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Beim ausgiebigen Nachmittagstee, der für ihn, wenn er zu Hause war, ein festes Ritual darstellte, las er aufmerksam die Zeitung. Er überschlug den politischen Teil, weil er sich nach der Unruhe der letzten Tage eine entspannende Lektüre wünschte, und konzentrierte sich ganz auf Gesellschaftsberichte, Mode und Sport. Auf der letzten Seite stieß er unter der Rubrik AUS DER WELT DER KRIMINALISTIK nach längerer Zeit wieder auf den Namen Sartorius. Aufmerksam las er den Artikel durch und runzelte die Stirn. Hier wurden die Morde an Gabriel Sartorius und Erna Klante im selben Satz genannt. Und beide Fälle wurden vom selben Kommissar bearbeitet. Dem Mann, dem er wenige Stunden zuvor auf dem Flur seiner Firma begegnet war.

Die angespannte Stimmung erinnerte an einen wolkenverhangenen Himmel, der auf Regen wartet. Zum Glück hielt sich von Malchow zurück, er schien zu spüren, dass er es zu weit getrieben hatte, als er den Zeitungsartikel herumzeigte. Robert und Berns saßen mit Stankowiak im Fond und verständigten sich hinter dem Rücken ihres Chefs mit Zeichen. Ist schlecht aufgelegt, deutete Robert an. Kein Wunder, dachte er, er hatte Marie im Krankenhaus besucht und wusste, wie schlecht es ihr ging. Doch er ahnte, dass mehr hinter Leos gereizter Stimmung steckte. Vermutlich Ilse. Verdammt schwierige Sache.

Berns verzog hinter von Malchows Rücken das Gesicht und verdrehte die Augen. Robert musste grinsen. Insgeheim hofften sie wohl beide auf eine Konfrontation, die die Luft reinigen würde, wussten aber auch, dass Leo zu klug war, um gleich beim ersten Einsatz einen Streit zu riskieren.

Stankowiak saß schweigend daneben und hielt sich aus der lautlosen Unterhaltung heraus.

Leo stellte den Wagen in der Auguststraße nahe der Einmündung Oranienburger Straße ab und stieg aus. Es war ein warmer Abend, die Gehwege waren schon gedrängt voll. Aus den Kellern klang scheppernde Musik, Geigen quietschten, Klaviere klimperten. Nicht gerade die Staatsoper, dafür aber laut. Er gab noch einmal die Koordinaten durch. »Walther, Berns und von Malchow, Sie übernehmen die Auguststraße, die Große Hamburger, Gipsstraße und Sophienstraße. Stankowiak und ich gehen die untere Linienstraße, Mulackstraße und Grenadierstraße ab. Die Lokalitäten sind bekannt, ebenso die wichtigen Fragen. Und vergessen Sie bitte nicht die Vergangenheit der Toten, vor allem den Namen des Etablissements, in dem sie früher angeschafft hat. Wir treffen uns um eins wieder hier. Viel Erfolg, meine Herren.«       

Als Robert zögerte, trat Leo neben ihn. »Du willst wissen, warum wir nicht zusammen gehen?«

Sein Freund nickte.

»Weil ich einen zuverlässigen Mann bei von Malchow haben möchte.«

Robert nickte wieder. »Verlass dich auf mich.«

Leo sah den drei Männern nach, die gleich das nächste Lokal ansteuerten.

»Stecknadel im Heuhaufen, was?«, fragte Stankowiak leise.

»Mm. Aber so ist die Polizeiarbeit. Wir lösen unsere Fälle nicht bei Koks oder Geigenspiel, sondern mit viel Fußarbeit.«

Als Stankowiak ihn verwundert ansah, meinte er: »Sherlock Holmes, Sie wissen schon. Los geht’s.«

Auf den Straßen schwappte die Menschenmenge zwischen den Häusern hin und her. Es war noch hell, doch die engen Straßen wirkten durch die ungewöhnlich dichte Bebauung dunkler als das übrige Berlin. Passend, denn dieses Viertel war immer ein wenig schwärzer als die anderen.

