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Bin ich tot?
Ich fühle mich nicht tot. Andererseits habe ich keine Ahnung, wie sich der Tod anfühlt. Oder doch …?
Schwache Erinnerungen an die Sphäre steigen langsam in mir auf. An diesen Ort zwischen den Leben. An diese Wirklichkeit jenseits unserer wahrgenommenen Realität. Diese ewige Weite, in der die Seelen wohnen, bis sie wiedergeboren werden.
Dieses helle, allumfassende Licht …
Aber wenn ich wirklich körperlos bin, warum spüre ich dann immer noch etwas – fühle die blauen Flecken, die Schmerzen in meinen Muskeln, schmecke das bittere Brennen in meiner Kehle, höre das Rasseln meines Atmens?
Vielleicht sind dies noch Bruchstücke meines früheren Lebens ? Phantomhafte Empfindungen, die mit der Zeit verblassen werden. Wenn es hier so etwas wie Zeit überhaupt gibt …
Während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, bemerke ich winzige glühende Punkte am Firmament. Rot wie sterbende Sterne.
Dieses Reich ist kälter als jedes, an das ich mich erinnere. Und es ist modrig-feucht.
Ein schmerzhaftes Stöhnen ertönt. Beißender Rauchgeruch liegt in der Luft. Harter Stein drückt gegen meinen Rücken. Bin ich in der Hölle?
Dann leuchtet ein helles, weißes Licht vor meinen Augen auf … und offenbart die verwüstete Szenerie.
Ich liege immer noch auf dem Marmorgrab. Das grelle Licht stammt vom Display eines Handys. Die winzigen Glutpunkte rühren von den ausgeblasenen Kerzen her, das Stöhnen von auf dem Boden liegenden Jägern.
Tanas, dem ein dünner Blutstrom aus seinem rechten Nasenloch tropft, wurde gegen den Altar geschleudert und ist an seinem Sockel zusammengesackt. Er hält einen Jadesplitter in seiner schlaffen Hand, der Rest des rituellen Dolches liegt in Scherben auf dem Boden.
Was ist passiert? Hat sein Ritual versagt und meine Seele nicht zerstört?
Ein Blick auf meine Brust zeigt mir, dass meine Bluse zerrissen ist, doch da ist weder Blut noch eine Wunde. Nur der blaue Glanz meines Amuletts strahlt durch den Riss in meinem Oberteil …
Mein Guardian-Stein!
Selbst nach dem Tod hat Phoenix mich noch beschützt.
Erschüttert und erleichtert zugleich umklammere ich das kostbare, lebensrettende Amulett mit meiner Hand. Aber ich kann das Vibrieren darin nicht mehr spüren, und ich bemerke einen Riss in der polierten Oberfläche des Edelsteins. Welche göttliche Kraft auch immer das Amulett einmal besessen hat, jetzt ist sie verbraucht.
Der Strahl der Handytaschenlampe zuckt unregelmäßig, während Damien sich an einer Säule hochzieht. Dabei wird in der hinteren Ecke der Krypta kurz eine steile Steintreppe beleuchtet. Ich kämpfe gegen die Wirkung des Tranks, rutsche von der Grabstätte und taumle in Richtung des Freiheit verheißenden Ausgangs.
»Wo willst du denn hin?«, knurrt Damien und taumelt mir in den Weg.
Langsam erheben sich nun auch die anderen Jäger, um mir den Weg zu versperren.
Verängstigt weiche ich zurück, bis mein Rücken auf eine kalte Steinmauer trifft. Hier unten gibt es nur das Licht von Damiens Handy, und die Dunkelheit dringt von allen Seiten auf mich ein. In meiner immer noch verzerrten Wahrnehmung sehen die Seelenjäger mit ihren Kapuzen und hungrigen Augen wie merkwürdige Ninjas aus, die sich in den Schatten verstecken …
»Die Ninja sind dein größter und tödlichster Feind, Miyoko-san«, erklärt mir mein glatzköpfiger Sensei, während er durch das verdunkelte Dojo schreitet. Die Nacht draußen ist still, abgesehen vom sanften Tropfen eines Brunnens im Zen-Garten vor unserem Übungsraum. »Doch obwohl sie unsichtbar erscheinen mögen, sind sie nicht unbesiegbar.«
»Aber wie bekämpft man einen Feind, den man nicht sehen kann?«, frage ich auf der Reisstrohmatte in der Mitte des Dojos kniend. Meine Hände ruhen leicht auf der Seide meines elfenbeinweißen Kimonos, das beruhigende Gewicht meines Samurai-Schwertes wird von meinem Obi-Gürtel fest an meiner Hüfte gehalten.
