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Eine Hand packt meinen Arm. Reflexartig schlinge ich ihn um den des Angreifers und reiße ihn nach oben, bis ich ein scharfes Schnappen höre. Der unsichtbare Jäger heult auf vor Schmerz. Geleitet von seinen Schreien verpasse ich ihm einen harten Frontkick vor die Brust. Er stürzt rückwärts gegen eine Säule und sackt zu Boden. Ich spüre, wie die anderen Jäger mich anstarren, verblüfft über die brutale Effizienz, mit der ich einen von ihnen ausgeschaltet habe.
Auch ich selbst bin beeindruckt von meinen neu entdeckten Fähigkeiten. So wie mich meine Inkarnation als Cheyenne mit fantastischen Reitkenntnissen versorgt hat, so sind offenbar mit der Erinnerung an mein Leben als Samurai-Kriegerin auch meine Kampfkunstfähigkeiten wieder zurück.
Phoenix hatte recht … Ich habe den Geist einer Kriegerin!
Gestärkt durch meinen Schimmer, und weil die betäubende Wirkung des Tranks langsam nachlässt, bemerke ich die Faust, die auf mein Gesicht zufliegt. Mit einer raschen Drehung weiche ich dem Schlag aus, und die Fingerknöchel der Jägerin knirschen stattdessen gegen die Ziegelmauer. Ich ziehe mein Knie hoch und treffe sie in den Bauch. Dann packe ich ihre Haare und stoße sie mit dem Kopf voran gegen die Wand. Sie sinkt in einer Wolke von Ziegelstaub zu Boden.
Ein dritter Jäger, nach seiner Größe zu urteilen ein Schlägertyp, würgt mich von hinten. Wenige Augenblicke zuvor wäre ich völlig hilflos gewesen. Aber jetzt sagt mir mein Samurai-Instinkt, dass ich meine Beine hoch in die Luft schwingen, meinen Körper drehen und mein ganzes Gewicht einsetzen soll, um Ura-maki-komi auszuführen … den Opferwurf. Während meine Beine wieder nach unten schwingen, wird der Schläger über meine Schultern geschleudert. Ich lande auf ihm und presse die Luft aus seinen Lungen. Ein gut gezielter Schlag in seinen Solarplexus sorgt dafür, dass er für eine Weile unten bleibt.
Ich springe auf und sehe mich sofort der vierten Jägerin gegenüber. Während Damien mich mit dem Lichtkegel seines Handys blendet, bemerke ich in der Dunkelheit ein Aufblitzen von Stahl, offenbar ist es das große Mädchen mit den Schlagringen und dem Stahlrohr, das mir und Phoenix schon einmal zum Verhängnis geworden ist. Aber damit ist jetzt Schluss. Unbeeindruckt von ihrer Schnelligkeit und Stärke trete ich dem Mädchen mit einem Roundhouse-Kick in die Rippen …
Aber sie packt mein Bein und donnert mir das Ende des Stahlrohrs auf den Oberschenkel. Die Zähne gegen den Schmerz zusammenbeißend, springe ich hoch und trete mit dem anderen Fuß zu, um ihr Kinn zu erwischen. Aber sie ist so schnell wie eine Viper und beugt sich wie ein Schilfrohr, um meinem Angriff auszuweichen.
Ich überschlage mich in der Luft, lande unbeholfen auf den Füßen und mein taubes Bein gibt unter mir nach. Während ich die Balance zu verlieren drohe, stürzt sich das Mädchen auf mich und stößt mich gegen einen Pfeiler. Sie drückt mir ihr Stahlrohr quer gegen die Kehle, hebt mich damit vom Boden hoch und würgt mich.
Trotz meiner neuen Fähigkeiten habe ich offenbar meine Meisterin gefunden. Nach Luft schnappend umklammere ich ihre Finger, aber es nützt nichts – das Stahlrohr ist wie ein eiserner Schraubstock. Mein Schädel beginnt zu pochen und meine Lungen schreien nach Luft. Trotzdem bin ich nicht so hilflos wie auf Schloss Arundel. In Erinnerung an meine Samurai-Ausbildung ramme ich dem Mädchen eine Speerhand in den unteren Teil ihrer eigenen Kehle und sie japst nach Luft. Für einen Augenblick lockert sie ihren schraubstockgleichen Griff, ich verpasse ihr einen Kniestoß in den Bauch, der sie rückwärts stolpern und das Stahlrohr in der Dunkelheit zu Boden klappern lässt. Ich wirble herum und verpasse ihr einen letzten Hakentritt gegen den Kopf. Mit einem schmerzerfüllten Grunzen sackt das Mädchen zu Boden.