Falls die Leute sie als Polizisten erkannten, achteten sie nicht darauf. Die Polizei gehörte hier zum Alltag, und solange keine Razzia stattfand, ging alles seinen gewohnten Gang. In der Linienstraße blieb Leo kurz vor dem grauen Mietshaus stehen, in dessen Hof man die Leiche gefunden hatte. »So viele Leute, und keiner will etwas gesehen haben.«

»Bis auf den Lumpensammler.«

»Ja, aber für eine Identifizierung reicht auch das nicht aus«, sagte Leo skeptisch. »Wir gehen zuerst in das Lokal in der Mulackstraße, das Erna Klantes Freundin gehört. Die möchte ich mir gern persönlich ansehen.«

»Die Linienstraße zieht sich ganz schön«, meinte Stankowiak unterwegs. Er sah an den Häusern hoch, von denen teilweise der Putz blätterte und das darunter liegende Mauerwerk preisgab.

Leo war in Gedanken versunken und antwortete nicht. Ihm wollte nicht in den Kopf, dass auf dem Weg von der Mulackstraße, wo der Lumpensammler die Begegnung zwischen Erna und ihrem mutmaßlichen Mörder beobachtet hatte, über die Kleine Rosenthaler bis hin zur Linienstraße niemand sonst das Paar gesehen haben sollte. Zumal am Samstagabend, an dem es im Viertel von Menschen wimmelte. Hier war ein Ansatzpunkt.

Vor der »Roten Hand« blieb er stehen. Stankowiak, der schweigend neben ihm gegangen war, sah ihn fragend an.

Leo nickte.

Aus dem Lokal drang schrilles Frauenlachen, jemand malträtierte ein ungestimmtes Klavier. Als sie gerade die Tür öffnen wollten, klappte diese ruckartig auf und entließ drei Betrunkene samt Freundinnen auf die Straße. Die Gruppe taumelte johlend davon. Die beiden Polizisten zeigten dem Türsteher ihre Dienstausweise und betraten das in rotes Licht getauchte Lokal. Auch innen an der Wand prangte ein Schild in Form einer leuchtend roten Hand. An den Tischen saßen dicht gedrängt die Paare, viele davon angetrunken, manche in ihren Intimitäten schon so weit gediehen, dass sie eigentlich ins Séparée gehört hätten.

Leo und Stankowiak drängten sich zur umlagerten Theke durch, wo Leo sich energisch Platz schuf und der Wirtin Denecke, die dem Kollegen Berns so gefallen hatte, den Ausweis unter die Nase hielt. Sie verdrehte ein wenig die Augen. »Die Herren waren doch schon hier.«

»Wir wollten Sie auch einmal persönlich kennen lernen«, sagte Leo höflich. »Dürften wir Sie um ein kurzes Gespräch bitten?«

»Da kann ich doch nicht nein sagen.« Sie warf ihrem Barmann ein Handtuch zu und deutete auf die frisch gespülten Gläser. »Bin gleich zurück.«

Sie führte die Männer ins Hinterzimmer und schloss die Tür, was den Lärm ein wenig dämpfte. »Ich habe Ihren Kollegen schon alles gesagt.«

»Ich möchte es aber noch einmal von Ihnen persönlich hören. Wissen Sie wirklich nichts über das Bordell, in dem Ihre Freundin früher gearbeitet hat?«

»Was haben Sie nur damit? Das war lange vorbei. Sie hat selten davon gesprochen, weil sie nicht dran denken wollte, wie gut es ihr mal gegangen ist. Der Verschlag war die Endstation, das wusste sie auch. Eine Hure von über fünfzig taugt nichts mehr. Ich selbst hab’s rechtzeitig kapiert.« Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf ihr Lokal.

