39
Nachdem er aus dem Altarraum herabgestiegen ist, streckt Gabriel mir zur Begrüßung eine knochige weiße Hand entgegen. Ich umschließe sie mit einem unbeholfenen Händedruck. Seine Haut fühlt sich bei der Berührung ledrig an, sein Griff ist kühl und doch fest. Tatsächlich hält er meine Hand so fest umschlossen, dass ich einen Moment lang fürchte, er wird mich aus Freude über meine Ankunft niemals mehr loslassen.
»Du bist ja bis auf die Knochen durchgefroren!«, ruft Gabriel aus, dann befühlt er den Ärmel meiner Jacke. »Und klatschnass!«
Er tastet sich am Chorgestühl entlang, findet eine ausgefranste Decke und hält sie mir entgegen.
»Danke«, sage ich und wickele sie um meine zitternden Schultern. »Aber wir müssen uns um viel Dringenderes kümmern.«
»Natürlich müssen wir das. Warum sonst würdest du mich aufsuchen«, erwidert Gabriel, während er einen dünnen weißen Stock neben der Kanzel aufhebt. Er lässt die Spitze über den Boden gleiten, bis er die Treppenkante des Chores gefunden hat.
»Sie sind blind?«, frage ich, jetzt da der Grund für die dunkle Brille offensichtlich ist.
Er dreht sich abrupt zu mir um. »Ja. Ist das ein Problem?«
»Nein … natürlich nicht«, antworte ich, beschämt über meine eigene Gefühllosigkeit. »Nur … wie kann man ein Seelenseher sein, wenn man blind ist?«
Gabriel schenkt mir ein weises Lächeln. »Man braucht keine Augen, um zu sehen«, erklärt er. »In der heutigen Zeit haben viele Menschen ein ausgezeichnetes Sehvermögen, und trotzdem sind sie blind für so vieles!« Er seufzt leicht belustigt und scheint mich dann direkt anzustarren. Er scheint mir tief in die Augen zu schauen – direkt in meine Seele. »Aber du
siehst jetzt klar, nicht wahr, Genna?«, bemerkt er. »Hattest du bereits einen Schimmer?«
»Ja, mehrere«, antworte ich.
Gabriel nickt, offenbar befriedigt über die Auskunft. »Trotzdem hast du bisher nur einen Bruchteil der Geschichte deiner Seele erfahren. Deine Vergangenheit ist tiefer als jeder Ozean. Vielschichtiger als jedes Buch. Die vielen Leben, die du gelebt hast, sind so zahllos wie die Sterne, jedes einzelne von ihnen trägt zu deinem Licht bei.« Sein blinder Blick scheint eine unsichtbare Aura um mich herum wahrzunehmen. »Denn du bist sicherlich die hellste Nachkommin, der ich je begegnet bin!«
»Es gibt noch andere?«, frage ich. Dann bin ich nicht allein!
Meine Hoffnung entzündet sich bei diesem Gedanken.
»Nicht so viele, wie es einmal waren«, antwortet er düster. Sich von der Kanzel entfernend, schlurft er den Gang entlang, sein Stock wischt über den Boden.
»Nun, es wird bald noch eine weniger geben«, rufe ich, und meine Worte lassen ihn innehalten, »es sei denn, Sie können mir helfen.«
Noch während ich es sage, frage ich mich, wie dieser Seelenseher mich vor Damien und seinen Jägern schützen soll.
Gabriel dreht sich zu mir um: »Du wirst gejagt«, raunt er heiser, und es ist mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ja«, antworte ich hastig. »Sie durchsuchen das Dorf nach mir, während wir hier miteinander reden.«
Gabriels Stirn legt sich in Falten. »Wo ist dein Guardian?«, fragt er.
»Phoenix –«, bei der bloßen Erwähnung seines Namens muss ich ein Schluchzen unterdrücken, »er wurde getötet. Als er mich beschützte.«
Gabriel lässt den Kopf hängen, macht das Kreuzzeichen und murmelt: »Mors tantum initium est.
«
Auch diesmal verstehe ich das Lateinische problemlos: Der Tod ist nur der Anfang.
»Wir müssen hier weg«, dränge ich. »Uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Diese Kirche ist im Moment der sicherste Ort für dich«, beteuert Gabriel. »Kein Inkarnat kann geheiligten Boden betreten, ohne seine geschwärzte Seele zu gefährden.«
Ein Quietschen rostiger Scharniere widerlegt unmittelbar darauf seine Behauptung. »Sind Sie sich da ganz sicher?«, frage ich, während das Kirchtor wieder quietscht … und wieder … und wieder.
