Als er die Tür aufschloss, hörte er Marie husten. Es klang wie Hundegebell. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, in eine Decke gehüllt, und sah ihn mit großen Augen an. »Papa, mir tut der Hals so weh.« Leo nahm sie auf den Schoß und strich ihr übers Haar. »Du fühlst dich ein bisschen warm an, Kleines. Wo ist Tante Ilse?«
In diesem Moment kam seine Schwester mit einer Tasse Kräutertee ins Zimmer. Sie wirkte erleichtert, als sie ihn mit Marie auf dem Sofa sitzen sah. »Ich mache mir Sorgen, Leo. Dieser Husten ist doch nicht normal. Ich glaube, das ist keine gewöhnliche Erkältung.«
»Wie lange geht das schon so?«
»Seit ein paar Stunden. Wir waren vormittags mit dem Puppenwagen im Park, da hatte sie nur ein bisschen Halsweh. So gegen zwei ging es mit dem Husten los. Und die Halsschmerzen sind schlimmer geworden, sie mochte gar nichts essen.«
»Hohes Fieber scheint sie aber nicht zu haben«, sagte Leo. »Pass mal auf, Tante Ilse holt eine Lampe, und dann schaue ich in deinen Hals.«
Marie nickte. »Aber nicht anfassen.«
»Nein, nur gucken.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht machte sie den Mund auf, so dass Leo hineinleuchten konnte. Der Hals war angeschwollen, auf den Mandeln waren gelblich weiße Flecken zu erkennen. Er schaltete die Lampe aus. »Du kannst den Mund wieder zumachen, Liebes.« Er setzte sie neben sich und stand auf. »Du hast wohl eine Mandelentzündung. Aber wir müssen dich im Auge behalten. Du schläfst heute Nacht am besten bei mir. Und wenn es morgen früh nicht besser ist, gehen wir zum Arzt.«
Ilse nickte. »Bring du sie ins Bett.« Ihre Feindseligkeit war der Sorge um Marie gewichen. »Soll ich ihr einen Umschlag machen?«
»Das wäre sicher gut.«
Sie gingen zusammen in die Küche, wo Ilse ein Küchenhandtuch auf dem Tisch ausbreitete und mit Quark bestrich. »Der war eigentlich für die Pellkartoffeln, aber die können wir auch mit Margarine essen«, sagte sie über die Schulter. Leo goss sich ein Glas Bier ein und trat ans Fenster. »Anstrengender Tag?«
Überrascht drehte er sich um. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr nach seiner Arbeit gefragt. »Ja, wir sind durchs Scheunenviertel gelaufen. Viel Mühe, bei der wenig herausgekommen ist. Und morgen geht es weiter. Wir untersuchen den Mord an einer Prostituierten.«
»Ist die Gegend wirklich so . . . anrüchig?«, erkundigte sich Ilse vorsichtig.
»Na ja, wohnen möchte ich dort nicht. Enge Gassen, dunkle Höfe, zwielichtige Kneipen. Aber mittendrin gibt es viel Leben, Geschäfte, Synagogen, Schulen, Kabaretts. Man kann das Viertel nicht insgesamt als kriminell abtun. Es ist ungeheuer vielfältig. So viele unterschiedliche Menschen. Das macht die Ermittlungen allerdings nicht gerade einfacher.«
Aus dem Wohnzimmer drang wieder der bellende Husten. Ilse nahm den Umschlag und ging zu Marie, die sich mit beiden Händen den Hals hielt. »Beim Husten tut es auch weh.«
»Pass auf, gleich wird es kalt.« Marie keuchte laut, als sie den kalten Quark am Hals spürte. Ilse bedeckte den Umschlag noch mit einem warmen Tuch. »Morgen geht es dir bestimmt besser. Trink deinen Tee aus, dann bringt Papa dich ins Bett.«
Leo nahm Marie wieder auf den Schoß und las ihr das Märchen von den Sterntalern vor, das Marie besonders gern mochte. Irgendwann drückte ihr Kopf schwer gegen seine Schulter, sie war eingeschlafen. Sanft schlug er die Decke auseinander und trug sie in sein Schlafzimmer, wo sie sich wie ein Igel unter dem Federbett einrollte. Er schaute noch eine Weile auf sie hinunter und ging dann ins Wohnzimmer, wo er in einer Kunstzeitschrift blätterte. Doch er konnte sich nicht auf die abgebildeten Werke oder die Berichte zu den Ausstellungen konzentrieren, weil immer wieder die blutbefleckte Buddhafigur vor seinen Augen auftauchte. Der verdammte Artikel hatte seine Unzufriedenheit aufs Neue entfacht. Schließlich ging er ins Bad, nahm den Hemdkragen ab und legte ihn auf die Fensterbank. Er fuhr sich über die kratzigen Bartstoppeln, wusch sich Gesicht und Hände, putzte sich die Zähne und ging in sein Schlafzimmer.