»Hätten Sie ihr nicht helfen können?«

Wilma Denecke schüttelte den Kopf. »Wollte sie nicht. Hat gesagt, sie gehört nicht hinter die Theke. Was sollte ich machen? Hab ihr ab und an ausgeholfen, aber sie war fertig. Hier.« Sie tippte sich an die Brust. »Kein Mumm mehr drin.«

»Hat sich in letzter Zeit irgendjemand bei Ihnen nach Erna erkundigt?«, fragte Stankowiak.

»Nein, das hätte ich doch längst gesagt.« Sie überlegte. »Den Willy könnten Sie fragen. Der Junge macht manchmal Besorgungen für mich. Wenn jemand wusste, dass sie hier verkehrte, hat er vielleicht den Willy gefragt. Ich ruf ihn mal eben.«

Sie verließ kurz den Raum und kam mit einem etwa sechzehnjährigen Jungen wieder, der vor allem durch seine großen Ohren auffiel, die sich beim Anblick der Polizisten blutrot färbten. »Wat soll ick denn . . .?«

Sie schob ihn ins Zimmer. »Die Herren von der Polizei wollen wissen, ob mal jemand nach der Erna Klante gefragt hat.«

Der Junge sah sich nach allen Seiten um, schien nach einem Fluchtweg zu suchen. Geschickt trat Leo die Tür zu und lehnte sich dagegen. »So, mein Freund. Mir scheint, du hast uns was zu sagen. Zigarette?«

Willy nickte.

»Stankowiak, geben Sie dem Jungen bitte eine Zigarette.«

Stankowiak hielt Willy die Schachtel hin und gab ihm Feuer.

»Setz dich«, sagte Leo freundlich und deutete auf den einzigen Stuhl im Raum. »Wir beißen nicht. Du hast die Frage gehört. Also bitte.«

»Na ja, da war mal eener. So vor zwei, drei Wochen. Hat mir draußen vor der Tür anjesprochen und jefragt, ob ick die Erna kenne. Ick hab ihm erzählt, dat se manchmal herkommt. Er hat jesacht, er hätt se lang nich mehr jesehn und wie se jetzt so aussieht. Also hab ick jesacht, dat se nich mehr so janz frisch is.« Er lief erneut rot an.

»Egal, erzähl ruhig weiter.«

»Det war schon alles. Er hat mir ’ne Mark in die Hand jedrückt und is jejangen.«

»Wie hat der Mann ausgesehen?«, fragte Leo.

Der Junge zuckte die Achseln in der abgetragenen Jacke. »Weeß ick nich.«

»Wie? Er hat doch vor dir gestanden.«

»Schon, aber det war ziemlich duster. So gegen elfe. Schicke Klamotten. Teurer Mantel, braun war der, gloob ick. Hut im Jesicht. Keen Bart. Mehr kann ick nich sagen.«

»Wie klang seine Stimme? Hatte er einen Akzent? Sprach er Berliner Dialekt?«

»Nee, janz normal, eher fein. War eben ’n Herr.«

»Vielen Dank, Willy«, sagte Leo und steckte ihm noch eine von Stankowiaks Zigaretten zu. »Falls dir noch etwas einfällt, kannst du mich im Präsidium anrufen.« Er schrieb seine Nummer auf einen Zettel und gab ihn dem Jungen, der machte, dass er aus dem Zimmer kam.

Dann verabschiedete Leo sich von der Wirtin Denecke. »Was ich dem Jungen gesagt habe, gilt auch für Sie.« Er notierte erneut seine Nummer und sah ungerührt zu, wie Wilma Denecke den Zettel provokant in ihren Ausschnitt schob.

