Robert hatte es sich in seiner kleinen Wohnküche gemütlich gemacht. Da er alleinstehend war, brauchte er nicht viel Platz, und die schönen Wochenenden verbrachte er ohnehin im Schrebergarten. Er stellte eine geöffnete Flasche Bier auf die karierte Wachstuchdecke und setzte sich, wobei er dachte, wie nett es doch war, bei der Arbeit mal ein gepflegtes Bier zu trinken. Dann holte er das Schulheft aus der Tasche und schlug es auf. Vorn hatte Leo das hauchdünne Blatt Papier mit den Notizen, das er im Terminkalender gefunden hatte, hineingelegt. Robert platzierte Schulheft und Blatt nebeneinander.
Aus dem Büro hatte er noch Leos Aufzeichnungen zu den Initialen V. D. und die Niederschrift der Aussage Frau von Dreesens geholt. Dieser Fall schien so weit klar. Der Ehemann hatte seine masochistischen Neigungen ausgelebt, sich Sartorius anvertraut, war später damit erpresst worden und hatte sich daraufhin das Leben genommen. Ähnlich klar lag die Sache auch bei Verena Moltke. Womit feststand, dass Sartorius in diesen beiden Fällen leer ausgegangen sein dürfte. Ein Selbstmord und eine Familie, die keinen allzu großen Wert auf den Ruf der Tochter und Schwester legte.
Wie kam es, dass nur V. M., V. D., P. W. und M. E. auf dem Blatt standen – hatte er nur bei ihnen Erpressungsversuche unternommen? Oder waren es die »säumigen« Zahler? Hatte er die erfolgreichen Fälle bereits ad acta gelegt?
Robert nahm das Schulheft und schaute sich den Schlüssel an.
A – D
B – E
C – F
D – G
E – H
F – I
G – J
H – K
I – L
J – M
K – N
L – O
M – P
N – Q
O – R
P – S
Q – T
R – U
S – V
T – W
U – X
V – Y
W – Z
X – A
Y – B
Z – C
Wie simpel. Jeder Buchstabe war einfach durch den jeweils dritten nachfolgenden Buchstaben des Alphabets ersetzt worden. Auf den ersten Blick entstanden dabei Wortungetüme wie DQVWHFNXQJ, das sich jedoch mühelos als ANSTECKUNG entschlüsseln ließ. Gewiss wären sie bei längerem Überlegen auch von allein darauf gekommen. Die Häufigkeit der einzelnen Buchstaben ließ immerhin Rückschlüsse zu. E war der häufigste Buchstabe im Deutschen, also musste man zunächst nach seiner Entsprechung suchen. Dann hätte Leo sich den Weg in die Wohnung sparen können. Andererseits stimmte das auch nicht so ganz. Eine erneute Durchsuchung der Wohnung war ohnehin erforderlich, da sie dort womöglich weitere Unterlagen zu den Erpressungsversuchen finden würden. Geheime Konten, Schließfächer mit Bargeld, was mochte ihnen wohl alles entgangen sein? Sartorius war erstaunlich wohlhabend gewesen.
Er nahm sich einen Notizblock, schrieb den ersten Absatz zu M. E. ab und den Klartext daneben.
HQGVWDGLXP VBSKLOLV, DQVWHFNXQJ EHL ERUGHOOEHVXFK, QHXQCHKQ HOI, DXI JXWHQ UXI EHGDFKW.
ENDSTADIUM SYPHILIS, ANSTECKUNG BEI BORDELLBESUCH, NEUNZEHN ELF, AUF GUTEN RUF BEDACHT.
Verdammt. Er schlug mit der flachen Hand auf das Heft. Gleich beim ersten Versuch. Leo hatte Recht gehabt. Das hier konnte die Verbindung zwischen den beiden Mordfällen sein. 1911, Ansteckung im Bordell bei Erna Klante, später irgendwann eine Konsultation bei Sartorius, dann die Erpressung. Der Mann war auf seinen Ruf bedacht und konnte sich die Behandlung bei einem Heiler leisten, was auf eine gewisse gesellschaftliche Stellung schließen ließ. So weit, so gut.
NUDQNKHLW ZHLW IRUWJHVFKULWWHQ.
KRANKHEIT WEIT FORTGESCHRITTEN. Er spürte, er kam der Sache näher. Und beim nächsten Satz wusste er Bescheid.
VWDUUH SXSLOOHQ.
STARRE PUPILLEN.
