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»Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …
Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …
Rura, rkumaa, raar ard ruhrd …«
Das hypnotische Gemurmel uralter Worte holt mich zurück. Meine Augenlider flattern, und über mir erkenne ich verschwommen eine niedrige, gewölbte Decke. Zerbröckelnde Kalksteinsäulen, in die Reliefs grotesker Gesichter eingemeißelt sind, stützen die Decke ab, während im flackernden Licht schwarzer Kerzen verzerrte Schatten über die Steinwände huschen. Die Ziegelwände sind mit archaischen Symbolen und umgekehrten Pentagrammen beschmiert, ähnlich dem am Boden der entweihten Kirche. Der schwere, süßliche Duft von Kerzenwachs liegt in der feuchten Luft und macht mich ganz benommen, während die skandierenden Stimmen in meinen Ohren widerhallen.
Offenbar befinde ich mich in einer mittelalterlichen Krypta. Mein Körper liegt auf der flachen Deckplatte eines Marmorgrabes, deren glatte Oberfläche so kalt und weiß wie gebleichte Knochen ist. Die Seelenjäger sind in einem Halbkreis am Fuße des Grabes versammelt, ihre Köpfe sind gebeugt, ihre Gesichter durch Kapuzen verdeckt. Sie tragen jeweils eine Kerze, das heiße Wachs läuft ihnen wie schwarzes Blut über die Finger.
Während sie völlig in ihr Ritual versunken scheinen, schaue ich mich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Doch als ich meinen Kopf drehe, blicke ich direkt in ein hageres Gesicht mit toten, weißen Augen und unterdrücke einen Entsetzensschrei. Das aschfahle Gesicht starrt mich an, blind und stumm. Die Haut ist wachsartig, die Lippen eingefallen und die langen, weißen Haare kräuseln sich um die faltigen Ohren. Als mein erster Schreck nachlässt, wird mir klar, dass der alte Mann auf dem benachbarten Marmorgrab tot ist.
Dann bemerke ich voller Entsetzen, dass seine Brust aufgeschlitzt ist und sein Herz herausgerissen wurde. Dies ist der schreckliche Opfertod, der auch mich erwartet. Das Ritual, vor dem Phoenix mich bis jetzt bewahrt hat. Das meine Seele für immer auslöschen wird.
Mir wird klar, dass diese verstümmelte Leiche die sterbliche Hülle von Gabriel, dem Seelenseher, sein muss. Tanas hat ihn vor mir erreicht und dieses Ritual durchgeführt, damit der Seher nie mehr wiedergeboren werden konnte.
Die Beschwörungsformeln werden abrupt unterbrochen, und die Seelenjäger starren mich aus ihren kohlschwarzen Augen an. Ihr unheiliger Blick lässt mein Blut gefrieren. Sie wirken wie aus dem Grab auferstandene Leichen. Einer von ihnen hat rote, fächerförmige Verbrennungen an Hals und Gesicht, und ich erkenne in ihm den einen Jäger wieder, der im Steinkreis vermeintlich durch den Blitzschlag getötet wurde.
Nacheinander löschen die Kapuzenträger nun die Flammen ihrer Kerzen zwischen Daumen und Zeigefinger, wodurch sie die Gruft in noch tiefere Dunkelheit tauchen.
»Es ist Zeit, dein Licht auszulöschen, Genna«, höhnt Damien, während er die Flamme seiner Kerze erstickt.
Aufgerüttelt erhebe ich mich von der Marmorplatte, aber sofort packen mich die Jäger an Armen und Beinen und halten mich fest. Während ich mich in ihrem Griff winde, taucht Tanas aus der Dunkelheit auf. Er trägt nun eine Kutte mit Kapuze, die sein zerfurchtes Gesicht in tiefe Schatten hüllt. Obwohl er nicht mehr die gleichen hohen Wangenknochen und die scharfe Hakennase wie der Hohepriester hat, sind seine Augen nach wie vor so schwarz und hart wie Obsidian.
»Auf diesen Augenblick warte ich bereits eine Ewigkeit«, stößt Tanas mit rauer Stimme hervor. Ein sensenähnliches Lächeln macht sich auf seinen dünnen Lippen breit, und ich erschauere angesichts des Bösen.
