Unruhig schritt er im Wohnzimmer auf und ab. Fasste sich an den rechten Arm. Die Taubheit war noch immer nicht gewichen. Dann und wann bildete er sich ein, eine Besserung zu spüren, wenn er von irgendetwas abgelenkt wurde. War er allein, spürte er wieder das Kribbeln, das Gefühl, als gehöre der Arm einem anderen. Heute Abend würde er Viola auf einer Soirée in Dahlem sehen. Unwillig schüttelte er den Arm, als könnte er sich auf diese Weise von dem seltsamen Fremdheitsgefühl befreien.
Er zündete sich eine duftende Havanna an und trat ans Fenster. Das schöne Juniwetter war einem feuchten Juli gewichen. Vielleicht vertrug er die ungewöhnliche Feuchtigkeit nicht, vielleicht litt er unter einem Anfall von Rheumatismus. War da nicht ein Ziehen im Rücken? Von seiner Mutter hatte er einen leichten Hang zur Hypochondrie geerbt, mit dem er gelegentlich sogar kokettierte.
Und dann war sie da, unvermittelt und heftig traf ihn die Erkenntnis. Jetzt wusste er, woher er den Mann kannte, den er vor dem Präsidium gesehen hatte. Und auch seinen Vornamen.
Das Haus war unauffällig, ein schmales, dreistöckiges Gebäude, das sich nahtlos in die Häuserzeile fügte. Es gab kein Schild, das verraten hätte, was hinter der schlichten Holztür mit dem kleinen Buntglasfenster vorging. Leo klingelte.
»Vielleicht ist es für die Damen noch zu früh«, meinte Walther und sah auf die Uhr.
»Die kommen schon.« Und in ebendiesem Moment wurde von innen ein Schlüssel gedreht, und eine ältere Dame öffnete ihnen die Tür. Nur die allzu kräftige Schminke, auf die Frauen ihres Alters gewöhnlich verzichteten, wies auf ihr Gewerbe hin. Kleidung und Frisur waren schlicht und dezent. »Wir öffnen erst um fünf.« Sie wollte die Tür wieder schließen, doch Leo schob den Fuß dazwischen und zeigte seinen Ausweis vor.
»Frau Elvira Blank? Kommissar Leo Wechsler, das ist Kriminalsekretär Walther. Wir möchten Ihnen einige Fragen stellen.«
Sie war erfahren genug, um sich nicht mit der Kriminalpolizei anzulegen, und trat beiseite, um die Männer hereinzulassen. Der geräumige Flur wirkte plüschiger als die unscheinbare Fassade, der rote Teppich und die vergoldeten Spiegel etwas üppiger als in einem gewöhnlichen Bürgerhaus. Das Büro, in das sie Leo und Robert führte, war hingegen nüchtern eingerichtet.
»Nehmen Sie bitte Platz.« Elvira Blank setzte sich und zündete sich eine Zigarette an, ohne auf Feuer zu warten. Sie stieß eine Rauchwolke aus und sah die Männer fragend an. »Was führt Sie her? In meinem Haus gibt es keine Skandale.«
»Wir kommen in einer Angelegenheit, die bereits länger zurückliegt. Es geht um eine Angestellte, die vor Jahren für Sie gearbeitet hat. Frau Erna Klante.«
Elvira Blank sah Leo überrascht an. »Die Erna? Das ist doch ewig her. Wir haben uns ohne Streit getrennt. Ich weiß nicht, ob Sie . . . jedenfalls war sie krank, und ich habe ihr bei der Behandlung ein bisschen unter die Arme gegriffen. Natürlich konnte ich sie nicht weiterbeschäftigen, das Risiko war einfach zu groß.«
»Sie litt an Syphilis?«, fragte Robert geradeheraus und sah, wie Frau Blank ein wenig zusammenzuckte. Das Wort konnte selbst in diesen Kreisen noch immer Furcht und Schrecken hervorrufen.