In der Zeitung stand nichts. Das beunruhigte ihn. Ein Polizistenmord wäre gewiss eine Meldung wert gewesen. Entweder hatte man Wechsler noch nicht gefunden – oder er war nicht tot. Er schaute auf seine bloßen Hände, sah nicht die verhassten Flecken, nur das Zittern. Bislang hatte er nicht gezittert. Doch hatte er bislang auch keine Angst verspürt.
Auf einmal fühlte er sich in seinem eigenen Haus nicht mehr sicher. Die Wände schienen Augen zu haben, im Korridor knarrten die Dielen. Er spähte hinaus. Niemand zu sehen.
Unbewusst rieb er sich den rechten Arm. An das taube Gefühl hatte er sich beinahe gewöhnt, ab und zu schien ein Puppenarm von seiner Schulter zu baumeln. Er trat vor den Spiegel neben dem Rollsekretär. Seine Augen – was war mit seinen Augen? Er ging näher heran. Die rechte Pupille war auf einmal viel größer als die linke. Zögernd führte er die Hand ans Gesicht und strich darüber, als wäre er nicht sicher, wem er gegenüberstand.
Unschlüssig verharrte er zwischen Sekretär und Tür. Dann schien ein Ruck durch seinen Körper zu gehen. Noch war er nicht am Ende.
Rasch hatte er im Ankleidezimmer einen kleinen Koffer gepackt. Er verließ das Haus, ohne dass ihn die Haushälterin und die anderen Dienstboten bemerkten, ging in die Garage, packte den Koffer ein. Schon rollte der Delage die Einfahrt hinunter auf die Straße.
Robert konnte in dieser Nacht kaum schlafen. Am nächsten Morgen fuhr er in aller Frühe ins Büro und holte die Unterlagen der beiden Fälle, worauf er sich ins Krankenhaus Moabit begab. Auf sein Drängen hin ließ man ihn zu Leo, der mit einem dicken weißen Pflaster an der Schläfe im Bett lag und ziemlich gereizt wirkte. Man hatte ihm ausnahmsweise ein Einzelzimmer gegeben, da vorerst nichts von dem Mordversuch an die Öffentlichkeit dringen sollte.
»Die wollen mich nicht rauslassen«, lautete die empörte Begrüßung. Dann besann er sich. »Schön, dich zu sehen, Robert. Du siehst so begeistert aus.«
»Bin ich auch. Aber erzähl erst, wie es dir geht.«
Leo deutete auf seinen Kopf. »Leichte Gehirnerschütterung, die Kopfschmerzen sind beinahe weg. Und ich liege dumm herum. Die Stichwunde hier links – es war übrigens ein gewöhnliches Taschenmesser, meint der Arzt – ist halb so schlimm. Nicht sonderlich tief, hat bloß ziemlich geblutet.«
»Die Ärzte werden mich erschlagen, wenn ich dir sage, was ich dir zu sagen habe«, meinte Robert verschmitzt.
Leo setzte sich auf und verzog gequält das Gesicht. »Dieser Verband ist so etwas von eng. Na, red schon.«
»Wir haben ihn, Leo. Du hattest Recht. Der Mörder von Gabriel Sartorius und Erna Klante ist ein und derselbe.«
Leo packte ihn am Unterarm. »Wie bist du darauf gekommen? Durch die Liste?«
»Er ist der Besitzer der Knopffabrik.«
»Natürlich, M. E. ist Max Edel«, fiel Leo ihm ins Wort.
