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»Ihrer Tochter droht jetzt keine Gefahr mehr, Mrs Adams«, verkündet DI Shaw. Die Polizeibeamtin sitzt mit einer Tasse Tee in der Hand in unserem Wohnzimmer. Sie hat eine mit mehreren Stichen genähte Wunde an der Stirn, der Bereich um ihre Augen ist dunkel von Blutergüssen, doch die Augen selbst leuchten hinter ihrer Brille wieder in einem freundlichen Grau.
Nervös hocke ich neben meiner Mutter auf der Sofakante, bereit, bei der geringsten Veränderung in Aussehen oder Verhalten der Kommissarin davonzulaufen. Eine blonde Polizistin steht an der Tür, und so athletisch sie auch erscheint, ich schätze ihre Chancen gegen DI Shaw nicht sehr hoch ein, falls diese sich wieder wandelt.
Detective Shaw nippt höflich an ihrem Tee, bevor sie die Tasse wieder beiseitestellt. »Nach Abschluss unserer Ermittlungen gehen wir davon aus, dass eine religiöse Sekte für den Anschlag auf den Clapham Market verantwortlich ist, ebenso wie für die Entführung und den damit einhergehenden Mordversuch an Ihrer Tochter. Hätte uns die aufmerksame alte Dame in Havenbury nicht verständigt, wären wir vielleicht zu spät gekommen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass der Rädelsführer – ein ketzerischer Priester – jetzt tot ist und alle seine Anhänger gestellt und verhaftet wurden.«
Das bezweifle ich sehr!
, denke ich. So sitzt mir zum Beispiel in diesem Augenblick die Inspektorin, die bis vor Kurzem selbst zu Tanas’
Gefolgsleuten gehörte, in unserem Wohnzimmer gegenüber. Aber ich halte den Mund, wohl wissend, dass mein Gefasel
über Seelenjäger keine Beachtung findet. Ich habe unzählige Male versucht zu erklären, was wirklich
passiert ist, und kein Mensch hat mich ernst genommen.
»Was ist mit diesem Jungen, Phoenix?«, fragt mein Vater, der wie ein paranoider Leibwächter dicht hinter mir steht. Seit ich nach Hause gekommen bin, hat mich mein Dad keine Sekunde aus den Augen gelassen.
»Sobald er das Krankenhaus verlassen kann, wird er in die Vereinigten Staaten abgeschoben«, informiert uns Detective Shaw.
»Was wird dort mit ihm geschehen?«, frage ich. Ich umklammere das zerbrochene Amulett in meiner Hand, seine glatte, abgerundete Form beruhigt mich und ist das einzige Andenken an meinen Guardian. Ich bin völlig verzweifelt, seit die Polizei in der Kirche aufgetaucht ist und uns beide getrennt hat. Phoenix wurde von einem Krankenwagen mit bewaffneter Eskorte abtransportiert, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Trotz meiner Bitten lassen sie mich ihn nicht besuchen, und anfänglich wusste ich nicht einmal, ob Phoenix seine Verletzungen überlebt hat.
»Das kann ich nicht sagen«, antwortet DI Shaw knapp. »Auf Grundlage deiner eigenen Aussagen wurde er bereits wegen Totschlags aus Notwehr angeklagt und verurteilt. Weil er jedoch noch unter das Jugendstrafrecht fällt, und angesichts der außergewöhnlichen Umstände, hat der Richter ihm eine Gefängnisstrafe erspart. Aber es ist allein Sache der US-Behörden zu entscheiden, was mit ihm nach seiner Rückkehr geschieht.«
»Phoenix hat mir das Leben gerettet
!«, rufe ich aus. »Warum behandeln Sie ihn wie einen Kriminellen?«
Meine Mutter legt ihre Hand auf mein Knie und tätschelt es sanft. »Weil er dich entführt und jemanden getötet hat«, erklärt sie in einem empörend herablassenden Tonfall, als würde sie einer Dreijährigen die Situation erklären.
»Er hat mir das Leben gerettet
!«, beharre ich. »Er ist mein
Beschützer! Warum will mir nur niemand glauben?«
»Genna, wir verstehen
, wie verzweifelt du bist«, versichert mir mein Dad und drückt mir die Schulter. »Du hast eine schreckliche Zeit durchgemacht, aber jetzt ist es unsere
Aufgabe als deine Eltern, dich zu beschützen.«
Ich schüttle seine Hand ab. »Ich brauche nur einen
Beschützer … und das ist Phoenix!«
Die Kiefermuskeln meines Vaters spannen sich und Mum beißt sich bei meinem Ausbruch ängstlich auf die Unterlippe. Es herrscht peinliche Stille. Die Erwachsenen tauschen wissende Blicke aus.
DI Shaw räuspert sich. »Ich kann sehen, dass Sie als Familie Zeit brauchen, um zu heilen«, erklärt sie und erhebt sich mit Hilfe einer Krücke. »Aber zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen, wenn Sie weitere Hilfe benötigen.« Bedeutungsvoll schaut sie meinen Vater an. »Wir können einige ausgezeichnete
Post-Trauma-Berater empfehlen.«
»Danke, Inspector«, sagt Dad und schüttelt ihr die Hand. »Danke für alles, was Sie für Genna getan haben. Es tut uns so leid, dass Ihr Kollege bei diesem Autounfall ums Leben kam.«
Ich möchte ihn am liebsten anschreien. Laut herausbrüllen, dass diese sogenannte Polizistin
ihren eigenen Kollegen ermordet hat! Aber es gibt keine Beweise: Der Autounfall hat alle Hinweise auf ihre Tat vernichtet. Außerdem scheint sich DI Shaw nach dem Tod von Tanas nicht mehr an ihr Verbrechen zu erinnern. Obwohl ich der Polizei meine Seite der Geschichte komplett erzählt habe, wurde fast alles als Wahnvorstellungen eines traumatisierten Teenagers abgetan.
»Vielen Dank, Mr Adams«, sagt DI Shaw. »Ich werde Ihr Beileid seiner Familie übermitteln. Leider ist so etwas allerdings eines der Risiken unserer Arbeit.«
Mein Dad nickt mitfühlend, dann erhebt sich Mum, um ihr ebenfalls die Hand zu schütteln und die beiden Polizistinnen hinauszubegleiten.
An der Tür dreht sich DI Shaw noch einmal zu mir um und schenkt mir ein Lächeln, das sie vermutlich für tröstlich hält.
»Genna, mir ist klar, dass du immer noch unter Schock stehst«, sagt sie freundlich, »aber schöpfe einfach Kraft aus der Tatsache, dass du diese schreckliche Tortur überlebt hast. Ich hoffe, diese Kraft wird dir in deinem zukünftigen Leben zugutekommen.«
Vermutlich ist ihr gar nicht bewusst, wie treffend ihre Worte sind, trotzdem schaudert mich, als ich der ehemaligen Seelenjägerin nachsehe, wie sie sich von unserem Haus entfernt und den Weg hinunterhumpelt.