Leo war gerade eingeschlafen, als er von einem seltsamen Geräusch erwachte. Ein langgezogenes Keuchen, das er zunächst nicht einordnen konnte. Dann tastete er mit der Hand nach rechts und berührte einen kleinen Hügel unter der Decke. Marie. Ruckartig setzte er sich auf und schaltete die Nachttischlampe ein. Seine Tochter lag auf dem Rücken, die Augen weit geöffnet, und rang mühsam nach Luft.
Er schwitzte am ganzen Körper, sein Pyjama war feucht, die Decke lag zusammengeknüllt am Fußende des Bettes. Verstört setzte er sich auf und lehnte sich ans geschnitzte Kopfende, dessen Ornamente sich unangenehm in seinen Hinterkopf bohrten. Jetzt war er endgültig wach, zum Glück. Der Traum war so real gewesen, dass er seine Hände im Licht der Nachttischlampe betrachtete und staunte, dass sie sich nicht verändert hatten.
Er hatte bei einem festlichen Abendessen neben Viola gesessen. Gerade als er sein Chateaubriand anschneiden wollte, war die erste Wunde auf seinem linken Handrücken erschienen. Ein hässlicher roter Fleck, wie rohes Fleisch. Gut, dass Viola rechts von ihm saß. Doch dann veränderte sich auch seine rechte Hand. Und es wurden immer mehr Flecken, sie breiteten sich über seine Handgelenke aus, krochen unter die Manschetten, die Arme hinauf bis zu den Schultern.
Violas Blick brannte heiß an seiner Schläfe, er wagte nicht, den Kopf zu drehen. Seltsam, die anderen Gäste schienen nichts zu bemerken, sie aßen und plauderten ungerührt weiter. Sie beide waren allein, wie auf einer Insel, während das Gelächter ans Ufer brandete. Und als er endlich wagte, sie anzuschauen, war auch sie mit roten Wunden übersät und sah ihn anklagend an. »Du hast mir nichts davon gesagt.«
Aber, wollte er sich selbst beruhigen, das alles war Unsinn, nach so langer Zeit war es nicht mehr ansteckend, unmöglich. Und es war noch nichts geschehen, er hatte sie niemals so – berührt.
Und doch war er erschüttert. Nie zuvor hatte er etwas Ähnliches geträumt. Nicht vor Viola und auch nicht, nachdem er ihr begegnet war. Nie war die Krankheit in seine Träume vorgedrungen, selbst wenn sie ihn im Wachzustand unablässig beschäftigt hatte. Dort war er immer sicher vor ihr gewesen. Bis heute. Er presste die Hände an die Schläfen, um den plötzlichen Kopfschmerz zu vertreiben.