Während er mich im Griff seiner Jäger zurücklässt, geht er hinüber zu einem in die Wand gemeißelten Steinaltar, wo eine Gottheit mit katzenähnlichen Augen und scharfen, spitzen Reißzähnen thront. In ihrem fauchend geöffneten Maul brennt eine schwarze Kerze, das geschmolzene Wachs fließt an der Zunge der Gottheit herunter und tropft in einen silbernen Kelch. Tanas kniet vor dem Altar nieder, holt den Jadedolch hervor und ritzt sich tief in seine offene Handfläche. Dann ballt er seine Hand zu einer Faust und lässt sein Blut in den Kelch tropfen, wo es sich mit dem geschmolzenen Wachs vermischt, während er in einer uralten Sprache skandiert: »Ruq haq maar farad ur rouhk ta obesesh
Ich habe keine Ahnung, was diese geheimnisvollen Worte bedeuten, aber ich spüre ihre zutiefst zerstörerische Kraft. Die Furcht hält mein Herz mit eisiger Faust umklammert, ich wehre mich noch heftiger und trete nach meinen Häschern. Doch die Jäger sind stark und halten mich auf dem Marmorgrab fest, während Tanas den Kelch in die Hand nimmt und ihn zu mir trägt. Er packt meinen Kiefer, zwingt mich, den Mund zu öffnen, dann legt er mir den silbernen Kelch an die Lippen und gießt mir die bittere Flüssigkeit in den Rachen. Ich spucke sie ihm ins Gesicht.
Mürrisch wischt Tanas den zähflüssigen Trank mit dem Rücken seiner knochigen Hand weg. »Ich würde das trinken, wenn ich du wäre«, knurrt er. »Der Schmerz wird nicht mehr ganz so unerträglich sein. Denn du wirst lange genug leben, um zu sehen, wie dir das Herz herausgerissen wird!«
Er gießt mir den Rest der Flüssigkeit in den Mund, presst mir dann eine Hand über die Lippen und verschließt mir die Nase. Gegen meinen Willen schlucke ich den scharfen Trank. Spuckend und hustend spüre ich, wie er meine Kehle verbrennt und meinen Magen versengt.
Tanas lässt mich los. Die anderen Seelenjäger folgen seinem Beispiel.
Ich versuche mich zu erheben, zu kämpfen, zu fliehen. Aber meine Glieder fühlen sich jetzt schwer und wie gelähmt an. Mein Herz pocht wild und meine Ohren klingeln. In meinem Blickfeld beginnt alles zu verschwimmen, leuchtende Spurlinien von Kerzenlicht tanzen vor meinen Augen.
Tanas kehrt zum Steinaltar zurück, stellt den Giftkelch ab und ergreift den Jadedolch. Während ich hilflos auf dem Grab liege, hält er der Gottheit die gebogene grüne Klinge zum Segen hin, bevor er zu mir zurückkehrt. Die Jäger neigen ihre Köpfe und nehmen den rituellen Gesang wieder auf: »Ra-Ka! Ra-Ka! Ra-Ka! «, wobei ihre Stimmen in meinem delirierenden Zustand wie hämmernde Trommeln klingen.
Das Opfermesser hoch über meine Brust emporgehoben, nimmt Tanas die Beschwörung wieder auf, die er vor all den Jahrtausenden begonnen hat …
»Rura, rkumaa, raar ard ruhrd … «
Seine unheilvollen Worte dringen in meinen Kopf. Wie Schlangengift sickern sie in meine Ohren und vergiften meine Seele …
»Qmourar ruq rouhk ur darchraqq … «
Während ich zunehmend in seinen Bann gerate, wird mein Körper immer schwerer und schwerer, die Bindung meiner Seele an ihre Hülle schwächer und schwächer …
»Ghraruq urq kugr rour ararrurd … «
Als ob ein Skalpell die Verbindung zwischen meinem Körper und meiner Seele durchtrennt hätte, drifte ich weg. Ohne Anker … desorientiert … und körperlos. Meine Verbindung zum Leben und zu all meinen früheren Leben scheint sich aufzulösen, davonzuwehen wie Staub im Wind …
»Qard ur rou ra ra datsrq, Ra-Ka … «
Losgelöst von meiner körperlichen Gestalt sehe ich mich selbst wie von oben. Ein junges Mädchen mit dunklen Locken und bernsteinfarbener Haut liegt schlaff auf einer kahlen, weißen Marmorplatte. Die fünf vermummten Jäger postieren sich nun an jedem Ende des umgekehrten Pentagramms, das mit Kreide auf den Steinboden gezeichnet ist. In der Mitte steht Tanas, das Jademesser glänzt in seinen zitternden Händen, während er die letzte Zeile des seelenvernichtenden Zaubers rezitiert …
»Uur ra uhrdar bourkad, RA-KA! «
Mit einem Blick kalter Gier stößt Tanas die Klinge nach unten. Ein blendender blaugrüner Blitz explodiert wie ein Stern über mir, und das ohrenbetäubende Geräusch von tausend zersplitternden Glasscheiben hallt durch die Krypta.
Dann … Stille … und Dunkelheit.