»Jetzt verstehe ich, was Berns an ihr gereizt hat«, meinte Leo trocken, als sie auf der Straße in einem Teich aus rotem Licht standen. »Weiter im Text.«

»Was halten Sie von dem Jungen?«, erkundigte sich Stankowiak. »Wirkt glaubwürdig, aber ob er wirklich alles gesagt hat . . .«

»Sie meinen, er hat den Mann erkannt?«

»Weiß nicht. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut.«

»Der hat vermutlich so manches auf dem Kerbholz, aber ich bezweifle, dass er mehr über Ernas Tod weiß. Und das gilt auch für die Wirtin.« Leo schob die Hände in die Taschen und ging schweigend weiter. Immerhin, die Beschreibungen von Zylberstein, Szylinski und Willy deckten sich. Es konnte sich durchaus um denselben Mann handeln. Doch solange sie keine genaueren Angaben hatten, würde es so gut wie unmöglich sein, ihn zu finden.

Robert Walther, Berns und von Malchow knöpften sich systematisch alle Kaschemmen, Spielstuben und Kellerlokale in den ihnen zugeteilten Straßen vor. Zunächst ohne Erfolg. Nur wenige hatten Erna Klante gekannt, und bei denen war Mitleid das vorherrschende Gefühl. Nicht unbedingt, weil sie ein gewaltsames Ende gefunden hatte, sondern weil man es als alte Hure einfach schwer hatte.

»Mit fuffzich biste hier alt«, meinte ein Mädchen im »Augustkeller«, dem mittlerweile achten Lokal, das sie überprüften. Sie hatte kaum die achtzehn überschritten und trug einen falschen Fuchspelz über der Schulter. »Da kannste det große Geld vergessen. Musst eben nehmen, wat kommt.« Ein Schatten huschte flüchtig über ihr Gesicht, als würde ihr in diesem Augenblick klar, dass auch sie einmal als alte Hure enden könnte.

»Mensch, Trude, überleg mal, da war doch dieser Kerl, der’s nur mit Alten machte«, warf ihre blonde Freundin ein und beugte sich mit einem Glas Likör in der Hand über die Schulter der Jungen.

»Wen meinste denn, Eva?«

»Na, dieser Getreidehändler. Der Dicke mit dem Mondgesicht und der blanken Glatze, hatte immer so ’n komischen runden Hut auf. Kalle, wie hieß noch der Kerl, der sich immer die Alten ausgeguckt hat?«

Die Polizisten sahen einander verwundert an.

Kalle tauchte hinter der Theke auf und wischte sich die Hände an der karierten Schürze ab. »’n Abend, die Herrn. Sind Sie wegen der Erna hier? Armes Luder. Tja, wie hieß der noch?«, fragte er mit Blick auf die Frauen neben sich.

»Der Name passte zur Visage, das weiß ich noch. Blatzmann, nein, Blatzheim, das war’s, ick hab immer Platzheim gesagt. Der Mann ist Getreidehändler. Und der hat uns, wenn er einen zu viel hatte, immer von reifen Frauen vorgeschwärmt. Dass die mehr Erfahrung haben und genau wissen, wat ’n Mann gerne hat. Und dankbar sind, wenn einer sie nimmt. War Ernas einziger Stammfreier.«

Von Malchow notierte sich den Namen. »Wann war er zuletzt hier?«

»Keine Ahnung. Vor zwei Wochen vielleicht.«

»Und bei der Gelegenheit hat er auch die Erna angesprochen?«

»Konnte man die Uhr nach stellen. Er kam rein, trank ’n paar Mollen mit Schnaps dazu, hat politisch geredet, dann hat er sich plötzlich umgesehn und nach der Erna gefragt. Wenn die nich da war, hat jemand sie geholt. Wir haben immer gesagt, der kommt allein für ihre Miete auf.«

»Wissen Sie, ob er nur hier verkehrt?«, fragte Robert.

»Glaube schon. Der ist nämlich das erste Mal zusammen mit der Erna gekommen. Muss an die zwei Jahre her sein. Ich hab mich gewundert, weil er so schnieke aussah. Bisschen neureich. Hat die Erna wohl aufgegabelt und sich hier reinschleppen lassen. Danach ist er immer gekommen, um sie hier zu treffen.«       

»Den schnappen wir uns morgen«, sagte von Malchow, als sie das Lokal verließen.