»Das ist für Phoenix!«, knurre ich … und höre ein langsames Klatschen.
»Beeindruckend!«, gibt Damien zu, indem er einen Blick auf die am Boden liegenden Jäger wirft. »Aber du bist nicht die Einzige, die sich an solche Kampfkünste erinnert … Miyoko-san!«
Mit dem Telefon in der Hand nimmt Damien eine Katzenfuß-Stellung ein: Knie gebeugt, linkes Bein nach vorne, Fußballen leicht den Boden berührend, die Hände wie Krallen ausgestreckt. Ich erkenne die Haltung als Neko-ashi-dachi , die bevorzugte Verteidigungshaltung der berüchtigten Ninja …
»Tora Tsume!«, fauche ich, als sich der Ninja-Assassine wie ein sprungbereiter Panther vor mir duckt. Der Rest seines Killerclans liegt außer Gefecht und blutend um den Zen-Garten des Drachentempels, wo der Vollmond silbern auf die geharkten Kieselsteine fällt. Zwischen zwei Felsbrocken glänzt die stählerne Klinge meines Katana-Langschwerts, verlockend nah, aber unerreichbar.
»Miyoko-san«, spottet der Ninja, »du kämpfst gut … für eine Samurai-Kriegerin!«
Schwer atmend, weil ich gerade einen tödlichen Hinterhalt abgewehrt habe, kontere ich: »Und du wirst gleich gut sterben … für einen Ninja!«
Ich hechte zu meinem Schwert. Aber Tora Tsume springt mir in den Weg. Mit den an seinem Handschuh befestigten Shuko-Tigerkrallen schlägt er mir ins Gesicht und ritzt blutige Linien in meine Wange. Dann versucht er blitzschnell mit seiner anderen Krallenhand meine Kehle zu zerfleischen. Doch ich blocke den Angriff ab, ergreife seinen Arm, drehe mich und werfe ihn über meine Schulter. Als er hart auf den Boden klatscht, wirbeln Kies und Staub auf. Bevor er sich von dem Aufprall erholen kann, schnappe ich mir mein Katana, wirble herum und hole aus, um sein erbärmliches Leben zu beenden.
»Gnade!«, schreit Tora Tsume, kauert sich zusammen und schirmt sein schwarzäugiges Gesicht ab. »Ich bin nur ein Diener Tanas’ … gezwungen, seinen Befehlen zu folgen. Ich flehe dich an! Zeige mir den Weg zurück zum Licht!«
Angesichts dieser schwachen und wehrlosen Seele zu meinen Füßen zögere ich mit meinem Hieb. Ich fange sogar an, Mitleid mit ihm zu haben …
Da trifft mich eine Ladung Metsubushi-Pulver im Gesicht. Ich Närrin! Tora Tsume muss eine versteckte Eierschale in seiner Hand zerquetscht und mir den Inhalt ins Gesicht geblasen haben. Die ätzende Mischung aus Asche, Muschelkalk und Sand macht mich vorübergehend blind …
Ich taumle rückwärts und halte mir die Hände vors Gesicht.
»Du weißt, wie es letztes Mal ausgegangen ist«, höhnt Damien, wobei er mir weiter mit seinem Handy direkt in die Augen leuchtet. »Warum ersparst du dir nicht einfach dieses ganze Leid und ergibst dich mir gleich?«
Während er sich nähert, bin ich entschlossen, mich diesmal nicht von ihm austricksen oder schlagen zu lassen. Ich habe meine Lektion gelernt, niemals einem Ninja zu vertrauen.
»Ich brauche nicht zu sehen, um dich zu stoppen!«, antworte ich und lande einen harten Crescent-Kick. Mein herabsausender Fuß tritt ihm das Telefon aus der Hand. Es klappert zu Boden, die Taschenlampe erlischt und taucht die Krypta erneut in pechschwarze Dunkelheit. Mein Vorteil ist jedoch nur von kurzer Dauer.