Einen Augenblick war Leo wie erstarrt, dann hob er Marie auf den Schoß und drückte sie an sich. Hohes Fieber schien sie nicht zu haben, aber er konnte nicht bis zum Morgen warten. Rasch trug er das Mädchen ins Wohnzimmer, zog sich an und klopfte an Ilses Zimmertür. Sie meldete sich mit verschlafener Stimme. »Ja, was ist?«
Er öffnete die Zimmertür und steckte den Kopf hinein. »Ich muss mit Marie ins Krankenhaus, sie bekommt kaum noch Luft.«
Ilse sprang aus dem Bett und warf einen Morgenrock über. Im Licht der Dielenlampe, mit unfrisiertem Haar und verquollenen Augen, sah sie um Jahre älter aus. »Willst du nicht bis morgen früh warten?«
»Nein«, entgegnete Leo barsch. »Wir haben lange genug gewartet.« Es war deutlich herauszuhören, dass er eigentlich »du« meinte.
Ilse schluckte. »Natürlich.«
»Vielleicht wolltest du ja mit deinem Freund spazieren gehen. Seid ihr deshalb in den Park gegangen, obwohl Marie krank war?«
»Du bist ungerecht, Leo«, sagte sie mit blassem Gesicht, aber in festem Ton.
Er tat ihre Worte mit einer Handbewegung ab. »Ich rufe dich an, sobald ich etwas weiß. Hol etwas anzuziehen für Marie.«
Ilse eilte ins Kinderzimmer und kam mit einem Kleid und einer Strickjacke zurück, die sie dem verängstigten Kind rasch und geschickt überzog. Dann drückte sie Marie an sich, legte sie in die ausgestreckten Arme ihres Bruders und wickelte sie fest in eine Decke. »Sag mir ganz schnell Bescheid«, flüsterte sie und wandte sich abrupt ab.
Es war drei Uhr morgens, als Leo mit dem eingewickelten Kind auf die menschenleere Straße trat. Marie war eingenickt, doch der beängstigende Husten riss sie immer wieder aus dem Halbschlaf. Leo bog in die Turmstraße ein und merkte allmählich, dass Marie gar nicht so leicht war. Jeder Schritt wurde mühsam, das Kind in seinen Armen schien schwer wie Blei, seine Schultern schmerzten vor Anspannung. Um diese Zeit war niemand zu sehen außer einem Bäcker, der gerade die Backstube aufschloss, und einem späten Heimkehrer, der zu betrunken schien, um die eigene Haustür zu finden. Leo war froh, als zu seiner Linken endlich die weitläufige Anlage mit den roten Backsteingebäuden auftauchte. Gleichzeitig spürte er einen Druck im Magen. Das letzte Mal war er hier gewesen, um Dorotheas Sachen abzuholen. Ein kleines Häufchen persönlicher Gegenstände, seltsam verloren auf dem kalten weißen Bett.
Er verdrängte die Erinnerung und trat in das Gebäude, in dem sich die Anmeldung befand. »Notfall?«, fragte die Schwester hinter dem Tresen knapp.
»Ja. Meine Tochter bekommt keine Luft und hustet schlimm.«
Die Frau notierte seine Personalien und bat ihn, Platz zu nehmen. Die Zeit schien zäh dahinzukriechen, der Uhrzeiger auf der Stelle zu verharren, während er mit Marie auf dem harten Holzstuhl wartete.
