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Ich stolpere zurück ins Licht. Die Kirche ist kalt und verlassen, der Regen trommelt unablässig auf das Bleidach und strömt durch das zerbrochene Buntglasfenster herein. Ich taumle den Mittelgang hinunter und stoße dabei immer wieder gegen die Kirchenbänke.
Die Steinmauern scheinen sich zusammenzuziehen und wieder auszudehnen, als ob die Kirche selbst atmen würde, der Boden unter meinen Füßen schwankt wie ein Schiffsdeck. Mein Blutkreislauf muss noch immer den Ritualtrank Tanas’ verarbeiten, seine toxische Wirkung durchspült mich in Wellen. Ich zwinge mich zum Erbrechen. Das hilft mir dabei, meinen Kopf wieder ein wenig klar zu kriegen.
Ich eile zum Hauptportal und schiebe das Gesangbuchregal beiseite. In meinem benommenen Zustand habe ich allerdings vergessen, dass Tanas die Tür verschlossen und immer noch den Schlüssel hat. Draußen weht ein starker Wind, ich höre das leise Klappern einer Tür und erinnere mich an den verborgenen Eingang im nördlichen Querschiff. Doch als ich in die Richtung steuere, lässt mich ein plötzliches Klingeln innehalten –
»Ist es das, was du suchst?«, tönt eine hämische Stimme von der Kanzel. Tanas lässt in seiner knochigen Hand einen Schlüsselbund baumeln. Aus seiner schmalen Nase fließt kein Blut mehr, aber seine aschfahlen Züge sind eingefallener und totenkopfartiger denn je. Das fehlgeschlagene Ritual hat ihm sichtlich zu schaffen gemacht.
Damien steht im Altarraum eine Stufe unterhalb seines Herrn, seine tintenschwarzen Augen tränen noch immer vom Ziegelstaub, eine Hand liegt über seinem angeknacksten Brustkorb. Sein blasses Gesicht hat einen bedrohlichen Ausdruck, er ist offenbar stinksauer, weil ich ihn mit seinem eigenen Ninja-Blendtrick geschlagen habe.
Tanas wirft die Schlüssel in die Mitte des Kreide-Pentagramms auf dem Boden. »Hier – sie gehören dir, wenn du sie willst«, schreit er.
Die Schlüssel sind natürlich nur ein Köder, wie Käse für eine Maus. Eine Falle. Inmitten des okkulten Symbols dürfte seine dunkle Macht sicher am stärksten sein. Aber welche Wahl habe ich? Mein Blick fällt auf das nördliche Querschiff. Ist die Tür dort noch offen? Soll ich mir lieber die Schlüssel schnappen oder zur Tür rennen … beides ist ein gewaltiges Risiko.
Vorsichtig bewege ich mich im Mittelgang zurück in ihre Richtung, wobei ich sowohl Tanas als auch Damien im Auge behalte.
Keiner von beiden rührt sich. Damien steht auf den Stufen des Altarraums wie ein junger Bräutigam, der auf seine Braut wartet, während sie den Gang entlangschreitet und der Priester ihr zulächelt. Nur fühlt es sich hier gerade weniger wie eine Hochzeit an, sondern eher wie eine Beerdigung.
Als ich mich dem Punkt nähere, an dem sich Querschiff und Längsschiff kreuzen, spannen sich Damiens Muskeln.
Offenkundig erwartet er, dass ich zum Nordausgang flüchte. Auch Tanas befeuchtet schon begierig seine dünnen Lippen, wie eine Schlange, die sich aufs Zustoßen vorbereitet.
Also tue ich das, womit beide rechnen, und sprinte auf die Tür zu. Aber sobald Damien sich zum nördlichen Querschiff bewegt, renne ich zurück zum Pentagramm. Als ich in den fünfzackigen Stern eintrete, greife ich nach den Schlüsseln und fühle mich plötzlich … unendlich schwach. Wie eine Umkehrung des Steinkreises saugt das Pentagramm meine Kräfte aus. Es ist, als hätte ich meinen Samurai-Geist in der Krypta zurückgelassen und wäre wieder ein ganz normaler Teenager, ohne die Kräfte aus den Erinnerungen der Schimmer.
Blitzschnell ist Damien bei mir, biegt mir die Arme auf den Rücken und schlingt einen Arm um meine Kehle. In dem energiezehrenden Symbol gefangen, bin ich ihm wehrlos ausgeliefert, während Tanas langsam von der Kanzel herabsteigt und auf mich zukommt.
Als er das Pentagramm betritt, streckt er eine krallenartige Hand nach meinem Nacken aus, das Kratzen seiner Fingernägel lässt meine Haut frösteln, als ob mich eine Leiche streifen würde. Dann schnappt er sich das Amulett um meinen Hals und zerreißt die Kette.
»Das hat also das Ritual verhindert!« Voller Abscheu starrt er auf den zerbrochenen Guardian-Stein. »Macht nichts«, grinst er und wirft ihn beiseite. »Jetzt werden wir vollenden, was wir begonnen haben.« In seiner anderen Hand hält er den verbliebenen Jadesplitter, dessen Spitze scharf und nadeldünn ist. Ohne das Amulett habe ich nichts, was mich vor dem Ritual schützen könnte.