Der Seelenseher hebt den Kopf, als ob er die Luft schnuppern würde. »Wer genau jagt dich?«
»Damien«, antworte ich. »Oder zumindest nennt er sich in diesem Leben so.«
Seine Schultern fallen herab und Gabriel seufzt schwer. »Das ergibt Sinn. Das hellste Licht zieht den dunkelsten Inkarnaten an.«
Ich schlucke schwer. »Sie meinen … Tanas«, sage ich, und die bloße Erwähnung seines Namens lässt mich schaudern. »Dann müssen Sie wissen, dass es ihm gelungen ist, den Steinkreis auf dem Hügel zu betreten. Einer der Steine fehlte, aber vermutlich war auch der Boden heilig, nicht nur der Kreis.«
»Dann haben wir ein ernstes Problem«, räumt Gabriel ein. Er greift in seine Tasche, zieht einen Schlüsselbund heraus und läuft auf das Portal zu. Ich eile ihm hinterher und erneut steigt Panik in mir auf.
Als wir am Portal ankommen, dreht sich der Knauf, und ich werfe mich gegen die Tür. Gabriel will abschließen, stolpert aber über den Stuhl, den ich als Barrikade benutzt habe, und er lässt die Schlüssel fallen. Jemand rüttelt an der Tür und klopft.
»Liebes, gutes kleines Schwein, lass mich doch zu dir herein!«
, höhnt Damien.
»Niemals!«, schreie ich, während sich der Riegel hebt und die Tür einen Spalt aufgedrückt wird. Ich stemme meinen Fuß gegen das
Gesangbuchregal und dränge die Jäger mit aller Kraft zurück, während Gabriel auf dem Boden nach den Schlüsseln tastet. »Zu Ihrer Linken!«, zische ich. »Ein bisschen weiter.«
»Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten!«,
knurrt Damien. Das Portal erbebt in seinem Rahmen, als er mit der Schulter dagegenrammt. Das Bücherregal verschiebt sich und die Tür gibt noch einen Zentimeter nach. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche mit aller Kraft, sie wieder zu schließen. Aber ich allein gegen einen starken Inkarnaten, das ist ein aussichtsloser Kampf.
Gabriels knochige Finger berühren schließlich den Schlüsselbund. Er schnappt ihn sich und wirft nun auch sein eigenes Gewicht gegen die Tür. Sie knallt gerade so lange zu, dass er den Schlüssel ins Schloss stecken und die Jäger aussperren kann. Auf der anderen Seite hämmern sie mit Fäusten dagegen, aber das Portal ist aus massiver Eiche, und allein durch Hämmern wird es sich nicht aufbrechen lassen.
Dann herrscht urplötzlich Stille. Die Ruhe ist noch weit bedrohlicher als das Lärmen zuvor.
»Wir müssen uns besser schützen«, zischt Gabriel, nimmt seinen Stock und schreitet das Kirchenschiff hinunter. Ich folge ihm zur Kanzel, wo ein kleiner Kasten mit Stiften und mehreren Stückchen weißer Kreide steht. Seine Finger tasten nach einem, dann kehrt er zur Mitte der Kirche zurück, wo sich Querschiff und Längsschiff kreuzen. Er kniet nieder und beginnt, seltsame Symbole auf den Steinboden zu zeichnen, während er in lateinischer Sprache Sätze ausstößt: »Dum mors erit, desperation …
«
Ich schaue ihm über die Schulter. Er mag sein Augenlicht verloren haben, aber seine Bewegungen sind präzise und zielgerichtet. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, was er da macht.
»Äh … ich dachte eigentlich eher an weitere Barrikaden«, schlage ich versuchsweise vor.
»Versperre auf jeden Fall alle Eingänge«, murmelt Gabriel, in seine Aufgabe vertieft. »Aber das wird diese Inkarnaten nur eine
gewisse Zeit aufhalten. Wir brauchen eine viel stärkere Verteidigung als nur physische Barrieren.«
Ich überlasse Gabriel seiner Zauberei und renne zu den großen Doppeltüren an der Westseite. Sie sind zwar verschlossen, aber nichtsdestotrotz schleife ich eine schwere Kirchenbank davor. Dann verkeile ich auch noch das große Portal der Vorhalle zusätzlich mit dem schweren Gesangbuchregal.
»Was kann ich sonst noch tun?«, frage ich, da ich keine anderen Türen entdecken kann, die verbarrikadiert werden müssen.
»Zünde ein paar Kerzen an«, antwortet Gabriel, während er mit fieberhafter Intensität weiterarbeitet. »Vertreibe die Dunkelheit.«
Als ich mich umsehe, erblicke ich ein kleines Metallgestell mit den geschwärzten Stümpfen mehrerer Votivkerzen. In einer Schublade finde ich einige schmale weiße Kerzen und eine halb gefüllte Schachtel Streichhölzer. Ich entzünde sämtliche Kerzen, bevor ich zwei weitere in Messinghaltern auf dem Altar entdecke. Sofort steige ich die drei Stufen dort hinauf.
