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»Komm schon – beeil dich!«, sagt Dad und scheucht mich vom Rücksitz seines silbernen Volvos.
»Wozu die Eile?«, frage ich ein wenig außer Atem, während er mich durch die Tiefgarage zu den Aufzügen schiebt. Nachdem er mich heute früh geweckt hatte, hat mein Dad mich ins Auto gepackt, sich durch den morgendlichen Verkehr gekämpft, aber ohne mir zu verraten, wohin wir fahren und warum. Ich war zu dieser gnadenlos frühen Stunde noch im Halbschlaf und habe immer noch keine Ahnung, wo wir eigentlich gelandet sind.
»Das wirst du schon sehen«, antwortet er und drückt ungeduldig den Aufzugknopf.
Sobald sich die Türen öffnen, führt er mich hinein. Ich stehe nervös neben ihm, während wir in den zweiten Stock hinauffahren. Er wirkt besorgt, knetet seine Hände und wippt auf den Fußballen. Er lächelt mich angestrengt an, hält aber meinem fragenden Blick nicht stand. Als würde er sich auf etwas freuen … und sich zugleich davor fürchten. Was in aller Welt geht hier vor?
Die Türen öffnen sich mit einem Ping
, und wir tauchen ein in die geschäftige Menge aufgeregter Reisender, gebräunter Urlauber, müder Geschäftsleute, lächelnder Flugbegleiter und überladener Gepäckwagen. Schlangen von Passagieren warten ungeduldig vor automatischen Check-in-Schaltern, auf riesigen Bildschirmen werden
internationale und nationale Flüge angezeigt, die an diesem Morgen in Heathrow von Terminal 3 starten.
Ich starre meinen Vater an, verwirrt und etwas misstrauisch. »Was machen wir hier?«, will ich wissen, während er mich durch die Menge führt. »Ein Überraschungstrip?«
Eine gewisse Vorfreude regt sich in mir. Abgesehen von den Beratergesprächen und ein paar Besuchen bei Mei war ich in den letzten zwei Wochen so ziemlich ans Haus gefesselt und durfte nicht einmal zur Schule.
Dad schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, diesmal nicht.«
»Warum sind wir dann hier?«
Er lächelt breit. Doch dann trübt sich seine Miene wieder ein wenig, und erneut wirkt er fast ängstlich.
»Ehrlich gesagt, deine Mutter war in dieser Angelegenheit nicht ganz meiner Meinung«, erklärt er und schluckt sichtlich sein Unbehagen hinunter. »Ja, ich bin selbst skeptisch, aber wenn man bedenkt, wie aufgewühlt du warst und wie dankbar wir als Eltern sein sollten, habe ich beschlossen, dass du wenigstens die Chance bekommen solltest.«
Dad hält abrupt vor der Abflugkontrolle und tritt zur Seite. Er nickt dem Polizeibeamten zu, der einen großen athletischen Jungen in Jeans, weißem T-Shirt und schwarzer Lederjacke bewacht. Verblassende Blutergüsse färben seine hohen Wangenknochen und eine kleine Narbe zieht sich über seine Unterlippe. Er stützt sich auf eine Krücke, scheint aber kräftig genug, um auch ohne sie stehen zu können. Er wirkt definitiv glücklicher und gesünder als bei unserer letzten Begegnung, seine kastanienbraunen Locken reichen ihm fast bis auf die Schultern und in seinen saphirblauen Augen funkeln Spuren von Sternenlicht.
Ich starre Phoenix eine ganze Minute lang an, kann es kaum fassen, dass er tatsächlich vor mir steht. Ich hätte nicht gedacht, ihn noch einmal wiedersehen zu dürfen! Ich schaue zu meinem Vater, mein Mund formt ein stummes Dankeschön
, woraufhin sich sein nervöses
Lächeln entspannt. Allein mein strahlender Gesichtsausdruck genügt, um ihm zu verraten, dass er das Richtige getan hat.
Phoenix ist offenbar ebenso überwältigt, mich wiederzusehen, seine Augen lösen sich keine Sekunde von meinen. Dann beginnt sich meine Welt zu drehen und …
Wir stehen gemeinsam auf dem Bahnsteig eines belebten Bahnhofs. Ich trage die weiße Uniform einer Krankenschwester und mein blondes Haar ist zu einem Dutt aufgesteckt, er trägt eine khakifarbene Armeeuniform, seine Baskenmütze in der Hand und einen Seesack über die Schulter geschlungen. Dampf umweht uns, und ich höre die tränenreichen Verabschiedungen mehrerer anderer Paare.
»Musst du wirklich gehen?«, frage ich Harry, als er die Tür des wartenden Waggons öffnet.
Er nickt ernst.
»Du weißt, ich muss. Sie rekrutieren jeden Soldaten. Es heißt, wir wollen einen großen Vorstoß unternehmen.«
Ich nehme seine Hand.
»Mir ist klar, dass der Krieg gewonnen werden muss«, flüstere ich leise,
»aber was ist mit unserem Krieg? Was ist mit den Inkarnaten?«
»In gewisser Weise sind sie und dieser Weltkrieg eins«, antwortet er mit erschöpfter, leicht resignierter Miene. Dann setzt er ein Lächeln auf und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
»Aber meine Pflicht hier ist getan.«
Ich schaue ihn an, mir kommen die Tränen, als der sanfte Druck seiner Lippen sich von meiner Wange löst.
»Dann werden wir uns nie wiedersehen?«, frage ich und bei dem Gedanken daran zerreißt es mir fast das Herz.
Ein lauter Pfiff übertönt seine Antwort, und der Zug macht sich abfahrbereit. Nach einer letzten Umarmung klettert Harry in den Waggon, dreht sich noch einmal um und wirft mir einen letzten Kuss zu.
