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»Glaubst du, du wirst Phoenix jemals wiedersehen?«, fragt Mei, während wir im Park von Clapham Common am Teich sitzen und die Enten füttern. Mein Vater hockt auf einer Bank einige Meter entfernt und bemüht sich sehr, so zu tun, als würde er die Zeitung lesen.
Ich schüttle traurig den Kopf. »Mein Traumaberater findet, Phoenix hätte einen negativen Einfluss auf mich, und meine Eltern haben sich seiner Einschätzung angeschlossen.«
Mei schnaubt ungläubig. »Aber Phoenix ist der einzige Grund, warum du noch am Leben bist!«
»Klar«, antworte ich, breche ein Stück Brot ab und werfe es in das Gewusel von Enten und Tauben. »Er ist auch der Grund, warum ich all meine früheren Leben überlebt habe.«
Mei hebt eine Augenbraue und wirft mir einen zweifelnden Blick zu, als wolle sie sagen: Ernsthaft? Du bist doch nicht immer noch auf diesem Wiedergeburtstrip, oder?
In den letzten Wochen hat mein Post-Traumaberater versucht, meine Erfahrungen und Visionen meiner früheren Leben einfach zu erklären als einen »Bewältigungsmechanismus meiner sensiblen Psyche, durch den ich den Stress und die Strapazen verarbeite, die mit dem Anschlag, der Entführung und dem Versuch eines rituellen Mordes einhergehen«. Ich denke, für ihn ergibt das einen gewissen Sinn.
Mein Berater hat auch meine Bindung an Phoenix als unmittelbare Folge eines Stockholm-Syndroms diagnostiziert. Und ich weise zugegebenermaßen viele der entsprechenden Symptome auf – positive Gefühle gegenüber meinem »Geiselnehmer«, ein Glaube an dieselben Werte und Ziele, die Weigerung, mit den Behörden gegen ihn zu kooperieren –, doch Phoenix war nicht mein Geiselnehmer. Er ist mein Retter und mein Freund. Mehr als das, wir teilen eine tiefe Verbindung zueinander, eine Seelenverwandtschaft. Den Verlust von Phoenix erlebe ich, als würde mir ein lebenswichtiges Organ fehlen, als wäre ein riesiges Loch in mein Herz gerissen.
Als Ergebnis der professionellen Einschätzungen des Beraters, und weil meine Eltern ansonsten auf einer Therapie bestehen würden, bringe ich die Themen Wiedergeburt oder Phoenix wenn möglich gar nicht mehr zur Sprache.
Nur manchmal, wenn ich wie jetzt mit meiner besten Freundin zusammen bin, werde ich etwas unvorsichtig. Aber glücklicherweise geht sie auch jetzt gar nicht weiter auf das strittige Thema ein. Stattdessen fragt sie mich: »Und wann wird Phoenix wieder in die Staaten abgeschoben?«
»Morgen, glaube ich.« Ich verstumme und starre auf die Wellen des Teichs, die im Sonnenlicht glitzern. Bei dem Gedanken, meinen Guardian vielleicht nie wieder zu sehen, lassen Tränen meinen Blick verschwimmen. Mein Atem stockt, ich fasse mit einer Hand an meine Brust und spüre die Kühle des Amuletts auf meiner Haut. Die Erinnerung an all die Opfer, die er gebracht hat, um mein Leben – meine Seele – zu schützen, bringen mich nur noch mehr zum Weinen.
Mei legt tröstend einen Arm um meine Schultern. »Auch wenn es schwer ist, immerhin kannst du sicher sein, dass dein Schutzengel überlebt hat und nach Hause zurückkehrt und nicht ins Gefängnis muss. Außerdem«, sagt sie, »weiß man nie, was die Zukunft noch bringen wird.«
Ich setze ein Lächeln auf. Jetzt, da ich die Geheimnisse der Wiedergeburt kenne, ist meine Zukunft ein offenes Buch. Eines mit einem bittersüßen Ende, zumindest in diesem Fall. Ich mag Phoenix verloren haben, aber immerhin bin ich sicher vor Tanas und seinen Jägern. Ich kann dieses Leben genießen, ohne dass sich sein dunkler Schatten erneut über mich legt. Trotzdem ist mein gegenwärtiges Leben nur eine von vielen ungeschriebenen Geschichten, jede mit dem gleichen gnadenlosen Bösewicht und einem tapferen Helden in unterschiedlichen Gestalten. Jede mit einem noch offenen Ende. Und nur eine der Geschichten geht mit einem rituellen Opfer aus, das sie schließlich alle beenden wird. Genau diese Geschichte muss ich um jeden Preis vermeiden.
»Was ist mit Damien?«, fragt Mei und verscheucht eine räudig aussehende Taube mit ihrem Fuß. »Wie geht es mit ihm weiter?«
Trotz der strahlenden Sonne läuft mir bei der bloßen Erwähnung seines Namens ein kalter Schauer über den Rücken. »Soweit ich weiß, ist er wegen Entführung und versuchten Mordes angeklagt. Sein Anwalt plädiert auf verminderte Schuldfähigkeit.«
Mei runzelt die Stirn. »Wieso das?«
Ich knete eine Brotkruste in meiner Hand und lasse die Krümel auf den Boden fallen. »Weil er bei seinen Taten angeblich nicht bei klarem Verstand war, sondern unter der Kontrolle eines religiösen Sektenführers stand.« Ich schaue sie von der Seite an. »Das bedeutet: Er ist nicht uneingeschränkt verantwortlich für seine Taten.«
Mei blickt erschrocken. »Aber er kommt trotzdem ins Gefängnis, oder?«
»Ich denke schon«, antworte ich mit einem Achselzucken. »Wahrscheinlich in einen Jugendknast.«
»Gut«, sagt Mei ernst und wirft das letzte Stückchen Brot den Vögeln zu. »Hauptsache, er stellt keine Bedrohung mehr für dich dar. Und da dieser gruselige Tanas-Typ auch tot ist, brauchst du dir um ihn auch keine Sorgen mehr zu machen.«
Nein, das brauche ich nicht , denke ich. Zumindest nicht in diesem Leben.