Endlich erschien ein übernächtigt wirkender Arzt, der ihn knapp, aber freundlich begrüßte. »Seit wann geht das so?«
»Die Atemnot kam erst heute Nacht. Halsschmerzen hat sie seit ein paar Tagen.«
Der Arzt führte ihn in ein Untersuchungszimmer. Auf der Liege sah Marie klein und ängstlich aus. Leo hielt ihre kalte Hand, während der Arzt in ihren Hals leuchtete, Brust und Rücken abhörte und schließlich in ernstem Ton sagte:
»Dringender Verdacht auf Diphtherie. Der Kehlkopf ist auch befallen, daher der Husten. Wir müssen sie hier behalten.«
Um ein Haar hätte Leo nein gesagt. Nein, hier stirbt man. Doch er beherrschte sich. »Wie schlimm ist es?«
»Sie muss unbedingt unter Aufsicht bleiben. Das Gefährliche ist die innere Schwellung des Halses, die müssen wir unbedingt bekämpfen. Außerdem kann die Krankheit auf innere Organe übergreifen, was zu schweren Komplikationen führt. Sie darf in der nächsten Zeit auch keinen Besuch erhalten.«
Leo sah ihn entgeistert an. »Ich darf überhaupt nicht zu ihr?«
Der Arzt nickte bedauernd. »Die Isolation ist wegen der Ansteckungsgefahr erforderlich. Sollten Sie oder Ihre Familie in den kommenden Tagen ähnliche Symptome verspüren, müssen Sie sich umgehend bei uns vorstellen.«
Leo nickte wie betäubt. »Kann ich sie denn . . . irgendwie sehen?«
»Sie dürfen durchs Fenster hineinschauen. Verabschieden Sie sich jetzt bitte, Herr Wechsler.«
Leo hob Marie von der Liege hoch. Sie sah ihn an und flüsterte: »Der Doktor hat gesagt, ich muss hier bleiben?«
Er nickte. »Damit du schnell wieder gesund wirst. Wir dürfen dich besuchen, aber nur durchs Fenster. Malst du mir dann mit Atem ein Bild an die Scheibe?«
Sie nickte, und Leo spürte, wie sie um seinetwillen ihre Angst unterdrückte. Dann drückte er sie noch einmal fest an sich und ging zur Tür, um den Abschied nicht unnötig hinauszuzögern. Bevor er die Klinke niederdrückte, hörte er ihre leise Frage: »War Mama auch hier?«
Er biss sich auf die Unterlippe und drehte sich um. »Ja. Aber sie war viel schlimmer krank als du. Große Mädchen wie du kommen bald wieder nach Hause.«
Mit diesen Worten ging er hinaus.
Seine Schwester erwartete ihn an der Wohnungstür, hinter ihr stand Georg und schaute ihn angstvoll an. Als Leo Ilse sah, keimte wieder irrationale Wut in ihm auf, für die er sich sofort schämte, doch er brachte keine Entschuldigung über die Lippen.
Ilse zog fröstelnd den Morgenmantel enger und fragte drängend: »Was hat sie? Musste sie dort bleiben?«
»Vermutlich Diphtherie.« Er zog müde den Mantel aus und hängte ihn an den Garderobenhaken.
»Ist das sehr schlimm?«, fragte Georg scheu.
»Sie kommt auf eine Isolierstation, damit sie niemanden ansteckt«, sagte Leo schleppend. »Wir dürfen sie erst mal nur durchs Fenster sehen.« Er legte Georg den Arm um die Schultern und führte ihn zurück ins Kinderzimmer. Als der Junge im Bett lag, strich Leo ihm sanft über den zerzausten Schopf und ging hinaus.
Ilse stand reglos im Flur.
»Es war furchtbar, sie dort allein zu lassen. Ich musste an Dorothea denken.« Mit diesen Worten ging er in sein Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Er ließ Hemd und Hose an, zog nur die Schuhe aus und legte sich hin.
Schlafen konnte er in dieser Nacht nicht mehr.
Der Traum verfolgte ihn gnadenlos, so dass er sich nicht einmal mit Arbeit ablenken konnte. Eigentlich unverständlich, da es doch schon so lange zurücklag. Auch waren die Geschwüre bei weitem nicht so schlimm gewesen wie in seinem Traum. Und die Erholungsreise nach Italien hatte verhindert, dass irgendjemand in Berlin davon erfuhr.
Dennoch kam es ihm letzthin manchmal vor, als schauten ihn die Angestellten seltsam an. Er fürchtete schon, sie könnten ihm den Traum vom Gesicht ablesen. Blickte eine Sekretärin auf seine verhüllten Hände, verbarg er sie unwillkürlich im Schoß. Diese Unsicherheit hatte er seit Jahren nicht erlebt.