»Ich auch nicht«, sagt Damien mit einem grausamen Lachen und erinnert mich daran, dass seine Augen die Dunkelheit bevorzugen.
Während ich das Nachbild des Taschenlampenkegels auf meiner Netzhaut wegzublinzeln versuche, deuten leise scharrende Schritte und Kleiderrascheln auf einen drohenden Angriff. Ich ducke mich instinktiv und eine unsichtbare Faust fliegt über mich hinweg. Doch es war nur eine Finte, und ich krache direkt in einen Kniestoß von unten. Hart am Unterkiefer getroffen, explodieren Sternchen vor meinen Augen und ich taumle.
Damien lacht in der Dunkelheit. »Ich werde es genießen, dich erneut in Stücke zu reißen. Ich wünschte nur, ich hätte noch meine Shuko-Tigerkrallen!«
Ich zittere, wenn ich an meinen schicksalhaften und blutigen Kampf mit Tora Tsume denke. Es ging damals nicht gut aus. Und wenn ich diesen Kampf hier überleben soll, benötige ich das gesamte Können Miyokos. Ich ziele mit einem Side-Kick in die Richtung, aus der Damiens Stimme kam … aber mein Fuß stößt ins Leere.
»Hier drüben!«, lacht er und kontert mit einem brutalen Schlag gegen meine Rippen.
Ich stolpere rückwärts gegen eine Säule und Staub rieselt von der Decke auf mich herab. Da ich einen weiteren Angriff erahne, hebe ich meinen Unterarm und blockiere seinen rechten Haken. Angesichts Damiens Stärke liegt überraschend wenig Kraft in seinem Schlag. Dann erinnere ich mich an seine Stichwunde und verpasse ihm sofort einen Stoß gegen seine Schulter – er heult auf vor Schmerzen und weicht zurück.
Seine Schwäche ausnutzend gehe ich zum Angriff über, wobei ich dem Scharren seiner zurückweichenden Füße folge. Damien erholt sich jedoch rasch wieder und wehrt meine Attacke ab. Als erprobte Gegner schenken wir uns nichts, tauschen erbitterte Schläge aus. In mir schüre ich meine ganze Wut und Frustration, meine Empörung und meinen Kummer, jeder Schlag und jeder Tritt ist Vergeltung für den Mord an Phoenix.
Doch obwohl ich möglicherweise die Kampftechniken meines früheren Lebens beherrsche, habe ich längst nicht die Ausdauer Miyoko-sans. Der Kampf fordert schnell seinen Tribut. Ich japse nach Luft, meine Muskeln ermüden, und ich kann nicht mit Damien mithalten, der viel stärker und fitter ist als ich. Als ich meinen Rhythmus verliere, versetzt er mir einen Tiefschlag in den Magen, gefolgt von einem überraschenden Aufwärtshaken, der mein Kinn erwischt und mich zu Boden schickt. Angeschlagen und geschwächt versuche ich wegzukriechen, meine Finger krallen sich in den Staub. Aber Damien packt mich am Fußknöchel und zerrt mich zurück, um mich weiter zu traktieren.
Am Ende meiner Kräfte ist mein Kampf mit Tora Tsume so gut wie verloren. Also rolle ich mich zu seinen Füßen zusammen. »Bitte … aufhören … Gnade!«, flehe ich und klinge genau wie der berüchtigte Ninja, der er einst war.
Damien steht über mir und sagt verächtlich: »Enttäuschend … du bist keine Miyoko-san.« In dem Moment raschelt etwas Stoff, offenbar senkt er seine Deckung …
Und genau in diesem Augenblick schleudere ich ihm eine Handvoll Ziegelstaub in die Augen!
Von dem brennenden Staub geblendet, kann er meinem Fußfeger nicht ausweichen und kracht mit einem schmerzhaften Aufstöhnen zu Boden. Ich setze mit einem Axe-Kick auf seine Brust nach. Seine Rippen brechen mit einem lauten Knack .
Ich warte nicht, bis er sich wieder erhebt, sondern springe auf, flitze um ihn herum und taste mich an der Wand entlang, bis ich die Stufen erreiche. Jeweils zwei auf einmal nehmend, entkomme ich der Krypta und lasse die Finsternis und ihre Anbeter hinter mir zurück.