»Erst erstatten wir dem Kommissar Meldung«, warf Robert scharf ein und hielt von Malchows Blick ungerührt stand.

Leo und Stankowiak standen in einer Kaffeebude Ecke Linienstraße und Grenadierstraße. »Ich muss ein bisschen auftanken«, sagte Leo und deutete auf den Kaffee, »ich habe letzte Nacht schlecht geschlafen.«

»Ihre Tochter?«, fragte Stankowiak ruhig.

Leo sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie das? Ja, ich musste sie letzte Nacht ins Krankenhaus bringen. Diphtherie. Immerhin war der Abend bis jetzt nicht ganz vergebens. Furchtbare Plörre.« Er stellte die Tasse hörbar auf die Theke und warf ein paar Münzen daneben. Er wollte nicht mit Fremden über Marie sprechen.

In diesem Augenblick ertönte Lärm auf der Straße, etwas prallte gegen die Türscheibe, eine junge Frau rutschte von außen am Glas hinunter zu Boden und erbrach sich über ihren falschen Persianer. Leo und Stankowiak eilten instinktiv nach draußen, doch schon schoss auf dem Gehweg ein Mann herbei, trat nach der Frau, riss sie an den Haaren hoch und schleifte sie ein Stück mit. Die Polizisten folgten ihm.

»He, Sie da! Polizei.« Stankowiak hielt den Mann an der Schulter fest und zeigte seinen Ausweis. »Lassen Sie die Frau los.«

»Was soll das? Die gehört mir, die läuft für mich. Wollt mir Geld unterschlagen, das Aas.«

»Is nich wahr«, nuschelte die Frau und wischte sich mit dem Handrücken Blut und Erbrochenes vom Mund. »Ick hab heut nüscht verdient. Ehrenwort.«

Der Lude stieß die Frau gegen einen Laternenpfahl. Leo riss ihn an der Schulter herum und drückte ihn gegen die Hauswand. »Es reicht. Du lässt die Frau jetzt gehen, und wenn morgen eine Meldung bei uns eingeht, dann gnade dir Gott. Kapiert?«

Der Lude nickte eingeschüchtert, und Leo ließ ihn ziehen. Der Mann tauchte in einem dunklen Hofeingang unter, während sich die Hure mühsam aufrappelte und ihr enges Kleid glatt strich. Dann hob sie den Mantel vom Boden auf. »Sauhund«, zischte sie leise und hinkte davon, ohne sich bei den Männern zu bedanken.

Leo wandte sich ab. »Manchmal finde ich diese Stadt zum Kotzen.«

Um eins fanden sich die Beamten am Wagen ein und fuhren gemeinsam ins Präsidium zurück. Von Malchow trug die Ergebnisse vor, die Leo mit einem angemessenen Lob quittierte. »Gute Arbeit, meine Herren. Der Sache Blatzheim gehen wir morgen, besser gesagt, heute nach. Und bleiben an unserem Mantelträger dran. Er muss von mehreren Leuten gesehen worden sein. Die Gegend ist belebt, es kann nicht sein, dass nur der junge Willy und Zylberstein ihn bemerkt haben sollen. Dienstbeginn ist morgen um halb zwölf. Gute Nacht.«

Er wollte jetzt nur raus aus dem Büro, weg von dem Fall. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren mehr als anstrengend gewesen. Die Sorge um Marie hatte ständig im Hintergrund gelauert, und es tat ihm leid, dass er Ilse in dieser Nacht allein ließ. Dennoch konnte er jetzt unmöglich nach Hause fahren. Die Müdigkeit machte ihn seltsam fiebrig, ihm war nicht nach Schlafen zumute.

Dann fiel ihm wieder ein, was er sich für den Dienstschluss vorgenommen hatte.

Das Schöne an Marlen war, dass er um jede noch so ungewöhnliche Zeit bei ihr auftauchen konnte. Sie lebte nach einem völlig anderen Rhythmus als er und wunderte sich nicht, wenn er um zwei Uhr morgens vor ihrer Tür stand.