Damals schon. Als er die ersten Zeichen an seinem Körper feststellte, aber nicht zu deuten wusste. In Bereichen, die so intim waren, dass er mit niemandem darüber sprechen konnte, nicht einmal mit einem Arzt. Er spürte die prüfenden Blicke seiner Mutter und zog sich immer mehr in sich zurück. Eine unsichtbare Hülle schien ihn von der Außenwelt zu trennen.
Viele Brücken gab es nicht abzubrechen. Die Freunde, die sein Vater ihm aufgedrängt hatte und durch die er in diese furchtbare Lage geraten war, waren im Krieg gefallen.
Nach einiger Zeit verschwanden die Knoten. Er schöpfte Mut, fühlte sich genesen. Als er einige Monate später an einer Art Grippe erkrankte, hatte er keinerlei Verbindung hergestellt.
Danach folgten gute Jahre, in denen er die Nachfolge seines Vaters in der Fabrik antrat. Bald darauf starb auch seine Mutter, deren Zuneigung er zuletzt mehr und mehr als Umklammerung empfunden hatte. Als er Viola kennen lernte, war sein Glück vollkommen.
Doch dann behauptete der Heiler, er sei mit dieser unaussprechlichen Krankheit behaftet.
Und jetzt –
Leo packte das Bild aus. Er hatte sich entschlossen, es im Büro aufzuhängen, denn er wollte keine neue Auseinandersetzung mit Ilse heraufbeschwören. Die Stimmung zu Hause hatte sich nur deshalb ein wenig beruhigt, weil Marie so krank war. Als er das kleine Gemälde gerade auf den Schreibtisch legte, kam Robert herein.
»Was hast du denn da?«
»Ein Bild.«
»Gute Idee. In Kunst anlegen, wenn das Geld an Wert verliert«, meinte Robert mit gutmütigem Spott.
»Du kennst mich, ich würde ein Bild nicht als Wertanlage kaufen. Es stammt von einem unbekannten Künstler, ich habe es günstig bekommen.«
Er faltete das Packpapier auseinander und hielt das Bild unter die Deckenlampe, da es im Büro ziemlich dunkel war. Robert trat näher. »Einsame Frau«, meinte er knapp.
»Ja. Aber etwas daran hat mir gefallen. Ich habe überlegt, warum sie so dasitzt, und dann ist mir aufgefallen, dass ich selbst manchmal so dasitze. Fast ohne zu denken.«
»Von wegen. Das nehme ich dir nicht ab. Dein Gehirn steht doch nie still.« Robert räusperte sich. »Schlechte Nachrichten, Leo. Sie haben Stahnke abgezogen und von Malchow in unsere Kommission gesteckt.« Er wunderte sich, dass Leo nicht reagierte, doch als er das Gesicht seines Freundes sah, fragte er besorgt: »Was ist denn mit dir los? Schlecht geschlafen?«
Leo nickte. »Ich habe Marie letzte Nacht ins Krankenhaus gebracht. Dringender Verdacht auf Diphtherie.«
»Das tut mir leid. Willst du nicht hinfahren?«
Er schüttelte den Kopf und stand energisch auf. »Nein, ich kann ohnehin nicht zu ihr hinein. Ich darf sie nur durchs Fenster sehen. Ich besuche sie in der Mittagspause.« Er goss Wasser aus einer Kanne auf ein Taschentuch und wischte sich damit übers Gesicht, um endlich richtig wach zu werden. Robert spürte, dass Leo nicht weiter über Marie sprechen wollte.
»Warum haben sie Stahnke abgezogen?«
»Er kennt sich mit Schlössern aus. Die Kollegen bearbeiten eine Einbruchserie in Dahlem, da brauchten sie einen Fachmann. War nichts zu machen.« Er hob die Schultern. »Augen zu und durch.«
»Ich sehe mir noch einmal die Akten im Fall Sartorius an«, sagte Leo und deutete auf eine dicke Aktenmappe, die auf dem Tisch lag. »Heute Abend gehen wir ins Scheunenviertel, tagsüber kommen wir da nicht weiter.«
Robert sah ihn überrascht an. »Wieso Sartorius? Haben wir neue Erkenntnisse?«
»Das nicht. Aber die Presse vergisst nicht so schnell.« Er schob Robert den Zeitungsausschnitt vom Vortag hin.