Robert zog einen Stuhl heran und holte das Schulheft und das dünne Papier aus der Aktentasche. »Ich hatte Glück, gleich beim ersten Versuch. Der Mann hat sich laut Sartorius’ Notizen 1911 in einem Bordell mit Syphilis angesteckt. Und befindet sich mittlerweile im Endstadium der Krankheit. Hier hat Sartorius vermerkt, dass Edel starre Pupillen hat. Weißt du noch, mir sind doch seine Augen aufgefallen, als ich Edel damals in der Firma gesehen habe. Außerdem stellt er die bewussten Knöpfe her.«
»Und hat versucht, mich umzubringen.«
Walther nickte. »In der Tat. Anscheinend fühlt er sich von dir bedroht. Oder er ist einfach verrückt.«
Leo nickte. »Ich habe doch mit dem Arzt hier in der Klinik darüber gesprochen. Wenn das Gehirn befallen ist, kann es zu den unterschiedlichsten Ausfallerscheinungen kommen.«
Robert räusperte sich. »Über sein Motiv bin ich mir allerdings immer noch nicht ganz im Klaren.«
»Er hat seinen Erpresser getötet. Möglicherweise ahnte er, dass es Sartorius war. Vielleicht hatte er mit niemandem sonst über seine Krankheit gesprochen.«
»Aus Scham?«
»Schon möglich. Denk nur, wie er sich damals gewehrt hat, das hat Elvira Blank doch ausgesagt. Es ist nicht gerade angenehm, vor johlenden Freunden seine Unschuld zu verlieren«, gab Leo zu bedenken. »Aber trotzdem . . . die Erpressung wäre zwar ein Motiv für den Mord an Sartorius, doch warum Erna Klante? Es war so viel Zeit vergangen. Wenn er sich durch sie bedroht fühlte oder sich an ihr rächen wollte, hätte er längst etwas unternehmen können.«
»Vielleicht hat er sie erst jetzt gefunden.«
»Na ja, das darf er uns alles selbst erzählen. Warum sollen wir uns für ihn den Kopf zerbrechen.«
»Was machst du da?«
Leo war aus dem Bett aufgestanden und hielt sich vorsichtig an Roberts Schulter fest.
»Ich gehe.«
»Wohin?«
»Ins Büro. Du glaubst doch nicht etwa, ich sehe vom Bett aus zu, wie ihr Edel verhaftet? Nach all der Arbeit, die er uns gemacht hat.«
»Leo, das geht nicht. Du bist erst seit gestern hier. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.«
»Einer leichten Gehirnerschütterung.«
»Trotzdem.«
»Wir müssen den Mann umgehend verhaften. Er ist entweder ein Mörder, der überaus geschickt vorgeht, oder geisteskrank, was ihn ebenso gefährlich macht.« Er schaute in den Schrank. »Wo sind denn meine Sachen?«, fragte er über die Schulter gewandt.
»Keine Ahnung. Sie waren ganz voller Blut.«
»Verdammt, dann musst du mir eben welche von zu Hause holen.«
Robert stand auf und sah zur Decke. »Auf deine Verantwortung. Ich höre mir die Warnungen der Ärzte lieber nicht an, mein Freund.«
»Schon gut. Gib mir mal diesen komischen Bademantel, der da an der Tür hängt. Ich schaue bei Marie vorbei, bis du wieder zurück bist.«
Doch dazu kam er nicht. Kurz nachdem Robert gegangen war, trat Herbert von Malchow ins Zimmer.
»Guten Morgen, Herr Kommissar. Ich wollte mal sehen, wie es Ihnen geht.«
»Morgen. Besser. Danke auch«, sagte Leo kurz angebunden, aber nicht unfreundlich. »Hätten Sie gestern nicht ein paar Minuten früher kommen können?«
»Das ging leider nicht. Aber Sie haben es ja ohne größere Schäden überstanden, wie ich sehe«, meinte von Malchow bissig.
»Ist das hier ein reiner Genesungsbesuch oder haben Sie Dienstliches zu berichten?«
»Das auch. Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist, aber gestern waren Ellen und Viola Cramer bei mir, um eine Aussage zu machen.«
Leo sah ihn überrascht an. »Ellen Cramer? War das nicht die letzte Patientin von Gabriel Sartorius?«
»Ja, und Viola ist ihre Tochter. Hier sind die Aussagen.« Er hielt Leo mehrere maschinegeschriebene Seiten hin. »Ich wusste nicht so recht, ob es mit unseren Fällen zu tun haben könnte. Die Damen wirkten ein bisschen . . . na ja, überspannt. Besser gesagt, ihre Geschichte kam mir so vor.«
Leo winkte ab, um von Malchow zum Schweigen zu bringen, und setzte sich lesend auf die Bettkante. Als er fertig war, sah er hoch. »Wissen Sie eigentlich, was diese Aussage bedeutet?«
Von Malchow antwortete mit einem Achselzucken.
»Max Edel, der Viola Cramer diesen seltsamen Heiratsantrag gemacht hat und am 4. Juni in der Nähe des Tatorts gesehen wurde, ist vermutlich unser Mörder.«
»Wie bitte?«
»Hier.« Leo berichtete kurz von den verschlüsselten Unterlagen und zeigte von Malchow die Übersetzung. Er hörte, wie dieser scharf einatmete und sah, dass er ganz blass geworden war. »Was ist los, von Malchow? Soll ich das Fenster öffnen?«, fragte er ein wenig ironisch.