»Die Augen mögen die Fenster zur Seele sein, aber sie sind nicht der einzige Sinn, mit dem wir sehen«, antwortet mein Meister aus einer fernen Ecke. »Nachts müssen deine Ohren und Hände zu deinen Augen werden. Lass dich von deinen anderen Sinnen leiten … Lausche dem Gesang eines Schwertes, dem Pfiff eines Shuriken, dem Knacken einer Faust … Fühle die Gewichtsverlagerung deines Gegners, sein plötzliches Anspannen eines Muskels oder das leichte Verschieben eines Fußes … Schnuppere sogar in der Luft nach subtilen Düften von Parfüm oder Schweiß! Für den trainierten Krieger sind all dies klare Anzeichen dafür, dass ein Angriff bevorsteht.«
Ich spüre einen leichten Luftzug von hinten und bücke mich sofort nach vorne. Das Bokken meines Sensei verfehlt um Haaresbreite meinen Kopf und streift meinen Kanzashi-Kopfschmuck. Ich seufze erleichtert. Das hölzerne Trainingsschwert hätte mich zwar nicht geköpft, aber mit Sicherheit bewusstlos geschlagen!
»Gut, Miyoko-san«, lobt mein Sensei, plötzlich ganz in meiner Nähe. Er steckt hörbar sein Schwert in die Scheide, und ich entspanne mich, froh, seine Prüfung bestanden zu haben.
Aber dann wird das Rauschen des Brunnens hinter mir leiser, als ob das Geräusch von etwas verdeckt würde. Ein Fuß drückt sanft die Tatami-Matte ein, gefolgt von einem leisen Rascheln des Baumwollstoffs, und ich bekomme einen harten Tritt in den Rücken verpasst. Vorwärts geschleudert ziehe ich meinen Kopf ein, rolle mich ab und springe auf.
Noch während ich mich von dem Schlag erhole, bringe ich meine Hände in Verteidigungsstellung und spähe in der Dunkelheit nach meinem betagten Sensei. Er ist ein alter Mann, aber er tritt zu wie ein Maultier!
»Nur weil du einen Angriff abgewehrt hast, ist der Kampf noch lange nicht vorbei, Miyoko-san«, rügt er. Ich wirble herum, während seine Stimme aus allen Richtungen des Dojos widerzuhallen scheint. »Erinnere dich an Zanshin – das Bewusstsein des Kriegers. Nachdem du den Kampf gewonnen hast, ziehe den Gurt deines Helms straffer!«
Eine Faust saust geisterhaft durch die Dunkelheit. Nur das Flattern der Gi-Jacke meines Sensei warnt mich vor dem Angriff. Ich drehe mich zur Seite und spüre, wie seine knotigen Knöchel meine Wange streifen, das beabsichtigte Ziel jedoch verfehlen. Ich kontere mit einem eigenen Schlag … und treffe nur Luft.
»Die Schlacht ist nicht zu Ende, wenn du gewonnen hast«, spottet mein Sensei und stößt mir mit einer Speerhand in die Rippen. »Sie endet erst, wenn man in der Konzentration nachlässt!«
Blitzschnell trete ich mit meinem Fuß in die Richtung seiner körperlosen Stimme, aber ich erwische ihn auch diesmal nicht. Frustriert balle ich meine Fäuste und bereite mich auf den nächsten unsichtbaren Angriff vor.
»Aber wenn Ninja für mich unsichtbar sind«, frage ich, »woher weiß ich dann, wohin ich schlagen und treten soll?«
Mein Sensei flüstert mir direkt ins Ohr, womit er mir einen Riesenschrecken einjagt. »Schlage mit der Seele zu, Miyoko-san, dann wirst du niemals danebentreffen!«