Prolog

»Na los, Kleiner, nicht so schüchtern.« Nie würde er die Worte vergessen. Den Geruch in dem heißen Raum mit seiner üppiggeschmacklosen Dekoration, den blutroten Samtportieren und dem goldenen Spiegel. Das schwere Parfüm, das sinnlich wirken sollte, aber nur schwül und abstoßend war. Die Rufe spielender Kinder unten auf der Straße, die nicht wussten, was hinter den Fenstern des unauffälligen Hauses geschah. Die feuchten, sauren Flecken, die sich unter seinen Achseln gebildet hatten. Seinen trockenen Mund, in dem die Zunge am Gaumen klebte. Und die Frau im geöffneten Negligé, die mit gespreizten Beinen auf dem Bett lag und die ganze Szene mit einer Mischung aus Langeweile und Belustigung betrachtete.

»So ein großer Kerl und noch Jungfrau«, sagte einer spöttisch. »Herbert, schubs ihn mal.«

»Bitte schön.« Der Angesprochene stieß ihn ein Stück näher ans Bett. Er senkte den Kopf, als könnte er so seine Scham verbergen, verriet sich aber durch seine verkrampfte Haltung, die Hände, die sich in die Hosennaht krallten.

»Wenn ihr nicht bald zur Sache kommt, wird’s richtig teuer«, sagte sie mit einer lässigen Handbewegung. Ihre Lippen waren blutrot, das Rouge ließ ihre blasse Haut wie Porzellan aufschimmern. Eigentlich war sie nicht hässlich, hatte er flüchtig gedacht und sich gewundert, dass er zu einer so nüchternen Überlegung fähig war.

Doch dann stieß ihn jemand von hinten, zerrte an seinem Jackett, riss ihm den Hosenschlitz auf, dass ihm die heiße Röte ins Gesicht schoss, und er hörte sie »Herbert, Herbert!« rufen, und er ließ alles mit sich geschehen, hörte ihr Johlen, als sie ihn aufs Bett stießen, auf die Frau.

Herbert zerrte, angefeuert von den Kameraden, an seinen Schuhen, dann an seiner Hose, und die Frau bewegte sich unter ihm und sagte, als sie seine Erektion sah: »Immer sachte, du kommst ja dran«, was eigentlich am schlimmsten war. Sie würde glauben, dass er es insgeheim wollte, dass ihm nur der Mut fehlte, und tief im Inneren spürte er, dass sie Recht hatte. In diesem Augenblick, der sein Leben für immer in zwei Hälften spalten würde, wollte er sie. »Na los, enttäusch sie nicht!«, schrie Herbert heiser. Und als die Tür hinter seinem letzten grölenden Kameraden zugeschlagen war, riss er mit beiden Händen ihr Negligé herunter.

Als der Rausch vorbei war, lag er neben der Frau, auf angenehme, nie gekannte Weise erschöpft. Seine Begierde hatte über die Scham gesiegt. Doch als er sich zu ihr drehte und ihr Gesicht aus der Nähe sah, die Falten um Augen und Mund, nur unzureichend von der Schminke verdeckt, und die wässrig blauen Augen, deren Augäpfel rot geädert waren, kehrte sein Abscheu zurück.

Seine sogenannten Freunde, auf die sein Vater größten Wert legte, hatten ihn in dieses Haus gebracht. Freunde aus guter Familie, die ein zügelloses Leben führten, gegen alle Regeln verstießen, ihre Untaten aber geschickt verbargen. Sie hatten sich über ihn lustig gemacht, und er argwöhnte insgeheim, dass sein Vater hinter dieser erzwungenen Entjungferung steckte. Seine Mutter hätte nie geduldet, dass er sich mit einer solchen Frau abgab, sie berührte, sie –

Aber sein Vater fand ihn zu weich, das hatte er oft gesagt. Zu weich, um die Firma zu übernehmen, zu weich, um in der anspruchsvollen Berliner Gesellschaft etwas zu gelten. Zu weich, um zum Militär zu gehen, dabei litt er doch an Asthma. Das hatte seine Mutter ihm erzählt. Dass er als Junge im Bett nach Atem gerungen, dass sie sich um ihn gesorgt hatte. Zwar hatte er nie etwas davon gemerkt, doch bei der Musterung befand man ihn für untauglich. Seine Mutter hatte eben Beziehungen gehabt.

Er war froh gewesen, als er das Bordell verlassen und zu Hause ein gründliches Bad genommen, die Frau von sich abgewaschen hatte. Und allmählich gelang es ihm, die Erinnerung an sie fortzuschieben.