Doch von Malchow fuhr sich statt einer Antwort mit dem Finger in den Kragen, als wäre er plötzlich zu eng geworden. »Verdammt«, sagte er leise und wandte sich ab.
»Sagen Sie mir bitte, was los ist.«
Von Malchow drehte sich um, und zum ersten Mal sah Leo in seinen Augen echtes Gefühl, eine Mischung aus Scham und Furcht. »Ist Ihnen denn nicht klar, was das bedeutet? Der junge Kerl damals in Elviras Bordell, das war Edel. Und ich war dabei. Ich war an dem Abend guter Stimmung und fand die Sache einfach lustig. Ich habe die Jungs noch angespornt, hab dieser Erna sogar einen Schein ins Mieder gesteckt.« Er hob hilflos die Hände. »Und das arme Schwein hat sich bei seinem ersten Mal mit Syphilis angesteckt.«
Leo spürte, dass von Malchow tatsächlich erschüttert war. »Das konnten Sie nicht wissen. Und die anderen auch nicht.«
»Natürlich nicht, aber . . .« Er überlegte. »Dann bin ich vor dem Haus also mit ihm zusammengestoßen? Ich habe ihn nicht erkannt.«
»Es ist ja auch lange her. Falls Sie ihn tatsächlich nur dieses eine Mal gesehen haben.«
»Was wollen Sie damit andeuten, Herr Kommissar?«
»Ich deute gar nichts an. Wenn Sie mir gegenüber erklären, dass dies die einzige Begegnung zwischen Ihnen und Max Edel war, glaube ich das, Schluss, aus.«
»Werden Sie ihn verhaften?«
»Selbstverständlich. Wir sollten auch das Haus der Cramers unter Beobachtung stellen. Womöglich taucht er noch einmal dort auf. Wenn er geisteskrank ist, kann er den Damen durchaus gefährlich werden.«
Von Malchow nickte. »Wer übernimmt in Ihrer Abwesenheit die Leitung der Kommission?«
»Niemand. Walther ist in meine Wohnung gefahren, um mir Kleidung zu holen. Ich verlasse noch heute das Krankenhaus.«
»Aber was sagen die Ärzte dazu? Es ist doch erst einen Tag her«, meinte von Malchow fassungslos. »Wie Sie da gelegen haben –«
»Ich werde nicht hier im Bett bleiben und zusehen, wie der Fall ohne mich abgeschlossen wird«, sagte Leo ohne Rücksicht darauf, dass man ihm diese Haltung durchaus als persönliche Eitelkeit auslegen konnte. Es interessierte ihn nicht, was von Malchow von ihm dachte. Kein Kriminalbeamter, der etwas auf sich hielt und aufrecht stehen konnte, würde untätig zusehen, wie man einen spektakulären Fall ohne ihn zu Ende brachte.
In diesem Moment klopfte es, und Robert kam mit einem Anzug und weiteren Kleidungsstücken über dem Arm herein. Er sah von Malchow überrascht an und grüßte ihn knapp.
»Wie sieht es im Büro aus?«, erkundigte sich Leo.
»Nichts Neues. Berns wartet im Wagen.«
»Gut. Von Malchow, haben Sie Walther bereits von der Aussage der Damen Cramer berichtet?«
»Nein.« Er brachte Robert auf dem Flur auf den neuesten Stand, während Leo sich drinnen anzog. Als er mit dem Mantel über dem Arm aus dem Krankenzimmer trat, kam gerade der behandelnde Arzt vorbei und blieb abrupt stehen.
»Können Sie mir verraten, was Sie da machen, Herr Wechsler?«, fragte er streng.
»Ich entlasse mich aus dem Krankenhaus, Herr Doktor.«
»Das kann ich keinesfalls verantworten. Sie sind gestern in einem ernsten Zustand eingeliefert worden und müssen sich erst von der Gehirnerschütterung und dem Blutverlust erholen. Bitte gehen Sie wieder in Ihr Zimmer.«
»Tut mir leid.« Leo zog die Tür hinter sich zu. »Ich habe dienstlich zu tun.«
»Wenn Sie dieses Krankenhaus verlassen, tun Sie das auf eigene Gefahr. Sie sollten etwas vorsichtiger mit Ihrer Gesundheit umgehen. Guten Tag.« Mit diesen Worten ließ er Leo unvermittelt stehen.
»Ich muss noch zu Marie«, sagte Leo. Robert bemerkte, dass er leicht das Gesicht verzog und fragte, ob er nicht doch lieber einen Tag warten wolle.