»Ich bin gerade nach Hause gekommen«, sagte sie und trat zurück, um ihn hereinzulassen. Ihr Bubikopf war silberblond gefärbt und umrahmte ihr Gesicht wie ein schimmernder Vorhang. Sie war keine Frau zum Heiraten, doch Leo kam gern zu ihr, wenn es ihm in der Emdener Straße zu eng wurde. Oder wenn er einen schlechten Tag hinter sich hatte.

»Du siehst müde aus. Nein, eher mitgenommen. Ein schlimmer Fall?«, sagte sie und hängte ihren Abendmantel, den sie achtlos auf einen Stuhl geworfen hatte, an die Garderobe. Dann nahm sie seinen Mantel.

Leo winkte ab und ging wie selbstverständlich ins Wohnzimmer, wo er sich ein Glas Kognak eingoss und in einem weichen Ledersessel Platz nahm.

»Kognak?« Sie sah ihn überrascht an, da Leo sonst nur Bier, höchstens einmal ein Glas Wein trank.

»Heute schon. Marie ist krank, sie hat Diphtherie. Muss ganz allein im Krankenhaus liegen. Und der Fall geht nicht voran. Ach, egal, ich wollte heute Nacht einfach nicht allein sein.«

Sie berührte vorsichtig seinen Arm und schaute ihn von unten her an. »Manchmal glaube ich, du kommst nur zu mir, wenn es dir schlecht geht.«

»Stimmt«, sagte er offen. »Stört dich das?«

Sie schüttelte den Kopf. »Besser als wenn du gar nicht kämst. Möchtest du was essen?«

»Du willst dich mit deinem schönen Kleid doch nicht in die Küche stellen, oder?«

»Was Kaltes hab ich immer da. Augenblick.«

Kurz darauf kam sie mit einem Teller wieder, auf dem eine Frikadelle, eine Essiggurke und ein paar Klappstullen lagen.

»Danke.«

»Und was das Alleinsein angeht – du bist doch nicht allein. Du hast eine Familie.«

Leo kaute nachdenklich. »Schon, aber es ist eben keine, wie soll ich sagen, keine richtige Familie.« Plötzlich kam er sich wie ein Schwein vor. »Ilse tut mehr für uns, als ich je wieder gutmachen kann, aber sie ist eben nicht meine Frau. Ich kann nicht mit ihr reden wie mit meiner Frau, sie nicht berühren wie meine Frau –« Er verstummte und nippte wieder an dem Kognak.

»Ich bin gleich wieder da.« Als Marlen zurückkam, hatte sie ihr silbernes Abendkleid abgelegt und einen schlichten Hausmantel aus Samt übergezogen, der ihren Körper wie eine dunkelrote Haut umschloss. Sie setzte sich auf das Sofa und zog die Füße unter sich. Dann nahm sie das Gespräch dort auf, wo Leo es abgebrochen hatte. Das mochte er an ihr, sie hörte aufmerksam zu.

»Und das kannst du deiner Schwester unmöglich sagen, weil du sie nicht verletzen willst. Und weil du sie brauchst.«

»Wie gut du mich kennst. Manchmal glaube ich glatt, wir beide, du und ich, könnten es miteinander aushalten.« Natürlich wusste er, dass das nicht stimmte, dass Marlen niemals von einem Polizistengehalt leben könnte, dass sie ihre rauschenden Feste und nächtlichen Eskapaden vermissen würde. Dennoch kannte er niemanden, der ihn besser verstand als sie.

»Komm her.« Er stand auf und ging zum Sofa. Sie streckte einen Arm nach ihm aus und zog ihn zu sich herunter. Er ließ es geschehen, obwohl er noch Spuren anderer Männer an ihr zu riechen meinte, Rasierwasser, Leder, Zigarren, Schweiß. Doch heute Nacht war ihm alles egal.