»Den kenn ich schon.« Robert verstummte unvermittelt.
Leo blickte hoch. »Woher? Das Blatt liest du doch sonst nicht.«
»Ach, ist nicht so wichtig.«
»Robert?«
»Von Malchow hat ihn heute Morgen herumgezeigt, du kennst ihn ja. Für einen Tritt von hinten ist er sich nie zu schade. Lass die Presse doch schreiben, was sie will. Die kennen den Täter schon, bevor der Mord passiert ist. Du brauchst einfach ein dickeres Fell, Leo.«
Doch er wusste, dass Leos Ehrgeiz solche Seitenhiebe schlecht vertragen konnte, zumal es sich um ein prominentes Opfer handelte, das immer für eine Schlagzeile gut war. Und von Malchows Verhalten in Verbindung mit Leos ohnehin mäßiger Laune war kein gutes Omen für die bevorstehende Zusammenarbeit.
»Hast du schon die Liste von der Knopffabrik bekommen?«, fragte Leo unvermittelt. »Außer der Brosche ist sie unsere einzige brauchbare Spur. Sind die Aufnahmen von dem Schmuckstück schon an die Außenstellen gegangen?«
Robert nickte. »Ich rufe Herrn Lehmann an und fahre hin, wenn sie die Liste fertig haben.«
»Ich hole sie selbst ab. Vielleicht kriege ich draußen endlich einen klaren Kopf. Heute Abend um sechs gehen wir los. Du kannst zwischendurch freimachen, es wird eine lange Nacht.« Mit diesen Worten vertiefte er sich wieder in seine Akten.
Robert hatte ein ungutes Gefühl im Magen, als er Leo am Schreibtisch sitzen ließ. Er wusste, wie sehr Dorotheas Tod ihn getroffen hatte, und jetzt Marie – Robert verdrängte die Vorstellung, sie könnte ebenfalls sterben. Kinder waren voller Leben, aber auch ungeheuer verletzlich. Die Kindermorde, die er bei der Kripo bearbeitet hatte, waren seine schlimmsten Fälle gewesen.
Er räusperte sich. Leo blickte unwillig auf.
»Soll ich mal bei Marie vorbeischauen?«
»Danke. Sie wird sich freuen.«
Als Stankowiak anklopfte, hatte Leo die Akte Sartorius zum dritten Mal durchgelesen, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen. Er klappte sie entschlossen zu und bot Stankowiak einen Stuhl an.
»Gibt es etwas Neues?«
»Hier ist die Liste mit den Ärzten, die unseres Wissens Prostituierte behandeln. Es sind nicht gerade wenige. Bei den ganzen Geschlechtskrankheiten heutzutage dürfte es ein einträgliches Geschäft sein.« Er schob Leo eine maschinengeschriebene Liste mit den Namen von etwa vierzig Ärzten hin. »Soll ich mich darum kümmern?«
»In Ordnung. Sie wissen ja, worum es geht. Wann ist sie erkrankt, wie lange war sie krank, wie wurde sie behandelt und so weiter.«
Stankowiak stand auf. »Gehen wir heute Abend noch mal ins Scheunenviertel?«
»Ja, um sechs.«
Stankowiak lächelte. »Da bin ich gern dabei.«
Mit diesen Worten verschwand er im Vorzimmer.
Der Mann war ihm im Flur aufgefallen. Groß, dunkelhaarig, markante Narbe an der Schläfe. Er bewegte sich selbstsicher, wirkte aber nicht wie ein Geschäftspartner oder Kunde, hatte weder Aktentasche noch Musterkoffer dabei. Da er gern wusste, was in seiner Firma vorging, war er später in Lehmanns Vorzimmer gegangen und hatte sich bei Fräulein Merkert beiläufig nach dem Besuch erkundigt.