»Ja. Man hatte damals gerade dieses neue Mittel entdeckt, Salvarsan oder wie das heißt. Es war nicht unumstritten, aber Erna wollte nicht sterben. Sie hatte Angst. Da habe ich ihr Geld gegeben.«
»Und sie wurde geheilt?«
»Ich glaube schon.«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
Frau Blank überlegte nicht lange. »Damals, 1911 muss das gewesen sein. Ich nannte ihr den Namen einer Kollegin, an die sie sich wenden sollte. Ihr Haus ist nicht so exklusiv wie meins, aber immer noch besser als die Straße. Verstehen Sie, Erna war nicht nur krank, sie war auch keine zwanzig mehr. Moment, da fällt mir etwas ein. Vor ein paar Wochen hat jemand nach ihr gefragt.«
»Wer war das?«
»Er hat am Telefon seinen Namen nicht genannt, wollte nur wissen, ob sie noch hier arbeitet. Ich sagte, dass sie schon lange nicht mehr bei mir wäre. Vermutlich ein alter Kunde.«
»Haben Sie ihm auch den Namen des anderen Bordells genannt?«
»Ja. Es ist schließlich kein Geheimnis, wo Erna von hier aus hingegangen ist. Aber ob sie noch da arbeitet –«
Leo beugte sich vor und verschränkte die Hände. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Wissen Sie, ob sich Freier bei ihr angesteckt haben?«
Frau Blank schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Gehört habe ich jedenfalls nichts dergleichen. Aber worum geht es überhaupt?« Sie stand auf und holte aus einem Schrank eine neue Schachtel türkische Zigaretten. Mit einer eleganten Bewegung nahm sie eine heraus, steckte sie an und inhalierte tief. Als sie den Rauch ausstieß, wogte er als üppig duftende Wolke um ihren Kopf.
»Erna Klante wurde ermordet. In einem Hinterhof in der Linienstraße.«
»In der Linienstraße? Wie kam sie dorthin? Hat sie etwa da gewohnt?«, fragte Frau Blank ehrlich überrascht.
»Ja. Und hat in der Gegend wohl auch ihren letzten wertvollen Besitz verpfändet.« Leo holte zum dritten Mal an diesem Tag die Brosche hervor und zeigte sie der Bordellbesitzerin.
Sie nickte. »Ja, die hat der Erna gehört. Sie war so stolz darauf. Extra für sie angefertigt, die dürfte nicht billig gewesen sein. Der Kunde hatte wohl einen Narren an ihr gefressen.«
»Kannten Sie ihn?«, fragte Robert rasch.
»Ja, aber ich spreche nicht über meine Kunden«, entgegnete die Bordellbesitzerin ebenso rasch. »Das ist Ehrensache.«
»Und wenn ich Ihnen sage, dass der Kunde Kurt Dießing hieß und heute als Abgeordneter im Reichstag sitzt?«, fragte Leo.
»Dann werde ich Sie vielsagend anschauen und schweigen.«
»Wir ermitteln in einem Mordfall und können daher keine Rücksicht nehmen«, sagte Leo betont offiziell. »Falls Sie sich namentlich an Kunden erinnern, die mit Erna Klante verkehrt haben, fordere ich Sie auf, die Namen zu nennen.«
Frau Blank schüttelte den Kopf. »Herr Kommissar, es ist lange her. Wie soll ich mich da an jeden einzelnen Kunden erinnern? Und wer welche Mädchen bevorzugt hat? Sie erwarten zu viel von mir.«
»Könnte Erna Klante einen Freier angesteckt haben?«, fragte Leo erneut. »Zwischen dem Zeitpunkt der Ansteckung und der Behandlung ist sicher eine gewisse Zeit vergangen.«
»Das mag sein. Es täte mir leid, gehört aber zu den Gefahren, die nicht ganz auszuschließen sind, wenn man ein Haus wie meins besucht. Natürlich passe ich auf meine Mädchen auf, aber ich stehe nicht neben dem Bett, wenn Sie mich verstehen.« Sie drückte energisch ihre Zigarette aus. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich von niemandem weiß, der sich bei der Erna die Franzosenkrankheit geholt hätte. Aber es gibt eben nicht nur Stammkunden, die ich persönlich kenne und deren Wegbleiben ich bemerken würde, sondern auch flüchtige Besucher, die einmal und nie wieder kommen. Wenn sich einer von denen angesteckt hat –« Sie zuckte mit den Schultern.
Robert wollte sich nicht damit abfinden, dass sie Ernas Vergangenheit so nahe gekommen waren und doch nichts Handfestes mit nach Hause nehmen sollten. »Frau Blank, können Sie sich an irgendetwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit Erna Klante erinnern? Streit, Eifersüchteleien unter Frauen, Intrigen, was auch immer?«
»Irgendetwas, das aus dem normalen Ablauf herausstach und das Sie nicht vergessen haben?«, fügte Leo hinzu.