»Sag niemals nie«, ruft er, während der Waggon in einer Dampfwolke davonrollt …
Der Schimmer verschwindet wie Rauch vor meinen Augen, und ich befinde mich wieder im Flughafenterminal mit seinem chaotischen Treiben, den ganzen Reisenden, die zu ihren Fliegern eilen. Inmitten dieses ständigen Kommens und Gehens wird mir klar, dass ich wie ein geblendetes Reh dastehe und ihn immer noch anstarre.
»Phoenix«, schluchze ich und renne in seine offenen Arme.
Als ich ihn umschlinge, zuckt er kurz zusammen. »Vorsicht«, stöhnt er. »Ich bin noch nicht wieder ganz gesund.«
Sanft löse ich meine Umarmung, aber er hält mich weiter fest. In seiner Gegenwart fühle ich mich endlich wieder ganz
.
Wiedervereint mit einem wichtigen Anteil meiner selbst. Ich weiche ein wenig zurück, schaue ihm tief in die Augen, und erneut erlebe ich diesen merkwürdigen und doch zutiefst vertrauten Magnetismus.
»Wie geht es dir?«, frage ich, während er sein Gewicht auf der Krücke verlagert.
»Bestens«, antwortet er mit ehrlichem Grinsen und einer Spur von Draufgängertum. »Die Ärzte meinen, ich hätte sehr viel Glück gehabt. Im Knie habe ich einen Bänderriss, aber es ist nichts gebrochen. Und durch die Stichwunde im Bauch wurden keine lebenswichtigen Organe verletzt. Bei entsprechender Ruhe und Pflege sollte ich innerhalb weniger Monate wieder völlig fit sein.« Er nimmt mich bei der Hand. »Aber, was noch wichtiger ist, wie geht es dir?«
Angesichts des frischen Schimmers aus dem Zweiten Weltkrieg – der mir wieder einmal deutlich bewiesen hat, dass ich früher schon gelebt habe
– antworte ich: »Mir geht es gut … Aber niemand will mir meine früheren Leben glauben, oder dass du mein Guardian bist.«
Phoenix streicht mir zärtlich eine Locke aus dem Gesicht. »Genna, es ist völlig egal, ob sie es dir glauben oder nicht. Alles, was zählt, ist, dass du nicht mehr gejagt wirst. In diesem Leben bist du nun sicher.«
Ich nicke, getröstet durch seine Worte. »Aber ich brauche dich immer noch an meiner Seite. Ohne dich fühle ich mich verloren«, gebe ich zu. »Nur du
verstehst, wer ich wirklich bin.«
Sein Blick wird weich, es liegt eine traurige Zärtlichkeit darin, ein Akzeptieren dessen, dass sich dieser Moment schon häufig zwischen uns abgespielt hat und er das Ergebnis bereits kennt. Und tief im Inneren kenne ich es auch.
»Unsere Lebenswege scheinen sich für Erste zu trennen«, sagt er sanft. Er legt seine Handfläche auf mein Brustbein, genau dort, wo der Guardian-Stein liegt. »Aber ich werde nie weit von dir sein.«
Bei seinen Worten schmilzt mein Herz, und zugleich schmerzt es angesichts des Abschieds. »Wie kann ich mich mit dir in Verbindung setzen?«, frage ich. »Hast du eine Handynummer? E-Mail?«
Phoenix schüttelt traurig den Kopf. »Du weißt, was ich über Technik gesagt habe – ich vertraue ihr nicht.«
»Wohin gehst du jetzt?«
»Zurück nach Hause, hoffe ich.« Er wirft einen raschen Blick auf den Polizisten. »Sofern die Behörden es mir erlauben.«
»Und wo genau ist zu Hause?«
Er runzelt die Stirn. »Ich hatte in diesem Leben schon viele Zuhause, aber ich schätze, Flagstaff, Arizona, ist mein Heimatort. Dort wurde ich geboren. Oder vielleicht hänge ich ein bisschen am Strand von L. A. ab. Die Sonne und das Surfen werden mir guttun.«
»Du surfst?«, frage ich, begierig, einen kleinen Einblick in das Leben zu bekommen, das er geführt hat, bevor er mich fand.
»Ein bisschen«, antwortet er bescheiden.
»Hast du das in einem früheren Leben gelernt?«
Lächelnd schüttelt er den Kopf. »Nein, in diesem. Obwohl ich mir nicht sicher bin, wie diese besondere Fähigkeit mir helfen wird, dich in einem zukünftigen zu beschützen, es sei denn, Tanas käme irgendwann einmal als Hai zurück!«
Ich lache zum ersten Mal seit langer Zeit, und mir fällt auf, wie entspannt ich bei Phoenix bin. Wie sicher ich mich in seiner Gegenwart fühle, selbst wenn nun gar keine äußere Gefahr mehr droht. Wir plaudern weiter wie die alten Freunde, die wir ja tatsächlich sind, wobei ich die meisten Fragen stelle und so viel wie möglich über ihn
herausfinden möchte, damit ich mir vorstellen kann, wie er nun bald in Amerika leben wird. Aber die kurze Zeit, die wir zusammen haben, scheint in Sekundenschnelle zu verfliegen, und der Polizeibeamte greift allzu bald an Phoenix’ Arm.
»Eben wurde das letzte Mal zum Boarding aufgerufen«, erklärt ihm der Beamte.
»Nein!«, flehe ich und will meinen Guardian nicht gehen lassen. Ich blicke verzweifelt zu Phoenix. »Werde ich dich jemals
wiedersehen?«
»Natürlich wirst du das«, antwortet Phoenix lächelnd, während er durch die Sicherheitsschleuse eskortiert wird. »Wenn nicht in diesem Leben, dann im nächsten.«