»Warten? Seit Wochen sind wir hinter dem Kerl her. Er hat bei Cramers eine theaterreife Vorstellung hingelegt, die vermutlich einem kranken Hirn entsprungen ist. Und mich dann hinterrücks überfallen. Wer weiß, wozu er sonst noch fähig ist.«
»Schon, Leo, aber –«
»Kein aber. Ich komme mit. Wartet unten auf mich, ich gehe noch kurz zu Marie.«
Er ließ sich von einer Schwester den Weg zur Kinderstation erklären. Marie lag jetzt in einem großen Saal, in dem zwanzig Kinderbetten standen. Der einzige Schmuck waren einige Buntstiftbilder an den Wänden, sonst wirkte der Raum mit den weißen Metallbetten ziemlich kahl und abweisend. Er sah sich suchend um, doch Marie winkte ihm schon fröhlich zu. Sie kniete im Bett und hielt ein aufgeschlagenes Buch in den Händen. »Guck mal, Papa, das hat eine Frau zu Tante Ilse gebracht. Das ist für mich.«
»Hallo, Liebes.« Er setzte sich vorsichtig aufs Bett und nahm seine Tochter in den Arm. Sie kuschelte sich an ihn, schaute hoch und deutete erschrocken auf seine Schläfe.
»Papa, was hast du denn gemacht?«
»Ein kleiner Unfall, aber es geht mir schon besser. Endlich kann ich dich wieder anfassen.« Er strich ihr sanft über die Wange. »Du darfst bald nach Hause.« Dann warf er einen Blick auf das Buch. TIERGESCHICHTEN FÜR DIE JUGEND stand darauf. »Und von wem hast du das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Eine Frau hat es Tante Ilse für mich gegeben, hab ich doch gesagt. Von der sind auch die beiden hier.« Sie zeigte auf zwei weitere Bücher, die auf dem Nachttisch lagen. Da wurde ihm alles klar.
»Ich glaube, wir müssen uns bei jemandem bedanken.«
Auf dem Weg nach draußen überlegte Leo, ob seine Entscheidung wirklich richtig gewesen war. Im Bett hatte er sich ganz kräftig gefühlt, doch schon jetzt, nach wenigen Metern, sickerte ihm ein Rinnsal Schweiß zwischen den Schulterblättern hinunter. Er wischte sich mit der Hand über die Stirn.
»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte eine Schwester, die gerade vorbeikam.
Er schüttelte den Kopf. »Es geht schon, danke.« Er holte tief Luft und ging weiter Richtung Ausgang, getrieben von dem dringenden Bedürfnis, Edel persönlich Handschellen anzulegen. Ein kräftiger Tritt vors Schienbein wäre ihm allerdings noch lieber gewesen.
Er parkte vor dem Hintereingang der Firma, stieg mit dem Koffer aus und sah sich um. Die schmale Straße lag verlassen da. Wohnhäuser gab es keine, nur hohe Mauern und Zäune, hinter denen Fabriken und Werkstätten lagen. Er schloss die Tür auf, die unauffällig in die Mauer eingelassen war, und schlüpfte hinein. Die Treppe führte von der winzigen Diele aus steil nach oben.
Er war seit Jahren nicht hier gewesen. Nicht seit dem Tod seines Vaters, als er die Wohnung zum ersten und gleichzeitig letzten Mal betreten hatte.
Er erinnerte sich, wie er den Testamentsvollstrecker nach dem Schlüssel gefragt und ein mitleidiges Lächeln geerntet hatte. Der Anwalt hatte einen vielsagenden Blick mit dem Betriebsleiter gewechselt und ihn zu der zweiten Tür geführt, die von der Manufaktur aus zu erreichen war. »Sehen Sie selbst, Herr Edel.«
Eigentlich war es keine Wohnung, sondern ein einziges riesiges Schlafzimmer mit dem größten und luxuriösesten Bett, das er je gesehen hatte. Es symbolisierte auf schamlose Weise, wozu sein Vater diesen Raum benutzt hatte. Hierher war er gegangen, wenn er sich angeblich in wichtigen Besprechungen befand und sogar den eigenen Sohn abwimmeln ließ.
Er hatte nie erfahren, ob seine Mutter von alldem wusste, weil er nie gewagt hatte, sie darauf anzusprechen.
Die Entdeckung hatte seinen Ekel vertieft, seinen toten Vater noch fremder erscheinen lassen, als er ihm ohnehin immer gewesen war.
Nun aber war er froh, dass es diesen Zufluchtsort gab. Hier würde er auf Viola warten.