Sie überlegte, schüttelte den Kopf, zündete sich die nächste Zigarette an. Leo hob leicht die Brauen. Dann: »Ja, da war mal etwas. Aber es hat sicher nichts zu bedeuten, es war nur Kinderkram.«
»Es interessiert uns dennoch.«
»Na ja, es muss so um die Zeit gewesen sein, kurz bevor Erna bei mir aufhörte. Da kamen ein paar junge Leute vorbei, sicher aus gutem Haus, aber furchtbar albern und leichtsinnig. Sie hatten einen Freund im Schlepptau, einen schüchternen Kerl, der anscheinend noch Jungfrau war. Den haben sie zur Erna geschickt und im Voraus bezahlt. Das war vielleicht ein Johlen und Krakeelen, die hatten schon eine Menge intus. Er wollte nicht so recht rein ins Zimmer, hat sich mit Händen und Füßen gewehrt. Jedenfalls haben sie ihn irgendwie reinbugsiert. Und die Erna hat ihn in die Liebe eingeweiht. Er ist ganz schön lange geblieben, hat das Geld weidlich ausgenutzt. Die Ruhigen sind meist die Schlimmsten, haben’s faustdick hinter den Ohren.«
»Ist ein solcher Vorfall in Ihrem Haus denn so ungewöhnlich?«, hakte Leo nach.
»Eigentlich nicht. Solche Geschichten kommen bei übermütigen jungen Leuten öfter vor. Ich hab auch nur daran gedacht, weil ein Stammkunde dabei war.«
Leo und Robert sahen sich an. »Ein Stammkunde?«
»Ja, der Herr von Malchow. Er kam früher oft her. Mittlerweile ist er sich wohl zu gut für mein Haus. Sie würden sich übrigens wundern, wer hier so alles verkehrt.«
»Etwa Herbert von Malchow?«
»Genau, so hieß er.«
»Sie wollen sagen, er war einer der Männer, die den Burschen zu Erna Klante geschleppt haben?«
»Ja. Ist doch kein Verbrechen, oder?«
»Erinnern Sie sich an den jungen Mann?«, fragte Leo drängend.
»Nicht daran, wie er ausgesehen hat. Er wirkte schüchtern, ein wenig unscheinbar.«
»Und Sie meinen, es könnte zu der Zeit gewesen sein, in der Erna Klante schon krank war?«
»Möglich. Es war einige Jahre vor dem Krieg, so viel steht fest. Näheres kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Haben andere Damen etwas davon mitbekommen? Könnten sie sich vielleicht an das Aussehen oder die Namen der Männer erinnern?«
Elvira Blank lachte. »Meine Mädchen wechseln alle paar Jahre. Überlegen Sie mal, zehn oder elf Jahre sind eine lange Zeit, gerade in unserem Gewerbe. Nur die Hertha ist noch von früher da. Soll ich sie rufen?«
»Bitte.«
Sie verließ kurz das Büro, und Leo sah Robert an. »Sag jetzt nichts. Ich kann es auch nicht glauben.«
Die Tür ging auf, und eine üppige Frau mit rotem Bubikopf und fahlweißer Haut betrat das Zimmer. Sie blieb wartend stehen, bis Frau Blank die Männer vorstellte. »Das ist Hertha Weiß, meine rechte Hand. Sie war damals schon im Haus.«
Leo erkundigte sich nach dem Zwischenfall, doch Hertha konnte sich an nichts erinnern.
»Tut mir leid, davon weiß ich nichts. Und die Erna ist tot? Das arme Ding.«
»Sie haben also nichts davon mitbekommen? Niemand hat später davon gesprochen?«
»Nee. Und wissen Sie auch, warum? Weil es nicht ungewöhnlich war. Als Mutprobe ins Bordell, das machen viele junge Kerle. Darüber redet man gar nicht weiter.«
»Aber Frau Blank hat sich daran erinnert.«
»Nur weil Sie mich so nach Erna und der Zeit damals gefragt haben und weil der eine ein guter Kunde war«, warf die Bordellbesitzerin ein.
Leo und Robert standen auf. »Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie mich bitte im Präsidium an. Hier ist meine Nummer.« Er schrieb sie auf. »Und noch etwas. Ich brauche den Namen der Freundin, zu der Sie Erna geschickt haben.« Er notierte sich die Angaben und verließ mit Robert das Haus.
