, offenbar beobachtet mich die alte Frau. Mehrmals schaue ich zurück über meine Schulter, jedes Mal in der Erwartung, Damien und seine Jäger zu erblicken. Doch die Straße bleibt verlassen, nur ein Entenpaar watschelt zum Teich hinüber. Trotzdem wäre es naiv zu glauben, sie hätten die Jagd aufgegeben.
Die alte normannische Kirche Havenburys steht am Ende der Straße, das Kirchenschiff duckt sich unter dem massiven quadratischen Turm aus Cotswold-Stein. Mit den langen, von schmalen Buntglasfenstern durchbrochenen Wänden wirkt das Gebäude sehr imposant für ein so kleines Dorf. Durch ein eisernes Tor, dessen Scharniere laut quietschen, betrete ich den Kirchhof.
Flechtenbedeckte Grabsteine ragen in unregelmäßigen Reihen aus dem Boden, das Gras um sie herum ist lang und ungepflegt. Auf der einen Seite des Weges krümmt sich eine alte, verwachsene Eibe, die einen langen, skelettartigen Schatten auf die alten Grabsteine wirft, in einer Ecke türmt sich ein großer Haufen verrottender Blätter und ein Geruch nach Verwesung liegt in der Luft, als ob sich dort vor langer Zeit ein Tier verkrochen hätte, um zu verenden.
Eine einsame schwarze Krähe krächzt unheimlich auf der Spitze der Eibe, und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich empfinde ein beunruhigendes Déjà-vu-Gefühl, kann mich aber nicht erinnern, schon einmal hier gewesen zu sein, auch meldet sich keinerlei Schimmer.
Ich beschleunige meine Schritte und nähere mich dem Kirchenportal. Als ich eintreten will, erspähe ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Straße. Am äußersten Ende des Dorfes steht eine vermummte Gestalt. Mein Herz pocht heftiger, rasch drücke ich mich in den Eingang und beobachte, wie sich zu der Gestalt weitere hinzugesellen. Schwer zu sagen, ob ich bereits entdeckt worden bin, aber jedenfalls werden sie nicht lange brauchen, um das Dorf zu durchkämmen.
Ich packe den kalten, eisernen Ring der Tür und bete, dass die Kirche nicht verschlossen ist. Mit einem leisen Knarren öffnet sich das schwere Eichenportal, ich schlüpfe eilig hindurch und schließe es hinter mir. Dann ziehe ich einen Stuhl heran und verkeile die Tür damit. Meine Barrikade widersteht wohl kaum einem heftigeren Ansturm, aber sie verschafft mir vielleicht ein wenig Zeit.
Im Inneren der Kirche ist es kalt und dunkel, ein muffiger Geruch liegt in der Luft. In der Nähe des Eingangs steht ein steinernes Taufbecken sowie ein hölzerner Kollektenkasten und ein Regal mit angestaubten ledergebundenen Gesangbüchern. Mehrere Reihen Kirchenbänke trennen mich vom erhöhten Altarraum am östlichen Ende der Kirche, wo ein großes Bogenfenster die Kreuzigung Christi darstellt. Es brennt kein Licht, und auf den ersten Blick scheint es, als wäre ich allein. Dann bemerke ich in der Düsternis eine spindeldürre Gestalt in schwarzer Soutane und weißem Kragen, die vorne am Altar hantiert.
»Gabriel? «, flüstere ich und meine hoffnungsvolle Stimme hallt durch die leere Kirche.
Der Pfarrer dreht sich um. Sein Gesicht ist faltig und bleich wie Pergament, seine Wangen sind hohl, und sein schütteres schwarzes Haar ist gescheitelt und ordentlich über die kahlen Stellen gekämmt. Er trägt eine dunkle Wrap-Around-Sonnenbrille, was mich sofort auf der Hut sein lässt, aber sein Lächeln ist sanft und einladend.
»Ja, Kind?«, sagt er leise.
Langsam und behutsam nähere ich mich dem Altar. »Seid Ihr … der Seelenseher?«, frage ich.
»Und wer magst du wohl sein?«, fragt der Priester.
»Ich bin Genna, eine Erste Nachkommin«, antworte ich. »Phoenix hat mich geschickt.«