Kaum sind die Kerzen entzündet, erhellt ihr flackernder Schein das hölzerne Kruzifix über dem Altar. Seltsamerweise steht das Kruzifix auf dem Kopf!
Da wir alle verfügbare Hilfe brauchen können, versuche ich das Kruzifix wieder umzudrehen, doch genau in diesem Moment zerspringt direkt über mir das Buntglasfenster. Erschrocken schütze ich mein Gesicht, während in einer Kaskade Glasscherben herabregnen und ein Ziegelstein über den Boden schlittert. Einen Augenblick später fliegt eine kleine, hinter einem Paravent im nördlichen Querschiff verborgene Tür auf und Damien tritt herein.
»Hoffentlich komme ich nicht zu spät zur Messe«, grinst er, »aber ich habe eine Weile gebraucht, um das hier
zu finden!« Der Jadedolch, noch nass und glitzernd vom Regen, liegt in seiner Hand.
»Gabriel! Vorsicht!«, rufe ich, während Damien direkt auf den knienden Seelenseher zugeht. »Es ist Tanas!«
Gabriel erhebt sich, offenbar um sich ihm entgegenzustellen. Doch ehe Damien den Priester mit seinem
Dolch angreift, bleibt er stehen, richtet seine toten, schwarzen Augen auf mich und lacht, sein unheiliges Gackern hallt durch das Kirchenschiff. »Meine liebe Genna, du irrst dich gewaltig … Ich
bin nicht Tanas.«
Verwirrt starre ich ihn an. Er muss
Tanas sein. Dieser schwarzäugige Junge war in all meinen Schimmern präsent. Wie ein dunkler Schatten durchzieht sein Wesen meine früheren Leben.
In dem Moment werde ich tiefer in die schwarzen Tümpel seiner Augen hineingesogen und erhasche einen erschreckenden Blick in seine dunkelsten Abgründe. Unerwartet blitzen eine Reihe von Gesichtern vor mir auf: der Kopfgeldjäger, der von Hiamovis Pfeil vom Pferd geschossen wurde … der römische Soldat in der roten Tunika, der mit seinem Speer den Wald durchsuchte … der Roundhead, der mit seiner doppelendigen Hellebarde Williams Seite durchbohrte … der Tletl-Gefolgsmann, der das Opferritual vollenden wollte, bis ein Klumpen geschmolzenes Gestein seinen Schädel verbrannte …
Erst jetzt sehe ich, wer Damien wirklich
ist und in meinen früheren Leben war. Nicht der US-Marschall, nicht der römische Zenturio, nicht der Roundhead mit dem Breitschwert, nicht einmal der Hohepriester. – Nein, keiner von diesen: vielmehr immer die rechte Hand des Inkarnaten-Führers. Kein Wunder, dass die Obsidianklinge ihn nicht getötet hat.
»Aber … w-wer ist dann Tanas?«, stottere ich, während Furcht durch meine Adern kriecht. Auf einmal bemerke ich, wie merkwürdig alles in der Kirche ist. Alle Blumen sind welk. Die Votivkerzenstummel im Ständer sind aus geschwärztem Wachs. Das lateinische Zitat auf der Kanzel lautet: »Wo Gott eine Kirche hat, da hat der Teufel seine Kapelle.
« Und am aufschlussreichsten von allem ist das Kruzifix über dem Altar.
Diese Kirche ist nicht nur einfach verlassen, sie ist auch entweiht
. Sie ist längst kein geheiligter Boden mehr. Kein Wunder, dass die Seelenjäger unversehrt hier eindringen konnten.
Dann überkommt mich eine schreckliche Erkenntnis: Der Priester
hat die Türen nicht verschlossen, um diese Jäger draußen zu halten …
Als mein Blick auf die Kreidesymbole unten am Boden fällt – ein großes umgekehrtes Pentagramm, umgeben von okkulten Symbolen und finsteren Darstellungen von Skorpionen und Skarabäuskäfern –, lächelt Damien grausam. »Oh, Genna«, verkündet er. »Ich bin nicht Tanas … Ich diene
Tanas.«
Und mit einer Verbeugung dreht er sich um und hält Gabriel den Jadedolch hin.
»NEIN!
«, schreie ich und weiche vor Entsetzen gegen den Altar zurück. Ich klammere mich daran fest, der Boden unter meinen Füßen scheint nachzugeben. »Das kann
unmöglich wahr sein … Sie sind doch der Seelenseher …«
Aber der Priester nimmt den Jadedolch bereitwillig von Damien entgegen. Dann schleudert er die Sonnenbrille von sich und enthüllt mir sein wahres Gesicht. Ein Schrei dringt aus meiner Kehle, als sich der Blick seiner Schlangenaugen in meine bohrt – dunkel, wirbelnd und unergründlich.
Ich versinke in deren ewiger Dunkelheit.