Im Wagen sah Robert Leo von der Seite an. »Was wirst du wegen von Malchow unternehmen?«
Leo zuckte mit den Schultern. »Mir fällt schon etwas ein.«
Robert fragte sich, ob sein Freund wirklich so gelassen war, wie er sich gab.
»Wie sieht es aus, von Malchow?«
Die gesamte Kommission saß in Leos Büro und tauschte die Ergebnisse der Ermittlungen aus. Nur dass Herbert von Malchow an der Bordellgeschichte beteiligt gewesen war, hatte Leo bislang verschwiegen.
»Blatzheim wohnt in Spandau«, sagte von Malchow. »Hier ist die Adresse.«
Leo sah ihn überrascht an. »Verstehe ich Sie richtig? Während Robert Walther und ich in Potsdam, bei Herrn Dießing in Zehlendorf und bei Frau Blank waren, haben Sie lediglich die Adresse festgestellt? Soll das ein Witz sein?« Die anderen sahen angestrengt weg. Wenn Leo in dieser Stimmung war, verhielt man sich am besten möglichst unauffällig. Leo tippte mit einem Stift gegen seine Kaffeetasse, während er auf eine Antwort wartete.
»Ich hatte nicht den Auftrag, die fragliche Person aufzusuchen.«
»Ich habe aber auch nicht gesagt, dass Sie es nicht sollen, von Malchow«, sagte Leo betont ruhig. »Von meinen Mitarbeitern erwarte ich, dass sie mitdenken. Selbständiges Handeln ist kein Verbrechen.«
Von Malchow atmete scharf ein. Leo sah auf die Uhr. »Gut, es ist spät, machen wir Schluss. Morgen früh um acht Uhr dreißig besprechen wir das weitere Vorgehen. Herr von Malchow, Sie bleiben bitte noch hier.«
Leo setzte sich bedächtig und faltete die Hände auf dem Schreibtisch.
»Sie haben mir Informationen über diesen Fall vorenthalten.«
Von Malchow zog die Augenbrauen hoch. »Tatsächlich?«
»Bei dem Gespräch mit der Bordellwirtin Blank fiel auch Ihr Name.«
Von Malchow sah ihn ehrlich überrascht an. »Da bin ich ewig nicht mehr gewesen. Außerdem ist es wohl kaum verboten, ein Freudenhaus aufzusuchen. Dann säße ja halb Berlin hinter Gittern.«
Leo unterbrach ihn unwirsch. »An moralischen Urteilen bin ich nicht interessiert, aber wenn es eine Verbindung zwischen Ihnen und unserem Fall gibt, möchte ich das gerne wissen. Wer war der junge Mann, der damals seine Unschuld verloren hat?«
Von Malchow schien etwas zu dämmern. »Ach Gott . . . diese Geschichte meinen Sie? Den kannte ich nicht. Hatte ihn nie zuvor gesehen.«
»Können Sie mir das näher erklären?«
»Lassen Sie mich nachdenken, es ist ja Jahre her. Ich war unterwegs an dem Abend und traf zufällig ein paar Bekannte, die diesen Burschen im Schlepptau hatten. Sie hatten irgendwie rausgefunden, dass er noch nie was mit einer Frau gehabt hatte, und wollten ihm eine Freude machen. Ich fand die Idee ganz amüsant und schlug Elviras Etablissement vor, in dem ich häufiger verkehrte. Das ist alles. Ich habe nicht einmal mitbekommen, wie er hieß.«
»Gut, das war die eine Sache. Anders sieht es mit Erna Klante aus. Wie konnten Sie mir Ihre Bekanntschaft mit dem Opfer in einem Mordfall verschweigen, den unsere Kommission zurzeit bearbeitet?«, fragte Leo schneidend.