Schon wieder die Kriminalpolizei. Doch diesmal kannte er den Namen. Aus der Zeitung.
Als Leo mittags ins Krankenhaus kam, erkundigte er sich nach der Station, auf der Marie untergebracht war. Eine freundliche Schwester zeigte ihm den Weg. Beklommen folgte er ihr durch die langen Flure, bis sie vor einer Tür mit der Aufschrift ISOLIERSTATION ankamen. »Weiter dürfen Sie leider nicht. Hier geht es nach draußen auf den Balkon, Ihre Tochter liegt im dritten Zimmer auf der rechten Seite.«
Trotz der sommerlichen Wärme fröstelte ihn, als er vor der Glasscheibe stehen blieb und in das spärlich eingerichtete Zimmer spähte. Marie lag im Bett, den Kopf auf einem dicken Kissen, das ihr das Atmen erleichtern sollte. So hatte es ihm die Schwester jedenfalls erklärt. Im Arm hielt sie die Puppe Gretel, die er noch vor dem Dienst vorbeigebracht hatte. Marie wirkte klein und schmächtig.
Er klopfte vorsichtig ans Fenster. Sie drehte den Kopf und lächelte, als sie ihn sah. Ein winzig kleines Lächeln, gar nicht wie sonst. Sie zeigte auf ihren Hals. Natürlich, er tat weh.
Ihm war, als zerfiele die Welt vor seinen Augen. Gestern noch war alles sicher und vertraut gewesen, trotz der Spannungen mit Ilse. Nach Dorotheas Tod hatte er sich in seinem neuen Leben eingerichtet. Doch als er Marie jetzt hinter der Scheibe sah, so unendlich fern, schien auf einmal nichts mehr sicher.
Leo wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Er winkte Marie noch einmal, und sie hob schwach die Hand. Beim Gehen würgte es ihn im Hals.
Auf dem Flur passte er den Arzt ab, der Marie letzte Nacht aufgenommen hatte.
»Wie steht es um sie?«, fragte er drängend.
Der Arzt führte ihn in eine Nische. »Ich bin leider sehr in Eile. So schnell ist natürlich keine Besserung zu erwarten, Herr Wechsler. Und es kann eine Weile dauern, bis das Antitoxin anschlägt. Das ist leider alles für den Moment.«
Er wollte gehen, doch Leo hielt ihn am Arm fest. Er wusste, dass er nicht vernünftig handelte, aber das war ihm egal. »Und was geschieht, wenn das Mittel nicht wirkt?«
»Ich bitte Sie, wir wollen das Beste hoffen. Sie sollten sich nicht mit diesen Fragen quälen.«
»Ich bin Polizist und daran gewöhnt, Fragen zu stellen. Und Antworten zu bekommen.«
»Es gibt nicht mehr zu sagen. Sie können sich jederzeit nach dem Zustand Ihrer Tochter erkundigen, aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen.«
Mit diesen Worten verschwand er in einem Krankenzimmer.
Leo verfluchte seine Unbeherrschtheit und machte sich auf in Richtung Ausgang.
Er hatte Ilse seit seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus in der Nacht nicht gesehen. Sie hatte ihm zum ersten Mal überhaupt kein Frühstück gemacht und war in ihrem Zimmer geblieben. Beim Weggehen hatte er ihr durch die geschlossene Tür mitgeteilt, er werde Marie die Puppe und frische Wäsche bringen. Sie hatte knapp erwidert, sie wolle das Kind am Vormittag besuchen. Leo kam sich ungewohnt allein vor. Er freute sich geradezu auf den Abend. Die Arbeit würde ihn wenigstens vom Grübeln abhalten.
Beim Verlassen der Wohnung kam ihm noch ein flüchtiger Gedanke: Marlen. Mit ihr konnte er reden. Vielleicht heute Nacht, nach der Aktion im Scheunenviertel.