»Rura, rkumaa, raar ard ruhrd … «, intoniert Tanas sofort, seine Stimme schallt wie ein bizarres Gebet durch die Kirche. Auf meiner anderen Seite höre ich Damien murmeln: »Ra-Ka! Ra-Ka! Ra-Ka! Ra-Ka! «
Um mich herum beginnt sich alles wie ein irres Karussell zu drehen – Kanzel, Kirchenbänke und Altar. Das plötzliche Ablösen meiner Seele von meinem Körper fühlt sich an, als ob ich in einem Aufzug in die Tiefe rauschen würde, die Trennung erfolgt diesmal rascher und brutaler. Eine Welle der Verzweiflung überrollt mich. Nach all dem Fliehen, Kämpfen und Leiden wird Tanas nun doch seinen abscheulichen Sieg erringen. Er wird meine Seele und ihr Licht auslöschen … für immer .
Wie in einer verzerrten Vision sehe ich Tanas’ unergründliche Augen sich in wirbelnde schwarze Löcher verwandeln, und eine sich in dem zerbrochenen Buntglasfenster erhebende schattenhafte Gestalt. Als geflügelter Racheengel steigt sie auf den Altar hinab und huscht, während die Beschwörung ihren Höhepunkt erreicht, auf mich zu, um meine Seele zu holen –
Tanas schreit … ein dämonischer Schrei …
… als eine Obsidianspitze seine Brust durchbohrt. Blut spritzt aus seinem verzerrten Mund und er stürzt zu Boden. Damiens Umklammerung löst sich, und auch er sackt neben seinem sterbenden Herrn zusammen.
Ich stehe verwirrt und doch unverletzt im Zentrum des tödlichen Pentagramms. Ist das Ritual erneut fehlgeschlagen? Dann ergreift der geflügelte Engel meine Hand und zieht mich aus dem bösen Bann des Sterns.
»Phoenix! «, keuche ich, als mein Guardian erschöpft auf die Knie sinkt. Sein T-Shirt ist blutgetränkt und er sieht halb tot aus, aber er lächelt und seine Augen leuchten wieder wie Sterne.
»Das nenn ich mal verdammt knapp!«, bringt er mit einem schmerzerfüllten Lachen hervor.
»Du hast überlebt!«, schluchze ich, knie nieder und umarme ihn. »Aber wie
»Der Steinkreis hat mich gerettet«, stöhnt er. »Die Kraft des Lichts hat mich geheilt, jedenfalls genug, um –«
»Verflucht seist du! «, speit Tanas, der sich im Pentagramm in einer sich ausbreitenden Lache seines eigenen Blutes windet. Hilflos tastet er nach dem Jadesplitter. Meine Kraft kehrt zurück und ich trete den grünen Stein aus seinem Griff.
Er packt meinen Fuß, seine dürren Finger umschlingen meinen Knöchel wie eine giftige Ranke. »Noch eine Umdrehung des Lebensrades …«, stammelt er und starrt mich an, »und ich komme zurück, um deine Seele zu holen!«
Dann sackt sein Kopf zu Boden und sein Griff löst sich.
Ich trete seine Hand weg, aber Tanas fixiert mich weiterhin mit seinem eiskalten Blick.
»Ist er … tot ?«, flüstere ich, paralysiert von den dunklen, starrenden Tiefen seiner Schlangenaugen.
Phoenix nickt erschöpft. »So tot, wie er in diesem Leben nur sein kann.«
Ich spähe zu dem anderen bewusstlosen Körper im Pentagramm hinüber. »Was ist mit Damien? Und den anderen?«, frage ich besorgt.
Phoenix lehnt sich gegen das Ende einer Kirchenbank. »Sie sind keine Bedrohung mehr. Wenn Tanas stirbt, dann endet auch sein Einfluss auf seine Anhänger. Möglicherweise wird Damien sich nicht einmal mehr an seine wahre Natur erinnern.«
Ich wende mich überrascht Phoenix zu. »Du meinst, er wird sich an nichts von dem erinnern, was er getan hat?«
»Oh, er wird sich ganz gewiss erinnern. Damien wird von den dunkelsten Albträumen heimgesucht werden«, erklärt Phoenix ernst. »Aber die Seelenjäger werden jetzt alle ruhen … zumindest bis Tanas wiedergeboren wird.«
»Und wann wird das geschehen?«, frage ich.
»Nicht in diesem Leben«, beruhigt mich Phoenix. »Vielleicht nicht einmal im nächsten. Die Obsidianklinge wird Tanas’ böse Seele stark geschwächt haben. Er wird seine Wunden noch sehr lange lecken müssen.«
Ich blicke auf den beunruhigenden Blutfleck auf Phoenix’ T-Shirt. »Aber was ist mit dir?«
Phoenix lächelt schwach, als in der Ferne das Heulen von Sirenen ertönt. »Oh, mach dir keine Sorgen um mich … nur du bist wichtig.«
Er schlingt seine Arme um meine Taille, beugt sich näher heran, und für einen Moment denke ich, er wird mich gleich küssen. Dann legt er seinen Kopf auf meine Schulter, schließt die Augen, als wäre er bereit für einen tiefen Schlaf, und sinkt langsam zu Boden.