Von Malchow sah ihn verständnislos an, worauf Leo die Photographien der Ermordeten aus einer Mappe nahm und sie dem Kollegen hinwarf. »Haben Sie die Akten etwa nicht aufgearbeitet, als Sie meiner Kommission zugeteilt wurden? Schauen Sie genau hin. Und stellen Sie sich vor, sie wäre zehn, elf Jahre jünger. Gepflegter.«
»Ja und?«
Leo hatte allmählich genug. »Sie sind mit Ihren Freunden bei Erna Klante gewesen, haben diesen jungen Mann mehr oder weniger gegen seinen Willen zu ihr geschleppt. Haben ihn dazu gebracht, mit einer möglicherweise an Syphilis erkrankten Prostituierten zu schlafen!« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Das ist . . . ich habe doch nicht gewusst, was mit ihr los war! Oder wie sie hieß! Meinen Sie etwa, ich frage eine Prostituierte nach ihrem Familiennamen? Die heißen bei den Kunden entweder Erna oder Rosa oder Dora, das merkt sich doch kein Mensch.«
»Ihr Umgang interessiert mich nur insoweit, als er mit dem vorliegenden Fall in Verbindung steht«, versetzte Leo eisig. »Ihr Verhalten hingegen zeigt mir, dass Sie mich entweder wissentlich belogen oder die Unterlagen des Falles nicht genau studiert haben. Ich werde darum bitten, dass man Sie wegen Befangenheit von diesem Fall entbindet, Herr von Malchow. Guten Tag.«
Leo stand vor dem Blumengeschäft und überlegte. Doch dann fielen ihm Ilses Worte wieder ein, dass er sich schon als Junge freigekauft hätte, wenn es Schwierigkeiten gab. Nein, Blumen waren keine gute Idee.
Zu Hause legte er den Schlüssel auf die Garderobe, zog den Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Ilse saß im Wohnzimmer und las.
»Guten Abend.«
Sie schaute hoch. »Guten Abend, Leo.« Es klang abwartend.
Er ging ins Kinderzimmer, um Georg gute Nacht zu sagen, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser und setzte sich zu Ilse. Er drehte das Glas in den Händen und überlegte.
»Ich habe dir übrigens nichts mitgebracht«, sagte er schließlich.
Sie sah ihn erstaunt an. »Wie meinst du das?«
»Ich habe nichts mitgebracht, damit du nicht denkst, ich wollte mich wieder freikaufen. Es tut mir leid. Dass ich gestern nicht angerufen habe, meine ich. Ich betrachte es aber nach wie vor als mein Recht, eine Nacht bei einer Frau zu verbringen.«
Ilse sagte noch immer nichts.
»Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt, aber . . . aber ich wollte einfach mit ihr zusammen sein. Natürlich mache ich mir Sorgen um Marie, das hatte überhaupt nichts mit ihr zu tun.«
»Ich weiß. Es ist nicht leicht für dich und auch nicht für mich. Nicht verheiratet zu sein, meine ich. Geschwister sollten nicht wie Mann und Frau zusammenleben.« Sie errötete. »Du weißt schon, wie ich es meine.«
»Ja, Ilse. Aber wenigstens ist so keiner von uns allein.« Er stellte sein Glas ab. »Meinst du, ich kann um diese Zeit noch mal ins Krankenhaus?«
Sie nickte. »Ihr Zustand ist unverändert, aber sie freut sich bestimmt, wenn du zu ihr hereinschaust.«
Erleichtert machte Leo sich auf den Weg zum Krankenhaus. Ein länger schwelender Streit oder stummes Nebeneinanderleben wäre ihm unerträglich gewesen.
Marie schlief. Er klopfte leise ans Fenster, aber sie schien ihn nicht zu hören. Hoffentlich spürte sie dennoch, dass er da war. Auf dem Flur erwischte er einen Arzt und erfuhr, dass sich ihr Zustand immerhin nicht verschlechtert hatte. Die nächsten beiden Tage waren entscheidend.
Leo wollte schon nach Hause gehen, doch dann fiel ihm noch etwas ein. Er ließ sich den Weg zur Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten erklären und fragte dort nach einem Arzt, der sich mit Syphilis auskannte.
»Damit kennen sich hier alle aus«, antwortete die Schwester trocken und winkte einen Arzt herbei, der gerade den Kittel ausziehen wollte. »Herr Dr. Opitz, der Kommissar möchte etwas über Syphilis wissen.«
Der Arzt, der ziemlich müde wirkte, führte Leo in ein Besprechungszimmer und bot ihm einen Stuhl an. »Ich hoffe, Sie erwarten keine Sittengeschichte von der Entdeckung Amerikas bis zur Gegenwart, Herr Kommissar. Ich habe nämlich Feierabend. Nach sechzehn Stunden.«
»Keine Sorge, ich habe nur einige kurze Fragen. Wie wird Syphilis heute behandelt?«
»Vor allem mit Neosalvarsan. Es ist seit einigen Jahren auf dem Markt und das beste Mittel, wir haben gute Erfolge damit erzielt. Sein Vorläufer Salvarsan hatte teilweise heftige Nebenwirkungen, die man bei dem Nachfolgemedikament eindämmen konnte.«
»Wäre es denkbar, dass vor zehn, elf Jahren hier in Berlin Menschen mit diesem Mittel geheilt wurden?«
»Durchaus. Vorausgesetzt, sie hatten den Mut, das neue Mittel zu probieren. Es gab damals heftige Auseinandersetzungen, die Mediziner waren in zwei Lager gespalten, was den Patienten auch Angst gemacht hat. Aber die frühere Behandlung mit Arsen war weitaus gefährlicher und besaß kaum Aussicht auf Erfolg.«
»Und wenn man Syphilis nicht behandelt?«
»Manche Patienten genesen, doch das kommt eher selten vor. Wir teilen die Erkrankung in vier Stadien ein. Das letzte Stadium, die sogenannte Paralyse, stellt einen Befall des Gehirns dar, dessen Nervenzellen zerstört werden. Sie kann sich sehr unterschiedlich auswirken, ist letztlich aber tödlich. Sprachstörungen, Lähmungserscheinungen, Wahnsinn, all das ist in diesen Fällen denkbar. Wird hingegen das Rückenmark befallen, sprechen wir vom Tabes dorsalis. Er ist ebenfalls eine schwere Erkrankung, die jedoch meist nicht unmittelbar zum Tode führt.«
Leo machte sich Notizen. »Wie lange dauert es gewöhnlich, bis das vierte Stadium eintritt?«
Der Arzt legte die Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. »Auch das ist unterschiedlich. Vom Zeitpunkt der Infektion an können zehn, wenn nicht sogar zwanzig Jahre vergehen, bis der Patient das letzte Stadium erreicht.«
Er stand auf. »Kommen Sie mit.«
Der Arzt führte Leo durch einen langen, kahlen Korridor und öffnete eine Tür. »Unser kleines Archiv. Keine Angst, es sind nur Photographien. Ich habe nicht vor, Ihnen meine Patienten vorzuführen.«
Er legte eine Mappe auf den Tisch, der im Zimmer stand, entnahm ihr eine Reihe Photographien und breitete sie aus. »Ich habe zahlreiche Fälle dokumentiert.«
Leo beugte sich mit einem etwas flauen Gefühl darüber. Er hatte nie persönlich mit der Krankheit zu tun gehabt, aber ihr Ruf reichte aus, um ihm Unbehagen zu bereiten. Er sah Aufnahmen von Hautstellen, die mit Geschwüren und roten Flecken übersät waren. Von Geschwüren zerfressene Hände. Ganzkörperaufnahmen von Menschen, die blicklos in die Kamera starrten, mit schräg gelegtem Kopf und gekrümmtem Rücken. Großaufnahmen von Augen mit ungewöhnlich weiten oder engen oder auch unterschiedlich großen Pupillen. Bettlägerige, die reglos vor sich hin starrten.
»Diese Geschwüre«, der Arzt deutete auf die betreffenden Aufnahmen, »zeigen das dritte Stadium. Die Erscheinungen auf der Haut sind nicht immer so extrem. Die Syphilis ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern, das macht einen Teil ihrer Gefahr aus. Trotz der Heilmittel, die in den letzten Jahren entwickelt wurden, ist es noch immer eine schwere Erkrankung. Ein Tabu. Man spricht nicht darüber, und die Erkrankten fühlen sich auch heute noch oft wie Aussätzige. Wir haben viel erreicht, aber der Weg ist noch lang.«
Leo atmete tief durch. »Danke, Herr Dr. Opitz, das war sehr aufschlussreich. Eine Frage noch: Könnte ein Mensch diese Erkrankung verheimlichen?«
»Eine gewisse Zeit schon. Das Endstadium aber raubt dem Kranken nach und nach die Kontrolle über seinen Körper, so etwas lässt sich nicht verbergen.«
Leo bedankte sich noch einmal und verabschiedete sich von dem Arzt. Auf dem Heimweg konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass er soeben ein entscheidendes Gespräch geführt hatte.
Er verstand nichts mehr, die Welt um ihn herum schien sich aufzulösen. Die Rückfahrt im Taxi war entsetzlich gewesen. Regen prasselte gegen die Scheiben, ein Gewittersturm rüttelte den Wagen förmlich durch. Er hielt den Haltegriff umkrampft, als fürchtete er, aus dem Wagen geschleudert zu werden. Nur nach Hause. In die vertraute Umgebung. Allein sein.
Er fuhr sich durch das regenfeuchte Haar, wollte sich an den Abend erinnern, doch sobald er sich auf Einzelheiten konzentrierte, verschwamm alles. Dann, als hätte jemand einen Schalter betätigt, fügten sich die Bilder zusammen und wurden scharf.
Zu Beginn war alles wie immer gewesen. Elegant gekleidete Herren im Smoking, Damen in den neuesten Abendroben, dezente Musik, Kerzen in silbernen Kandelabern, gepflegtes Geplauder. Ungeduldig hatte er immer wieder zur Tür geschaut, auf Viola gewartet. Dann und wann strich er sich unwillkürlich über den Arm, der sich immer noch ein wenig leblos anfühlte.
Als sie eintrat, war sie nicht allein. Überrascht wollte er auf sie zugehen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Die Vertrautheit, mit der sie den jungen Mann an ihrer Seite ansah, die Selbstverständlichkeit, mit der dieser ihren Arm nahm und sie in den Salon führte. Hatte er sich geirrt, lag eine Verwechslung vor? Aber nein, er kannte doch seine Viola.
Er folgte ihr in den Salon, und als sie ihn endlich sah, kam sie völlig ungezwungen auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »Wie schön, Sie zu sehen. Darf ich Ihnen einen guten Bekannten vorstellen, Herrn Peter Cornelissen?«
Ihr Begleiter verbeugte sich.
Er selbst stellte sich auch vor, streckte die Rechte im weißen Glacéhandschuh aus. »Angenehm.« Als Cornelissen beiseite trat, um zwei Gläser Champagner von einem Tablett zu nehmen, ergriff er die Gelegenheit.
»Viola, Sie denken doch an unsere Verabredung? Wir wollten morgen am Wannsee spazieren gehen.«
Sie sah ihn verwundert an. »Davon ist mir nichts bekannt. Außerdem ist Herr Cornelissen aus Hamburg zu Besuch gekommen, ich werde ihn in den nächsten Tagen durch Berlin führen und kann daher keine anderen Verabredungen wahrnehmen.«
»Aber mein Brief . . .«
»Welcher Brief? Ich habe keinen Brief von Ihnen erhalten.« Sie schaute sich ein wenig hilfesuchend nach ihrem Begleiter um. »Da muss ein Missverständnis vorliegen.«
»Nein, ich habe, ich wollte –« Er war auf sie zugetreten und hatte die Hand auf ihren Arm gelegt. Sie zuckte ein wenig zurück. Er griff fester zu. Sie wich nach hinten aus und prallte gegen Herrn Cornelissen.
»Was ist denn, Liebes?« Er schaute auf Violas Arm. »Mein Herr, würden Sie Fräulein Cramer bitte loslassen!«
Daraufhin drehte er sich abrupt um und verließ beinahe im Laufschritt den Salon. Zum Glück brauchte er nicht lange auf ein Taxi zu warten.
Er zermarterte sich den Kopf. Schaute in die Briefablage auf dem Schreibtisch, ging die Unterlagen darin dreimal durch, nichts. Also hatte er ihn abgeschickt. Also hatte sie ihn belogen, weil sie lieber diesen Cornelissen traf. Er ballte die Faust. Schließlich gab er sich die Blöße und erkundigte sich bei seiner Haushälterin.
»Sie wissen doch, ich nehme die Briefe aus der Schale auf dem Tisch und gebe sie Hannes, der sie zur Post bringt. Ich würde mir nie erlauben, die Adressen zu lesen.«
Das hatte man nun von loyalen Dienstboten. Es kam ihm vor wie ein Albtraum. Er erinnerte sich genau an den Wortlaut des Briefes, seine schöne Schrift in schwarzer Tinte, das feine graue Büttenpapier mit dem Wellenrand.
Er setzte sich an den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Sein Leben entglitt ihm, das spürte er. Plötzlich geschahen Dinge, die er sich nicht erklären konnte. Der taube Arm. Der verschwundene Brief. Eine Macht, der er sich nicht widersetzen konnte, schien von außen auf ihn einzuwirken. Er lehnte sich zurück. Zog noch einmal die Schreibtischschubladen auf, die er schon mehrmals geöffnet hatte.
Und entdeckte beim Blick in die unterste Schublade den Brief.